Samstag, 21. November 2015

Deutschland und die Einwanderung (Fundstück)

Ich bin auf einen sehr interessanten Text gestoßen, der im Hinblick auf die Einwanderung der türkischen Minderheit ganz gut erklärt, weshalb Deutschland beim Thema Migration und Integration anderen Ländern hinterherhinkt. Der Text stammt aus einem Länderporträt von Jürgen Gottschlich über die Türkei, doch im Kontext aktueller Diskussionen, die seit Jahren anhalten und heute aktueller denn je sind, lohnt sich die Lektüre einiger Auszüge:

[…] Die sogenannten Gastarbeiter der ersten Stunde erzählen heute noch kopfschüttelnd, wie sich damals in den Dörfern Anatoliens das Gerücht verbreitete, in diesem fernen Deutschland könne man unendlich viel Geld verdienen.
Doch der Weg dorthin war lang und schwierig. Es gab deutsche Anwerbekommissionen, die in den größeren Städten Stationen eingerichtet hatten, in denen die Leute vorsortiert und einem ersten Gesundheitscheck unterzogen wurden. Bevor jemand das Ticket zu einer Zugfahrt nach Norden bekam, musste er sich dann zumeist noch zwei weiteren gründlichen Untersuchungen stellen, um sicher zu gehen, dass die deutschen Firmen auch nur bestes „Material“ anwarben. Fast alle berichten, dass die Ankunft in Deutschland für sie ein Schock war. Der Mangel an Verständigung, die völlig andere Umgebung und die Unterbringung in tristen Baracken, die zum Teil schon als Unterbringung für die Zwangsarbeiter im Dritten Reich gedient hatten, machten ein Ankommen in Deutschland nicht leicht. Aber die Männer – es waren ja ganz überwiegend Männer, die angeworben wurden – hatten den sozialen Zusammenhalt untereinander, und sie hatten ihren Arbeitsplatz.
Ihre Arbeit gehörte durchgängig zu den körperlich schwersten, am schlechtesten bezahlten und mit dem geringsten Prestige verbundenen Tätigkeiten, die in Deutschland zu vergeben waren. Eine besondere Ausbildung war zumeist unnötig, auch Sprachkenntnisse brauchte man bis auf einige rudimentäre Brocken nicht. Es genügt, einige Befehle zu verstehen und „jawohl, Meister“ sagen zu können. Mehr war auch gar nicht gewollt, denn das Konzept der Anwerbung von Fremdarbeitern im südlichen Europa basierte auf dem Rotationsprinzip. Die Arbeiter sollten nach ein paar Jahren, die sie quasi wie auf Montage in Deutschland verbracht hatten, wieder zurückkehren und neuen „Gastarbeitern“ Platz machen. Die Rückkehr sollte vor allem so rechtzeitig geschehen, dass die Arbeiter nicht dem deutschen Sozialsystem zur Last fielen, also krank wurden oder gar Rente beziehen wollten.
Doch das Leben hält sich oft nicht an die ausgeklügelten Pläne. Mit den Jahren begnügten sich die „Gastarbeiter“ nicht mehr mit dem monotonen Wechsel zwischen Baracke und Schichtarbeit, sondern sie begannen, ihre neuen Umgebungen zu erkunden. Zuerst die Innenstädte und Bahnhöfe, dann kamen die ersten Kontakte zu Deutschen, die über den unmittelbaren Arbeitsplatz hinausgingen. Bekanntschaften, Freundschaften, eine eigene Wohnung folgten. Manchmal wurde aus Freundschaft Liebe, und die ersten binationalen Ehen wurden geschlossen, andere begannen, ihre Frauen und Kinder nachzuholen. Obwohl schon nach wenigen Jahren klar wurde, dass aus der gedachten Rotation längst eine Einwanderung geworden war, wurde dies von der bundesdeutschen Politik schlicht ignoriert.
Das Phänomen war in allen westeuropäischen Industrienationen das Gleich, doch zwischen Deutschland auf der einen und Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden auf der anderen Seite gab es einen großen Unterschied. Dort holte man sich den Arbeitskräftenachschub aus eigenen Kolonien oder ehemaligen Kolonien. Das hatte den Vorteil, dass man sich bereits ein wenig kannte und die Leute, die kamen, in der Regel auch Englisch, Französisch oder Niederländisch sprachen. Außerdem war man aufgrund seiner imperialen Vergangenheit nicht ganz so provinziell wie in Deutschland. Die Auslandserfahrungen der meisten deutschen Männer beschränkten sich in den 50er Jahren auf die Eroberungszüge der Wehrmacht, bei den Frauen auf Bekanntschaften mit Besatzungssoldaten. Die ersten schwarzen Gis wurden bestaunt wie Zirkusattraktionen. Der Faschismus war zwar durch eine Demokratie ersetzt worden, aber die Vorstellung vom deutschen Volk als ethnischer Einheit saß und sitzt oft bis heute noch in vielen Köpfen.
Wenn heute in Deutschland die mangelnde Integrationsbereitschaft der türkischen Einwanderer beklagt wird, unterschlägt man in der Regel, dass dazu auf der anderen Seite auch die Bereitschaft bestehen muss, vormals Fremde im eigenen Land aufnehmen zu wollen. Genau damit aber taten sich die Deutschen besonders schwer. Zu den überall existierenden Schwierigkeiten mit der Integration ethnischer Minderheiten kommt in Deutschland, anders als in Großbritannien oder Frankreich, oft bis heute noch ein völkisches Element hinzu.
Mit dieser Haltung sahen sich viele türkische Familien konfrontiert, als sie aus den Wohnbaracken der Anwerberfirmen auszogen, um sich selbst einen Platz in der Gesellschaft zu suchen. […]

(Text aus Jürgen GOTTSCHLICH: Türkei – Ein Land jenseits von Klischees, Sonderausgabe für die Zentrale für politische Bildung in Deutschland, 2008, S. 79-85)

Viele dieser Feststellungen lassen einen ersten Schluss zu, dass ein Großteil der Probleme, die wir heute in Deutschland haben, nicht nur an der Einwanderung selbst liegen, sondern am Umgang der deutschen Politik mit dem Zustrom von Arbeitskräften sowie mitunter auch an den national(istisch?)en Eigenarten der Deutschen. Mehr nachdenkliche (und teils erschreckende) Fakten und persönliche Beobachtungen aus dieser Zeit hat z.B. Günter Wallraff in seinem Buch „Ganz unten“ (1985) gesammelt.

Gastarbeiter (Foto: dpa, gesehen bei Sueddeutsche Zeitung)

Sonntag, 25. Oktober 2015

No Hogesa am Sonntag (25.10.2015)

Pünktlich zum Jahrestag der berüchtigten Hogesa-Demonstration („Hooligans gegen Salafisten“) vom Oktober 2014 haben sich auch heute wieder rechte Hooligans in Köln versammelt. Die Polizei war dieses Jahr mit 3.500 Einsatzkräften zugegen und somit bestens vorbereitet. Auch logistisch war der Große Demo-Sonntag eine Meisterleistung: Hogesa war auf den Barmer Platz hinter dem Bahnhof Köln-Messe/Deutz verbannt worden, eingekesselt und im Blick der Beamten, während die größte der insgesamt sieben Gegenveranstaltungen auf der anderen Seite stattfand, vor dem Bahnhof, auf dem Otto-Platz. Beide Lager waren getrennt durch Bahnhofsgleise, Eisenbahnbrücken und eine doppelte Reihe Polizei. Auf dem Bahnhof selbst wurden die S-Bahnen phasenweise so postiert, dass möglichst wenig Sichtkontakt bestand.


Während auf der Bühne des Aktionsbündnisses Birlikte („Zusammenstehen“) noch der Soundcheck durchgeführt wurde und sich der Otto-Platz mit den ersten hundert Menschen füllte, tröpfelten die Rechten nur sehr zäh auf dem ihnen zugeteilten Gelände ein. Um kurz nach elf wurden dort ganze elf Hooligans gezählt. Doch auch die schmaler Gebauten des neuerdings salonfähigen braunen Establishments waren angereist und suchten nach dem passenden Übergang auf ihre Seite: „Malte, ich glaube wir müssen da unten durch“ – unter dem Bahnhof traf ich zum ersten Mal auf eine Gruppe von Nazi-Hipstern, von denen nur Malte das hellbraune Haar brav gescheitelt hatte und ebenso ratlos wie seine Kameraden nach dem Weg suchte. Größere Gruppen von Rechten wurden von der Polizei begleitet und an grölenden Antifas vorbeigeleitet.
Direkt aufeinander trafen Rechte und Gegendemonstranten nur am Bahnhof. Die Antifa blockierte kurze Zeit den Zugang zu einem Gleis und verursachte damit die erste aus einer Serie von Verspätungen dieses Sonntags. Unterdessen wurden anreisende Dortmunder, Paderborner und Düsseldorfer Nazis mit Sprechchören oder (vonseiten einiger Passanten) mit spontanen Stinkefingern begrüßt. Am Himmel zog der der Polizeihelikopter eine Endlosschleife und beobachtete aufmerksam das Geschehen.


Auch dieses Jahr befürchtete man umfangreiche Ausschreitungen und Gewaltausbrüche. Die Versammlung rechter Hooligans war letztes Jahr gegen Ende ziemlich ausgeartet und besonders ein Bild mit Randalierern, die ein Polizeiauto umstürzen, ging durch die Presse. Die Erwartungen der Medien waren also auch heute sehr hoch – zumindest konnte dieser Anschein durchaus entstehen: Der Focus betitelte seinen Live-Ticker schon am Morgen mit der Frage „Köln in Aufruhr: Knallt es heute bei der Hogesa-Demo?“ und lieferte ein paar Stunden später die Bestätigung: „Hogesa: 5 Verletzte in Köln – Es droht zu knallen“. Und tatsächlich kam es zu Auseinandersetzungen zwischen linken Antifa-Aktivisten und der Polizei, die auch ihren Wasserwerfer zum Einsatz brachte, und aus den Reihen der Rechtsextremen wurden die Polizisten stellenweise mit Böllern beworfen. In den ersten Zeitungsberichten (und natürlich auch im Focus-Newsticker) war deshalb von „linken und rechten Demonstranten“ zu lesen, die von der Polizei getrennt und separat zur Abreise begleitet werden mussten. Das alles kann aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass hier nicht nur rechte und linke Krawallmacher aufeinandertrafen: Vielmehr standen sich auf der einen Seite eine eher mickrige Gruppe von knapp 1.000 Mann (und Frau) von Hogesa – denen zu Beginn sogar noch zehn (nüchterne und nicht vorbestrafte) Ordner fehlten – und auf der anderen Seite über 10.000 Gegendemonstranten aus allen politischen Lagern und aus einer Vielzahl von Initiativen gegenüber. Auf dem Otto-Platz waren alle Altersklassen vertreten,  „Köln stellt sich quer“ war wieder einmal das Motto. Die Antifa und ihre Blockadeaktionen waren gewissermaßen lediglich das Sahnehäubchen auf der Torte.


Die für den Abend angemeldete Kögida-Demonstration wurde abgesagt, die einheimischen rechten Abendspaziergänger schlossen sich stattdessen den Hooligans an. Die von einigen Zeitungen prophezeite (und fast schon herbeigesehnte) Katastrophe blieb aber aus. Eine Stadt hat gezeigt, dass sie keinen Bock auf Nazis hat. Nicht mehr und nicht weniger.

Dienstag, 20. Oktober 2015

Die Dritte Intifada & das Dilemma der moralischen Überlegenheit

Vor einer ganzen Weile hat mich ein israelischer Bekannter gefragt, ob ich wirklich der Meinung wäre, Israel sei weniger aufgeschlossen, weniger open-minded als Deutschland. Ich wollte ihm damals antworten und habe viel Zeit investiert in die Formulierung meiner Gedanken, doch nach einer Weile haben sich die Ereignisse in Deutschland und auch in Israel überschlagen, sodass ich bis heute nicht dazu gekommen bin, diese Email zu schreiben. Gerade in diesen Tagen erleben wir aber wieder einen neuen Ausbruch der Gewalt im Nahen Osten, inmitten der vielen anderen Krisenherde, die seit Jahren die Nachrichten dominieren: Zwischen Mittelmeer und Jordan bahnt sich etwas an, das viele schon jetzt als Dritte Intifada bezeichnen. Die Zahlen der Toten steigen wieder, es kommt zu Angriffen und Attentaten. Menschen fallen Messerstechern und Polizeischüssen zum Opfer. Erst kürzlich erzählte mir ein Freund aus Israel, dass er mit einem flauen Gefühl im Magen von Tel Aviv mit dem Bus nach Beersheva fuhr. Dort hatte ein Palästinenser am Tag zuvor versucht, an der Central Bus Station mit Messer und Schusswaffe ein Blutbad anzurichten. Der Freund erzählte weiter, er habe sich aber besser gefühlt, als er am Busbahnhof eine große Gruppe israelischer Jugendlicher mit der Nationalflagge habe tanzen sehen. Da kam ich ins Grübeln. Was ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt, lässt mich wiederum schlucken. Denn an genau jener Stelle hatten Passanten am Tag zuvor auch einen Eritreer zu Tode geprügelt, nachdem sie ihn für einen zweiten Attentäter gehalten hatten. Die Nerven liegen blank, und vor der Kulisse einer weiteren Zeit des Terrors geht jede Menschlichkeit verloren.
Da fiel mir wieder die Email ein, die ich schreiben wollte. Ist Israel weniger open-minded als andere Länder, als Deutschland? Ich denke, man kann Gesellschaften nur schlecht vergleichen, wenn sie sich in einer komplett anderen Ausgangssituation befinden. Und doch möchte ich den meisten Israelis sagen, dass ich sie nicht mehr verstehe – wenn ich sie denn jemals auch nur ansatzweise verstanden habe. Die israelische Gesellschaft ist entweder blind, oder sie schaut weg. Eines ist sie jedenfalls nicht: Moralisch überlegen. Es ist nicht nur ein Versäumnis der Regierung, wenn sich ultraorthodoxe Juden dazu ermutigt fühlen, auf einer Gay Pride Parade in Jerusalem junge, andersdenkende und -fühlende Menschen abzustechen. Es ist auch nicht die Schuld der Regierung, wenn Polizisten einen äthiopischstämmigen IDF-Soldaten auf offener Straße misshandeln oder einen Eritreer für einen Terroristen halten, nur weil er eine dunklere Hautfarbe hat als der durchschnittliche aschkenasische israelische Jude. Die Regierung trägt zwar die Verantwortung für die seit Jahrzehnten aufrecht erhaltene Besatzung der palästinensischen Nachbarn, doch die Gesellschaft wiederum toleriert sie. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird durch diese Besatzung jedoch maßgeblich bedingt – doch die Gesellschaft sieht sie nicht einmal, solange man sie nicht mit ihr konfrontiert.

Symbol der Freiheit?

Natürlich haben Israelis in den letzten Jahrzehnten ihre eigenen persönlichen Erfahrungen mit dem Konflikt gemacht. Familien haben Väter oder Onkels in einem der zahlreichen Kriege mit den arabischen Nachbarn verloren, oder durch Scharfschützen bei der Feldarbeit in einem Kibbuz. Andere können sich daran erinnern, wie zur Zeit der Zweiten Intifada die Küchenfenster zum wiederholten Male wackelten, wenn sich der Attentäter in einem Jerusalemer Bus in die Luft gesprengt hat. Diesen Menschen macht es Mut, wenn die jugendlichen Massen am Unabhängigkeitstag bis in die Nacht in den Straßen tanzen und sich in blau-weiße Fahnen einhüllen. Für die junge Generation sind Blau und Weiß die Farben der Zuversicht, der Davidstern ein Symbol der Freiheit. Genau diese Flagge bedeutet für die unterdrückten Nachbarn jedoch etwas ganz anderes, wo immer sie über spontan vor Ortseingängen errichteten Checkpoints weht, die von einem Tag auf den anderen willkürlich entscheiden können, wer heute zur Schule oder zur Arbeit geht und wer nicht. An diesen Checkpoints stehen keine gesichtslosen Soldaten, sondern nahezu jeder israelische Mann und fast jede israelische Frau, die beide ihren Wehrdienst bei der Armee ableisten, und das meist auch vollem ganzem Herzen tun. Den Schrecken der Besatzung, an der sie teilhaben und bei der sie Zeuge alltäglicher Ungerechtigkeiten werden, versuchen sie nach zwei oder drei Jahren des Armeedienstes in Südamerika oder Indien zu vergessen, mit Marihuana und anderen Drogen aus dem Gedächtnis zu löschen. Nur eine kleine Gruppe ehemaliger Wehrdienstleistender berichtet von den Szenen in Hebron und anderen Orten, wo israelische Einheiten zu Übungszwecken die Wohnzimmer palästinensischer Familien in Kommandozentralen umfunktionieren und beim Abzug nach zwei, drei Tagen bisweilen die komplette Inneneinrichtung kaputtschlagen, oder der Familie sogar noch aufs zertrümmerte Sofa kacken. All dies ist man gezwungen, an der Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland abzulegen, denn die Gesellschaft möchte die Berichte über die eigenen moralischen Makel nicht hören. Als „Linker“ sind jene verschrien, die an der Besatzung zweifeln. Und so kommt es, dass der Konflikt nur dann die israelische Öffentlichkeit berührt, wenn perspektivlose und ideologisch vereinnahmte Palästinenser an Bushaltestellen in wartende Menschen rasen oder mit Messern um sich stechen. Die israelische Politik, die mit dem Bau von Siedlungen bestraft und durch die Aufrechterhaltung der Besatzung jede Chance auf Frieden zubetoniert, erfährt in diesen Tag noch mehr Zuspruch. Mehr als eine halbe Million oftmals extremistischer Siedler haben sich im Westjordanland niedergelassen. Dort ist in den letzten Jahren mit ihnen nicht nur eine entscheidende politische Größe herangewachsen, sondern auch eine radikalisierte Jugend, die durch benachbarte palästinensische Dörfer zieht, um Autos anzuzünden und Moscheen zu beschmieren. Und während diese Jugendlichen im besten Fall vor ein ordentliches Gericht gestellt werden, steht jeder palästinensische Steinewerfer unter israelischer Militärgerichtsbarkeit. Wie moralisch überlegen kann eine Gesellschaft sein, die es toleriert, dass in ihren Gefängnissen minderjährige Palästinenser auf unbestimmte Zeit festgehalten werden? Welche Werte vertritt ein Staat, in dessen Machtbereich ein 15jähriger Angreifer auf offener Straße verblutet, während dutzende Polizisten um ihn stehen und ein Siedler Nahaufnahmen mit seinem Handy macht, laut rufend „Stirb, Du Hurensohn“? Man könnte sich fragen, ob die israelische Öffentlichkeit tatsächlich erkennt, in welchem moralischen Dilemma sie sich hier befindet. 
Extremisten und Terroristen gibt es auf beiden Seiten, das ist nicht Gegenstand der Diskussion. Der palästinensische Terror entsteht jedoch auf dem Boden der Perspektivlosigkeit, in einem von Zäunen und Mauern und Checkpoints durchzogenen Land. Der israelische Terror auf der anderen Seite wähnt große Teile der eigenen Politik hinter sich. Er entsteht in einem Staat, der seit Jahrzehnten in jedem Konflikt Sieger geblieben ist und seit einer halben Ewigkeit eine Besatzung aufrecht erhält, durch die sowohl die eine als auch die andere Seite immer weiter abstumpft und irgendwann jedes Gefühl für ein menschliches Miteinander verlieren wird. Ein anderer Bekannter schrieb mit auf Facebook, die Atmosphäre in Israel sei dermaßen vergiftet, dass er noch nie so ernstlich über Auswanderung nachgedacht habe wie heute. Und wenn die ersten Querdenker aus einem Staat auszuwandern beginnen, der sich noch immer die "einzige Demokratie im Nahen Osten" nennt, dann kann dieser Staat nicht sehr open-minded sein.


Montag, 19. Oktober 2015

Götterdämmerung oder Faschisten im Schafspelz

Wenn im Januar wieder das Unwort des Jahres 2015 gekürt werden soll, wird man aus einer schier unübersehbaren Masse von Vokabeln eine wählen, die das aktuelle Bild unserer Gesellschaft in den Medien und im allgemeinen Sprachgebrauch auf ihre Art besonders charakterisiert hat. Wird es der „Gutmensch“ sein oder doch eher der „Asylkritiker“? Auch die „Überfremdung“ dürfte hoch im Kurs stehen. Mein aktueller Favorit stammt aber von einem besorgten Bürger namens Engelbert M., der einstmals Bürgermeister von Bautzen werden wollte und die abendlichen Spaziergänge der Rentner, Lehrer und Doktoren aus der „Mitte des Volkes“ seit ihren Anfängen im letzten Jahr treu begleitet. Kürzlich bezeichnete er die Merkel-Gabriel-Konstruktion, die ein dumpfbackiger Patrioten auf einer Demonstration vor sich hergetragen hatte und wegen der nun die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde, leicht humoristisch – und vor allem beschwichtigend – als „Ziergalgen“.  
Der Untergang des Abendlandes hat viele Gesichter. Ein besonders hässliches, aber zugleich ungemein bürgerliches ist das von Pegida. Welches könnte also Unwort des Jahres werden wenn nicht das unschuldige Wörtchen „Ziergalgen“, dessen Silhouette über dem vom Sonnenuntergang eingerahmten Abendspaziergang der tapferen Patrioten thront, die grölend und schimpfend schon seit einem Jahr unsere christlichen Werte zu verteidigen vorgeben – denn Pegida feiert heute Geburtstag, und nach nur einem Jahr müssen wir bekennen, dass die Faschisten im bürgerlichen Schafspelz ihre Sicht der Dinge schon lange salonfähig gemacht haben – und dass sie überdies noch zu ganz Anderem fähig sind. Die Errungenschaften der selbsternannten Volksbewegung sind bemerkenswert: Wurden doch im ganzen Jahr 2014 „nur“ 198 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte registriert, gab es bis Mitte Oktober 2015 schon 522 Übergriffe. Mit dem Messerangriff auf die inzwischen zur Oberbürgermeisterin von Köln gewählten parteilosen Henriette Reker gab es nun auch einen ersten Gewaltakt gegen eine Politikerin auf höherem Niveau. Zu verdanken ist dies dem Klima, das von Pegida und ihrer parlamentarischen Verbündeten, der „Alternative für Deutschland“ (AfD), geschaffen wurde. Kein Nazi braucht sich mehr hinter dem Stammtisch und seiner zünftigen Bierfahne zu verstecken, im Jahr 2015 sagt man frei raus was man denkt. Und den Rücken bekommt man gestärkt von den neuen Führern, den Bachmännern und Höckers, die vor ihrem versammelten Volk wirre Reden schwingen, von der Islamisierung des Abendlandes phantasieren und Asylbewerberheime als Luxussanatorien beschreiben. Diese Menschen beginnen, keinen Hehl mehr daraus zu machen was sie denken und was sie wollen. Der Journalist Klaus Hillenbrand hat in seinem Kommentar für die taz eine ganz entscheidende Feststellung getroffen: „Wer glaubt, ein paar weniger Asylsuchende in Pirna, Heidenau oder Dresden würden deeskalierend wirken, verkennt, dass es den Fremdenfeinden nicht um Kompromisse geht. Weder wollen diese einen Kompromiss noch sind deren Ansichten kompromissfähig. Sie wollen den autoritären Staat.“ Traurigerweise können wir die, die von sich behaupten aus der „Mitte des Volkes“ zu kommen, nicht einfach in die rechte Ecke verbannen. Vielleicht wäre es darum besser einzugestehen, dass mit Pegida tatsächlich Menschen aus allen Schichten durch die Straßen Dresdens marschieren. Vielleicht sollten wir nüchtern feststellen, dass auch 1933 nicht nur die Verzweifelten, Arbeitslosen und sozial Schwachen der NSDAP und Adolf Hitler mit 43,9% der Stimmen zur Macht verholfen haben, sondern – Menschen aus dem Bürgertum.
Wie wirken wir dieser bedrohlichen Entwicklung entgegen? Wenn unsere Kinder, Enkel oder Urenkel in 30 Jahren mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ nur noch das Jahr 2015 verbinden können, dann haben wir alle jämmerlich versagt. Lassen wir das nicht zu. Eine wehrhafte, lebendige und dynamische demokratische Gesellschaft muss dem aufkeimenden Fremdenhass und der rechten Systemfeindschaft alles entgegensetzen was sie aufzubieten hat: Hetzer wie Björn Höcke, der zuletzt bei Günther Jauch seine Hitparade der unbelegten Behauptungen und Gerüchte zum Besten geben durfte, können leicht durch Argumente und Fakten widerlegt werden, doch das „Volk“ lässt sich nur durch eine Instanz belehren: durch das Volk selbst. Wir müssen denen, die es einfach nicht besser wissen, die andere Wirklichkeit vor Augen führen und sie aus ihrer starren Weltsicht befreien. Das ist unsere Aufgabe, die sich am sinnvollsten nicht durch die Medien (a.k.a. „Lügenpresse“), sondern vielleicht besser von Mann zu Mann oder von Frau zu Frau bewältigen lässt. Doch es wird immer einen harten Kern der Unbelehrbaren geben, mit denen es nicht lohnt in Dialog zu treten. Ab einem gewissen Grad hilft gegen „besorgte Bürger“ deshalb nur noch eins: In der Gegendemo stehen und die Faschisten niederbrüllen, Aufmärsche blockieren und die Abendspaziergänger am Ende des Tages frustriert nach Hause schicken.

Mittwoch, 23. September 2015

Momentaufnahme dreiundzwanzigster September

Wir leben schon in turbulenten Zeiten. Die Amerikaner wollen ein paar nagelneue Atomwaffen in Rheinland-Pfalz stationieren. Wieso eigentlich? Der Flüchtlingsstrom hält derweil an. Doch statt über eine Lösung der Syrienkrise nachzudenken, lässt die NATO ihre Eurofighter voll bewaffnet in Estland rumfliegen und wartet auf die Russen. Die aber werden nicht kommen, denn Putin ist gerade damit beschäftigt, seine Soldaten in Damaskus um Assad herum zu positionieren – leider zielen sie in die falsche Richtung. Währenddessen holt Innenminister de Maizière pensionierte Beamte zurück, um Asylanträge zu bearbeiten, obwohl bestimmt irgendwo in Deutschland noch genügend Beamten aufzutreiben wären, die zu wenig zu tun haben. Drittklassige Lösungen für ein Problem, das sowieso keine Priorität hat. Der Innenminister hält es für wichtiger, am europäischen Asylrecht rumzudoktern und der Pöbel hat endlich die Möglichkeit, die Angst vor unsicheren Straßen, fiktiver Islamisierung und Flüchtlingen in einen Topf zu werfen. Zur selben Zeit bedrohen Pegida-Anhänger Kinder in Dresden („Euch kriegen wir auch noch!“), weil sie die Teilnehmer des „Schultheaters der Länder“ für eine Gegendemonstration hielten. Demonstriert wird tatsächlich, nämlich wo zurzeit der Konflikt zwischen Kurden und Türken eskaliert. Türkisch-deutsche Online-Zeitungen, die ich eigentlich gerne lese, schießen gegen die (zu Recht oder zu Unrecht noch verbotene) PKK und für Erdoğan, kurdische Online-Quellen versuchen unterdessen nachzuweisen, dass Osama Abdul Mohsen („der Flüchtling, dem ein Bein gestellt wurde“) in Wirklichkeit ein Radikaler der al-Nusra-Front ist. Es geht drunter und drüber. Und immer mehr Menschen freunden sich wieder mit den simplen Weltsichten und einfachen Lösungen an, die wir hierzulande in einem jahrhundertelangen, äußerst schmerzhaften Prozess eigentlich zum großen Teil überwunden haben sollten. Aber ist es die Aufregung wert? Wahrscheinlich geht das Abendland sowieso unter – jetzt wo auch VW dem Untergang näher ist denn je…

Sonntag, 20. September 2015

Lech Wałęsa und die Flüchtlinge

Während in Europa die große Schlacht um die Quote tobt, traf eine Gruppe israelischer Journalisten kürzlich den großen Lech Wałęsa. Der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Staatspräsident Polens organisierte den politischen Wandel seines Landes nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, er verkörpert mit seiner Gewerkschaft Solidarność den demokratischen Aufbruch des Ostens. Was er aber über die aktuelle Situation Europas sagt, könnte die Zuhörenden wahrhaft ins Grübeln bringen.
Wałęsa äußert Verständnis für die ablehnende Haltung seiner Mitbürger gegen syrische Flüchtlinge: „Ich verstehe, weshalb Polen und Europa ihren Zustrom fürchten. Sie kommen von Orten, an denen Menschen enthauptet werden. Wir machen uns Sorgen, dass dasselbe auch uns zustoßen wird“, sagte er der Jerusalem Post. Der ehemalige Präsident hat Angst davor, dass Muslime anfangen könnten, Europäer zu köpfen. Genau davor hatte uns schon Pegida gewarnt, wenn wir uns an die aufreibenden Tage des letzten Dezember und Januar erinnern. Wałęsa hat eine sehr plausible Erklärung: „Wir in Polen haben kleine Wohnungen, niedrige Löhne und magere Renten. Als ich die Flüchtlinge im Fernsehen sah habe ich bemerkt, dass sie besser aussehen als wir. Sie sind gut genährt, gut angezogen und vielleicht sind sie sogar reicher als wir.“

(Reuters, 2015)

Was Wałęsa da sagt, erinnert ziemlich arg an die Facebook-Propaganda der „besorgten Bürger“, die sich regelmäßig auch davon entsetzt zeigen, dass syrische Flüchtlinge durchaus mit Smartphones umzugehen wissen. Doch natürlich zeigt er sich an manchen Stellen auch verständnisvoll für die Flüchtlinge, vor allem in Hinblick auf die Geschichte seines eigenen Volkes: „Ich verstehe sie. Wir Polen waren auch Immigranten und Flüchtlinge während des Kommunismus.“ Aber irgendwie war das dann doch etwas ganz anderes: „Wo immer wir hinkamen, haben wir die örtliche Kultur und die Gesetze geachtet. Diese Einwanderer sind anders. Sogar in der zweiten oder dritten Generation – schauen Sie sich z.B. Frankreich an – wenden sich jene, die gute Bildung genossen und Geld verdient haben, dennoch gegen ihre Gastländer.“
Mit Aussagen wie diesen dürfte Wałęsa den meisten Pegida-Sympathisanten – und eigentlich dem ganzen Osten Europas – aus dem Herzen sprechen. Dabei heroisiert er den osteuropäischen Freiheitskampf auch ein wenig: „Das kommunistische Regime hatte mir angeboten Polen zu verlassen und ein Flüchtling zu werden. Ich habe abgelehnt. Ich bin geblieben um für das zu kämpfen, an was ich geglaubt habe.“ Es ist immer richtig und ehrenhaft, für seine Überzeugungen einzustehen. Doch trotzdem dürfte es schwierig werden, das Polen der 1980er Jahre mit Syrien 2015 zu vergleichen. In Polen gab es – ebenso wie in der DDR – keinen Bürgerkrieg, Aleppo und Damaskus lassen sich heute eher mit dem Warschau von 1945 vergleichen als mit jenem des Jahres 1989. Außerdem dürfte es den meisten Syrern schwer fallen, in diesem unübersichtlichen Bürgerkrieg, in der Realität von heute, auf der richtigen Seite wiederzufinden. In Deutschland wagen es nur die Pegida-Spaziergänger und die NPD, die Frage zu stellen, wieso diese ganzen jungen Männer nicht in ihrer Heimat geblieben sind und kämpfen. Doch anders als der Gewerkschafter Wałęsa wissen die jungen Syrer eben nicht, in welcher Armee oder Miliz sie für ein demokratisches Syrien kämpfen sollen. Während die Welt größtenteils nur zusieht, geraten diese Menschen – egal ob sie vor dem Krieg an der Universität in Damaskus studierten oder in einem kleinen Laden auf dem Basar von Aleppo arbeiteten – zwischen die Fronten. Währenddessen strömen Marokkaner, Saudis und europäische Islamisten zum IS, versorgen Quellen aus der Türkei die Terroristen mit Waffen. Währenddessen unterstützt der Iran die Hizbollah und Deutschland die Peschmerga. Die Russen haben ihre Soldaten rund um Assad platziert, zielen aber in die falsche Richtung, und die Amerikaner sind nach ihrem Irak-Debakel meilenweit davon entfernt, noch aktiver als bisher in dieses Chaos einzugreifen. Erdoğan bombardiert PKK und Peschmerga gleichermaßen, nur will das keiner so wirklich laut sagen. Israel beobachtet, der Libanon schweigt und nimmt Millionen Flüchtlinge auf, die ganze Welt aber schaut im besten Fall zu – im schlechtesten hat sie ihre Finger mit im Spiel. Nein, Herr Wałęsa, diese Menschen könnten nicht für ihre Überzeugungen kämpfen, selbst wenn sie es wollten. Und deswegen kommen sie zu uns.


Das weiß der polnische Politiker selbst. „Es ist wahr, dass ein Teil der neuen Flüchtlinge und Immigranten flieht, weil sie um ihr Leben fürchten.“ Als Nachsatz fügt er natürlich hinzu: „Aber viele wandern auch ein um ihren Lebensstandard und ihre Lebensqualität zu verbessern.“ Okay, aber was machen eigentlich die Millionen Polen, die seit über 100 Jahren in die USA (v.a. 1870-1914), nach Deutschland (ab 1880) und nach Großbritannien (seit 2004) ausgewandert sind? Waren diese Menschen etwa nicht auf der Suche nach einer Verbesserung ihrer Lebensqualität? Und haben diese Menschen etwa nicht auch ihr Brauchtum gepflegt? Polnische Hochzeiten in Chicago waren vor einigen Jahrzehnten auch noch laut und haben den ganzen Tag in Anspruch genommen, Polen haben auch Kirchen gebaut, wenn sie wo hinkamen wo es für sie noch keine Kirche gab. Auch die Polen haben Amerika mit einem ethnischen Volksfest bereichert und so manche Straßenzeile um einen oder zwei oder auch zehn Metzgereien. Auch die Polen haben ihre Identität nicht bei der Einreise abgegeben.
Doch Wałęsa erklärt die Welt simpel und einfach, in wenigen Worten. „Es ist ein Problem. Wenn Europa seine Tore öffnet, werden bald Millionen durchkommen und anfangen, unter uns ihre eigenen Bräuche zu praktizieren, inklusive Enthauptungen.“ Was hat er nur mit diesen Enthauptungen? Sind die nicht eigentlich auch ein Grund, weshalb so viele Syrer fliehen? Leider scheint der polnische Altpräsident nicht zu erkennen, dass es für die Probleme unserer Zeit keine einfachen Lösungen, keine einfachen Antworten gibt. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß, nicht gut oder böse. Und es gibt nicht nur das christliche Abendland und die unzivilisierten Muslime. Es gibt nur eine einzige, riesige Grauzone, aus der man irgendwie seinen Weg heraus bahnen muss. Und Abschottung ist der Weg für all die, die gerne eine einfache Welt hätten, in der man nicht mehr kämpfen, sondern nur noch am lautesten schreien muss.

Montag, 29. Juni 2015

Selbstverständnis & Selbstkritik - Deutschland und die EU im Spiegel der Ukraine-Krise

Ich möchte die Demokratie gegen nichts auf der Welt eintauschen. Doch zu einem gesunden Selbstverständnis gehört auch Selbstkritik, besonders in Tagen des Schwarz-und-Weiß-Denkens. Seit dem Beginn der Ukraine-Krise sind die Positionen westlich und östlich der Front klar aufgeteilt, doch macht uns dies nicht alle gleich. Und es täuscht nur kurzfristig über die Probleme hinweg, die wir in Zukunft noch bekommen werden oder schon längst haben. Es besteht Nachholbedarf, an allen Ecken und Enden – und nicht nur in Deutschland. Wenn es um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte geht oder um den Umgang mit Menschen ausländischer Herkunft. Dass Lettland noch immer Gedenkmärsche für seine Kriegsteilnehmer aus den Reihen der Waffen-SS abhält, an denen im März 2015 noch 1.500 Männer teilnahmen, kann man als alternative Interpretation europäischer Geschichte deuten. Doch dass der ungarische Präsident auf Wahlkampfplakaten fremdenfeindliche Sprüche gegen Flüchtlinge klopfte, ist ein akutes Problem. Natürlich, die Plakat-Botschaften waren in ungarischer Sprache abgefasst und richteten sich an das ungarische Wahlvolk, doch Fremdenhass (und wahrscheinlich auch schlichtweg Angst vor der Einwanderung) ist ein Problem, dem in vielen Ländern mit Nachsicht und allzu großem Verständnis begegnet wird. Doch abseits der Flüchtlingsproblematik gibt es andere beunruhigende Tendenzen, die sich vor allem im Kontext des Konflikts mit Russland manifestieren. In Litauen wird das Schulfach „patriotische Erziehung“ eingeführt, in Polen formiert sich angesichts der russischen Bedrohung die Federacja Organizacji Proobronnych (FOP, Föderation der Pro-Verteidigungsorganisationen). Dieser Verband soll Freiwillige bündeln und bis in drei Jahren mit 100.000 Mitgliedern in jedem Kreis präsent sein. Eine Aufgabe der Organisation – neben der Verteidigung gegen „den Russen“ – ist die Erziehung der Jugend zum Patriotismus. Ähnliche Bürgerwehren bilden sich auch in den baltischen Staaten. Hilft Vaterlandsliebe gegen Faschismus? Eine Legende, an die noch allzu viele glauben mögen.

Ich liebe die Demokratie. Aber ich zweifle so langsam an unserer. Deutschland profitiert an einem Konflikt, zu dessen Entschärfung auch von europäischer Seite nichts beigetragen wird: Polen hat Ende 2013 einen Kaufvertrag zur Lieferung von 119 deutschen Leopard-Panzern, 18 Bergepanzern und 200 Militär-LKWs unterschrieben. Ende Mai hat Rheinmetall bekannt gegeben, mit einem polnischen Joint Venture einen neuen Radpanzer zu bauen. Die polnische Regierung will 200 Stück kaufen, Umsatz: 300 Millionen Euro. Litauen wird demnächst mit deutschen Panzerhaubitzen und Feuerleitsystemen ausgestattet. Natürlich ist Deutschland nicht der einzige Lieferant. Doch bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, dass man viel mehr Mühe in die militärische Hochrüstung zu legen scheint als in diplomatische Friedensbemühungen. Während der Diplomatie die Ausdauer schwindet, beginnt die Wirtschaft zu frohlocken. Ich will Pazifismus...

Ich glaube an die Demokratie und bin der Meinung, dass man ein paar Macken in unserem System durchaus kurieren kann. Aber vielleicht sollten wir erst einmal offen bekennen, dass auch wir einen Propaganda-Apparat betreiben, bevor wir die Medien unserer Kontrahenten verurteilen. Die Deutsche Welle hat seit Mitte Mai ein Abkommen mit den baltischen Staaten und liefert russischsprachige Fernsehbeiträge. Ein Zitat des DW-Intendanten Peter Limbourg: „Mit unseren Programmlieferungen in russischer Sprache tragen wir dazu bei, dass die Menschen Informationen russischer Medien besser einordnen können.“ – Was ist das, wenn nicht Propaganda? Von Deutschland an Russen. Das gleiche macht Russland mit seinem Russia-Today-Büro in Berlin. Und das finde ich nicht gut.
Derweil wird unterbunden, dass Russland seine Minderheiten im Baltikum medientechnisch versorgt. Doch wieso ist es überhaupt nötig, dass sich der russische Staat um Bürger in europäischen Ländern kümmern muss? Vielleicht weil diese gar keine Bürger sind: Nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten bekam die russische Minderheit nur unzureichend die Möglichkeit, die jeweilige neue Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden diese (meist russischsprachigen) Einwohner staatenlos. Heute leben 91.000 Staatenlose in Estland (laut Amnesty International), in Lettland sind es 300.000 und damit knapp 15 % der Bevölkerung. Wenn wir es als falsch empfinden, dass sich Russland um Russen kümmert, wie stehen wir dann dazu, dass sich das deutsche Innenministerium um deutsche Minderheiten im Ausland kümmert? Eine absurde Frage, oder nicht?
Aufgrund der alltäglichen Diskriminierung in Form von unzureichendem Zugang zu staatlichen Leistungen, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und vor allem dem fehlenden Wahlrecht ist die russische Minderheit in diesen Ländern Putin gegenüber zum großen Teil freundlich eingestellt. Doch das können wir nicht verstehen: „Im Nato-Land Estland […] sehen nur rund 30 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung das Verteidigungsbündnis [NATO] positiv – obwohl Nato-Jets den Luftraum schützen und inzwischen ständig US-Truppen im Land sind“, schreibt Spiegel Online und wundert sich. Seit April 2014 sind in Lettland, Litauen und Estland jeweils 150 US-Soldaten stationiert, von denen einige an der Militärparade zum estnischen Unabhängigkeitstag teilnahmen – aus mainstreameuropäischer Sicht kann das nur positiv sein.

Wenn wir kein Verständnis für Russland aufbringen können und wollen, dann sollten wir wenigstens einmal ein wenig Unverständnis gegen unsere eigene Politik und ihre unverhohlene Falschheit offenbar werden lassen. Und Empörung. Während unsere Währungsunion am Euro und der Griechenland-Politik scheitert und unsere Werte vor Italien und Spanien zusammen mit 25.000 Flüchtlingen ertrinken, bringen wir es immer noch nicht übers Herz, die erste faulige Tomate zu werfen, die ein erster Anstoß zur Heilung des Systems sein könnte.

Freitag, 1. Mai 2015

Bonn im Frühling


Wenn man in der Bonner Heerstraße wohnt, kann man jeden April die visuellen Reize des Frühlings voll auskosten. Hundertschaften von Touristen und Einheimischen, Austauschklassen und Japanern, strömen durch die Straßen der Altstadt, um die Kirschbäume blühen zu sehen. Hier nur zwei kleine Eindrücke.


Samstag, 4. April 2015

Amin al-Husseini in Philadelphia - Vermerk zu amerikanischer Islamophobie

Seit einigen Tagen fahren plakatierte Stadtbusse durch die US-amerikanische Metropole Philadelphia, PN und verbreiten u.a. den Slogan „Islamic Jew-Hatred: It’s in the Quran“ („Islamischer Judenhass: Es ist im Koran“). Dahinter steckt eine Organisation mit dem Namen American Freedom Defense Initiative (AFDI), die in New Hampshire angesiedelt ist. Mit der Banner-Aktion protestiert die „Initiative“ gegen eine vorhergegangene Kampagne, die sich gegen die amerikanische Unterstützung für Israel gewandt hatte. Nun seien verschiedene Anzeigen der Gruppe auf insgesamt 84 Bussen zu sehen, meldete der Tagesspiegel – darunter eben auch dieses Bild aus dem Jahre 1941, das den palästinensischen Nationalisten und Großmufti von Jerusalem al-Husseini zusammen mit Adolf Hitler zeigt. Gegen die Aktion gab es Proteste und Demonstrationen, die u.a. von Bürgermeister Michael Nutter unterstützt wurden.


Die Werbemaßnahme der AFDI reiht sich ein in eine Fülle antiislamischer Aktionen. Im Mai wird eine provokante Muhammad Art Exhibit eröffnet: In der Ausstellung werden künstlerische Werke rund um den Propheten Muhammad gezeigt, der nach den gängigsten Meinungen in der islamischer Tradition nicht visuell abgebildet werden darf. Für die AFDI steht Pamela Geller, eine New Yorker Aktivistin der extremen Rechten und Mitgründerin der Initiative. Entstanden war die AFDI als amerikanischer Arm von Stop Islamisation of Europe (SIOE) im Jahr 2010. Die Busaktion ist in ihrer Art nicht neu, schon 2014 gab es ähnliche Projekte.

Was steckt hinter den Aussagen? Ein kurzer Blick auf die Hintergründe. Der arabische Geistliche Hajj Mohammed Amin al-Husseini wird als „leader of the Muslim world“ bezeichnet, was historisch schon einmal falsch ist. Der aus einer arabischen Notablenfamilie von Jerusalem stammende al-Husseini (1897-1974) brach sein religiöses Studium in Kairo ab, stieg aber dennoch zu einer bedeutenden religiösen Autorität auf, als ihn die britische Mandatsverwaltung von Palästina zum Großmufti von Jerusalem erhob. Zuvor war er durch seine starke Opposition gegen die jüdische Besiedlung des Heiligen Landes aufgefallen und wurde zeitweise von den Briten inhaftiert. Er gilt als einer der ersten großen Verfechter des palästinensischen Nationalismus und trat vor allem durch seinen Antisemitismus in Erscheinung. Er instrumentalisierte die fiktiven „Protokolle der Weisen von Zion“ für seine politischen Zwecke und war nach der Flucht vor den britischen Behörden 1939 in einen Pogrom an irakischen Juden verwickelt. Heute ist er in der westlichen Geschichtsschreibung in erster Linie aufgrund seiner Reise zu Adolf Hitler (1941) und durch seinen Besuch im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau bekannt. Hitler hätte den Mufti als „berufensten Sprecher der arabischen Welt“ angesehen, wenn sich der deutsche Machtbereich bis nach Palästina ausgedehnt hätte. Doch ein „Führer der [gesamten] muslimischen Welt“ war al-Husseini nie.
Die zentrale Aussage der Banner-Aktion ist jedoch: „Der Judenhass steckt schon im Koran.“ – Dies ist ein gängiges Argument unter antiislamischen Aktivisten und Wasser auf den Rädern der sich breitmachenden Islamophobie unter besorgten Bürgern. In der Geschichte des Islam gab es immer auch Perioden, in denen Juden zusammen mit den Christen als Bürger zweiter Klasse und sogenannte Dhimmis (Schutzbefohlene mit Sondersteuer) behandelt wurden. Auch unter islamischer Herrschaft gab es verpflichtende Kennzeichnungen an der Kleidung, die einen Juden oder eine Jüdin als solche auswies. Abgesonderte Wohnviertel (Mellah) hatten wie auch die europäischen Ghettos zunächst die Aufgabe, eine dauerhafte Trennung durch eine (geografische und juristische) Parallelwelt zu gewährleisten. Es gab jedoch (ebenso wie in Europa) auch Blutbäder und Ausschreitungen. Die Aussage, der Judenhass stecke schon im Koran, ist trotzdem falsch: Die meisten der oft zitierten antijüdischen Aussagen stammen aus anderen islamischen Quellen, u.a. aus den extra gesammelten Aussprüchen der Propheten. Im Koran gibt es lediglich Stellen, die man bei großzügigem Interpretationsspielraum als antisemitisch auslegen könnte: Einer der sogenannten Schwertverse des Koran lautet „Und erschlagt die Ungläubigen, wo immer Ihr sie findet […]“ (2,191). Zu ihm sagte die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor in einem taz-Interview: „Gemeint sind unter anderem jüdische Stämme, mit denen der historische Mohammed damals kämpfte. Es geht dabei aber um eine Kriegshandlung und nicht um einen religiösen Disput. Gleichzeitig spricht der Koran an anderer Stelle auch positiv über Juden.“ In der islamischen Tradition findet sich ein hohes Antisemitismus-Potenzial, doch anderswo in der Geschichte funktionierten Koexistenz und Zusammenleben von Juden und Muslimen auch durch die Gemeinsamkeiten der beiden Religionen. Islamistische Fundamentalisten ziehen aus den Schwertversen außerdem ihre religiöse Grundlage für die Bekämpfung aller Ungläubigen, die antisemitische Nuance ist da eher ein Nebenprodukt. Anders war es im Christentum, wo das Neue Testament zu unterschiedlichsten Zeiten als Werkzeug der Antisemiten diente, u.a. weil es sich explizit und zuallererst an (und unter bestimmten Aspekten auch gegen) die Juden richtete.


Fazit: Die Aktivisten von AFDI versuchen mit oberflächlichen Aussagen die israelkritischen Stimmen innerhalb der amerikanischen Öffentlichkeit zu übertönen, doch genau diese Unsachlichkeit entlarvt sie als rassistische Scharlatane. Es geht ihnen nicht darum, den Antisemitismus zu bekämpfen, sondern schlichtweg „den Islam“ und alle Menschen, die sich mit ihm in irgendeiner Weise identifizieren.

Donnerstag, 2. April 2015

Kulinarischer Ausflug - Letzter Teil der Südostasien-Reihe (Teil 13)

Als Abschluss meiner Südostasien-Reihe möchte ich hier ein paar fotografische Eindrücke der örtlichen Küche teilen, die ich auf unserem Weg durch Thailand, Laos und Kambodscha eingefangen habe.

Reis

Das Grundnahrungsmittel der thailändischen Küche ist Reis. Angebaut werden zahlreiche Sorten, darunter sowohl die im Wasser auf Terrassen angebaute Art als auch Arten, die man ohne viel Wasser auf Feldern kultivieren kann.

Die simpelste Form einer Mahlzeit: Gemüsereis in Chiang Mai.

Auch in Laos wird hauptsächlich Reis gegessen, weit verbreitet ist vor allem Klebereis, den man mit den Fingern formt. In Luang Prabang (Laos) gibt es eine staatliche Behörde, die den Preis für Reis reguliert.


Reis wird auch oft in Bananenblätter gepackt, wie hier in Phnom Penh (Kambodscha).


Ob zu Fleisch oder Fisch, Reis ist immer mit dabei. Es gibt auch süße Speisen mit Reis und in Bangkok gibt es sogar einen Eis-Becher, in dem man Klebereis mit Mango bekommen kann. 

Suppen

An jeder Ecke bekommt man Nudelsuppen. Suppe ist eines der seltenen Gerichte, das man in Thailand und Laos mit Stäbchen (und Löffel) ist. Normalerweise wird die Gabel benutzt, nur chinesische Speisen ist man mit Stäbchen.
In jedem Ort schmeckt die Suppe anders, allerdings sind die Grundbestandteile meistens gleich: Nudeln, Zitronengras, Koriander und Fleisch.



Dazu gibt es immer ein Set von vier zusätzlichen Würzungen: Zucker, Fischsauce und zwei scharfe Gewürze (z.B. Chili). Es gibt alle möglichen Varianten, z.B. mit Curry.


In Luang Prabang gibt es ein berühmtes Or Lam, eine Wasserbüffelsuppe. Ich bekam allerdings die Variante mit Meeresfrüchten, Erbsen und einer ganzen Menge Chili.


Nudeln

Nudeln sind sehr verbreitet, vor allem Pad Thai gibt es in Thailand überall. Man kann jedoch auch Varianten wählen, z.B. mit klebrigen, dicken Nudeln.


An vielen Orten begegnet einem auch die Variation mit Spinat, wie hier in Kambodscha.


Fisch

In Laos ist Fisch aus dem Mekong neben Klebereis das Grundnahrungsmittel, auch in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh und an den Küsten bekommt man frisch gefangenen Fisch auf den Teller.

Mekong-Fisch schmeckt sehr schlammig...
Eine Spezialität in Kambodscha ist Amok, ein Fischgericht mit Kokosnuss-Curry. Traditionell wird es in Blättern des Noni-Baums serviert, in meinem Fall auf einem Markt von Phnom Penh lediglich mit Salat und mit vielen Gräten…


Auf Koh Chang kann man Wels essen – mit Nudeln und Gemüse.


Meeresfrüchte

Überall gibt es Gerichte mit Meeresfrüchten, hauptsächlich Garnelen und Tintenfisch. Gebratene Tintenfische bekommt man oft direkt vom Grill, man kann sie jedoch auch getrocknet und in gewalzter Form knusprig und mit einem Dip serviert am Straßenrand kaufen.


Fleisch

Fleisch gibt es überall in allen Formen. Am häufigsten sieht man Geflügel, frisch vom Grill.


Begehrt sind die Fleischspieße, die man in einer süßen Marinade gebraten an der Straße bekommt. 


In Laos isst man Fleisch (in diesem Fall Ente) mit viel Grünzeug, einer Sauce und kalten Reisnudeln.


Ziemlich merkwürdig ist das getrocknete Schweinefleisch, das man im Supermarkt abgepackt bekommen kann. Es erinnert in der Konsistenz ein wenig an Zuckerwatte, zerfließt aber nicht im Mund.


Obst

Natürlich gibt es auch viel frisches und reifes Obst. Mangos und kleine Bananen, aber auch exotische Früchte wie z.B. die stachlige Durian-Frucht hinten links im Bild, die es v.a. in Thailand und Malaysia gibt.


Im Supermarkt von Siem Reap gibt es Tamarinden, die in vielen südostasiatischen Küchen Verwendung finden.


Bier

Natürlich bekommt man in allen drei Ländern auch Bier: In Thailand ist Singha die traditionelle Marke, die jedoch in den letzten Jahren von Chang und Leo herausgefordert wird. In Laos trinkt man das Getränk der staatlichen Marke Beerlao, das in Vientiane gebraut wird. In Kambodscha ist Angkor sehr beliebt, daneben gibt es von der gleichnamigen Brauerei auch das ähnlich klingende Anchor („Anker“).


Ich hoffe, Ihr habt meine Südostasien-Reihe genossen und ich konnte Euch ein paar bildliche Eindrücke liefern. Für Kritik und Anmerkungen bin ich immer offen, also meldet Euch. Ansonsten wünsche ich Euch – in diesem Beitrag – einen guten Appetit und vielleicht habt Ihr ja Hunger aufs Reisen bekommen… 

Montag, 30. März 2015

Koh Chang (Teil 12)

Die letzte Station vor unserem kurzen Aufenthalt in Bangkok war Koh Chang, eine Insel am östlichen Küstenabschnitt Thailands. Per Bus ist sie über mehrere Stationen sogar direkt von Phnom Penh aus erreichbar, wo wir uns am frühen Morgen vom Hostel aufgemacht hatten. Unsere rostige Fähre trug uns pünktlich zum Sonnenuntergang über den wellenlosen Golf von Thailand hinüber auf die bergige, grüne Insel und wir kamen kurz nach Einbruch der Nacht an.


Die letzten fünf Tage auf Koh Chang waren der puren Erholung gewidmet. Keine Bus- oder Bahnfahrten mehr, keine Tempel und Ruinen, kein Stress. Nur Strand und ein wenig Ruhe – zumindest war so der Plan. Wer sich jedoch in einem nichtklimatisierten, von Stechmücken regelmäßig frequentierten Zimmer gleich neben der lautesten Bar von Lonely Beach einquartiert, sollte auch das passende Durchhaltevermögen mitbringen. Denn an Schlafen denken hier die wenigsten. Der Name Lonely Beach könnte ironischer nicht sein, denn hier trifft man so gut wie jeden Typ von Thailand-Touristen: Vereinzelt ältere kanadische Ehepaare, häufiger schon britische Egotrinker oder in den Achtzigern hängengebliebene Deutsche mit Vokuhila, und natürlich Gruppen minderjährig anmutender Skandinavierinnen. Und alles drängt sich nachts in Lonely Beach zusammen. Nur zwei Querstraßen beherbergen das gesamte Nachleben des südlichen Inselabschnitts von Koh Chang, eine Fülle von Tattoo-Studios und zahlreiche Unterkünfte, die immer teurer werden je weiter man in die Nähe des Strandes rückt.


Strand ist aber zu viel gesagt, denn die meisten „Strände“, die auf meiner im Supermarkt (7-Eleven) erstandenen Inselkarte eingezeichnet waren, entpuppten sich als mehr oder weniger felsige Uferabschnitte, von denen man einen guten Blick aufs Wasser hat – mehr aber auch nicht. Auch manche Straßen, die noch auf der Karte verzeichnet waren, existieren schon lange nicht mehr, aber dazu später…
Auf Koh Chang mietet man wie auf den meisten thailändischen Inseln einen Scooter, um von A nach B zu kommen. Mit vollem Tank und einem Helm von Honda düsten wir am ersten Tag die Küstenstraße hoch und runter auf der Suche nach einer etwas spießigeren Herberge, obwohl Lonely Beach bei Tag betrachtet tatsächlich ruhiger ist. Unser Backpacker-Hostel, das sich bei Tageslicht als eigentlich sehr stilvoll entpuppt hatte, war dennoch zu stickig und zu laut. Egal wie sich das anhört, nach dreieinhalb Wochen und dreizehn unterschiedlichen Unterkünften war die Zeit für einen Bungalow gekommen. Nicht weit von Lonely Beach fanden wir eine kleine Anlage, die von einem Franzosen betrieben wurde. Er verbringt nur einen Monat im Jahr in Frankreich und lebt ansonsten auf Koh Chang. Wie es das Schicksal wollte, hatten wir zu einem anständigen Preis sogar einen Pool direkt vor der Bungalow-Tür. Merksatz für Budget-Reisende: Von der Straße aus zum Wasser hin wird es teurer, in Richtung Hang ist es auch für Studenten/-innen erschwinglich.


Fragt mich nicht wieso, aber irgendwie verging der erste volle Tag, ohne dass irgendwer seine Füße ins (vermeintlich kühle) Nass des Ozeans hätte halten wollen. Auch der Pool blieb ungenutzt, doch wir verlängerten unsere in Lonely Beach gemieteten Mopeds um einen Tag und genehmigten uns im gegenüber von der Rollervermietung liegenden Restaurant ein gehörig scharfes Tom Yam. Auf Anfrage erhielten wir die Suppe in voller Thai-Schärfe und waren dermaßen am Heulen und Schnäuzen, dass es fast schon komisch war. Aber wir haben überlebt.
                                     

Auf Koh Chang gibt es im Süden ein Pier mit einigen Shoppingmöglichkeiten, man kann im Schatten kleiner Pavillons auf dem Steg eine Mittagsrast einlegen und fast überall gibt es was zu essen. Den ganzen Tag fahren offene Taxis die Inselstraße ab und man kann jede Stunde zur gewünschten Destination aufbrechen. Am geschicktesten sind aber die Scooter, die man an kleinen Ständen am Straßenrand auftanken lassen kann. Die Flasche Sprit kostet 40 Baht (1,10 €).


Am zweiten Tag waren wir wieder zu viert vereint und wollten wir zu einem Strand fahren, der uns von zwei Mitreisenden auf der Fähre empfohlen worden war. Auf der Karte sah alles recht unkompliziert aus und allzu weit war es scheinbar auch nicht. Spannender wurde es erst, als wir vor einer Brücke standen, die nicht mehr vorhanden war. Die Straße war auf unserem Weg immer verwachsener geworden und schließlich lag uns direkt vor dem unterspülten Übergang ein Baumstamm im Weg. Da es im Grunde nur eine Straße gibt, die wie ein geschlossener Ring um die elefantenförmige Insel führt, gab es hier kein Durchkommen. Der als einzigartig beschriebe Strand musste warten und wir legten uns anderswo ans Meer. Doch am nächsten Tag wollten wir es obenrum probieren, einmal um die ganze Insel.


Wir verlängerten die Mopeds um einen dritten Tag und brachen früh auf nach Long Beach, wo es ruhig und malerisch sein soll. Erst nach Norden, dann an der Ostküste von Koh Chang so lange nach Süden bis es nicht mehr weitergeht. Die Straßen sind wenig befahren und es macht richtig Spaß, sich zwischen Palmen und Dschungel im Fahrtwind einen leichten Sonnenbrand zu holen. Wir verfuhren uns ein bisschen, dann wurde die Straße wieder exotischer und schließlich forderte eine Schotterpiste die Mopeds heraus, für die wir unsere Pässe hatten hinterlegen müssen. No risk, no fun. Alles blieb heil.


Koh Chang hat nicht dieselben ewig weiten Strände oder dasselbe türkisblaue Wasser zu bieten wie die Inseln im Süden Thailands, aber dieser Strand war die Mühe auf jeden Fall wert. Und am Ende hatten wir ganze eineinhalb Stunden, um Long Beach zu genießen und dennoch pünktlich zum Einbruch der Dunkelheit wieder zurück zu sein.


Die letzten Tage unserer Reise waren eigentlich recht unproblematisch. Wir planten aber noch für zwei Tage erneut in das Chaos von Bangkok einzutauchen. Das Wunderbare an Thailand ist aber, dass man alles so arrangieren kann, um am Morgen direkt vor der Tür des Bungalow-Resorts in einen Minivan zu steigen und dann direkt über die Fähre bis nach Bangkok gefahren zu werden. Auf diesem Wege ließen wir das Dschungelparadies hinter uns und traten den letzten Weg in Richtung Deutschland an.