Ich bin auf
einen sehr interessanten Text gestoßen, der im Hinblick auf die Einwanderung
der türkischen Minderheit ganz gut erklärt, weshalb Deutschland beim Thema Migration
und Integration anderen Ländern hinterherhinkt. Der Text stammt aus einem
Länderporträt von Jürgen Gottschlich über die Türkei, doch im Kontext aktueller
Diskussionen, die seit Jahren anhalten und heute aktueller denn je sind, lohnt
sich die Lektüre einiger Auszüge:
[…] Die sogenannten Gastarbeiter der ersten
Stunde erzählen heute noch kopfschüttelnd, wie sich damals in den Dörfern
Anatoliens das Gerücht verbreitete, in diesem fernen Deutschland könne man
unendlich viel Geld verdienen.
Doch der Weg dorthin war lang und schwierig.
Es gab deutsche Anwerbekommissionen, die in den größeren Städten Stationen eingerichtet
hatten, in denen die Leute vorsortiert und einem ersten Gesundheitscheck
unterzogen wurden. Bevor jemand das Ticket zu einer Zugfahrt nach Norden bekam,
musste er sich dann zumeist noch zwei weiteren gründlichen Untersuchungen
stellen, um sicher zu gehen, dass die deutschen Firmen auch nur bestes „Material“
anwarben. Fast alle berichten, dass die Ankunft in Deutschland für sie ein
Schock war. Der Mangel an Verständigung, die völlig andere Umgebung und die
Unterbringung in tristen Baracken, die zum Teil schon als Unterbringung für die
Zwangsarbeiter im Dritten Reich gedient hatten, machten ein Ankommen in
Deutschland nicht leicht. Aber die Männer – es waren ja ganz überwiegend
Männer, die angeworben wurden – hatten den sozialen Zusammenhalt untereinander,
und sie hatten ihren Arbeitsplatz.
Ihre Arbeit gehörte durchgängig zu den
körperlich schwersten, am schlechtesten bezahlten und mit dem geringsten
Prestige verbundenen Tätigkeiten, die in Deutschland zu vergeben waren. Eine
besondere Ausbildung war zumeist unnötig, auch Sprachkenntnisse brauchte man
bis auf einige rudimentäre Brocken nicht. Es genügt, einige Befehle zu
verstehen und „jawohl, Meister“ sagen zu können. Mehr war auch gar nicht
gewollt, denn das Konzept der Anwerbung von Fremdarbeitern im südlichen Europa
basierte auf dem Rotationsprinzip. Die Arbeiter sollten nach ein paar Jahren,
die sie quasi wie auf Montage in Deutschland verbracht hatten, wieder
zurückkehren und neuen „Gastarbeitern“ Platz machen. Die Rückkehr sollte vor
allem so rechtzeitig geschehen, dass die Arbeiter nicht dem deutschen
Sozialsystem zur Last fielen, also krank wurden oder gar Rente beziehen
wollten.
Doch das Leben hält sich oft nicht an die
ausgeklügelten Pläne. Mit den Jahren begnügten sich die „Gastarbeiter“ nicht
mehr mit dem monotonen Wechsel zwischen Baracke und Schichtarbeit, sondern sie
begannen, ihre neuen Umgebungen zu erkunden. Zuerst die Innenstädte und
Bahnhöfe, dann kamen die ersten Kontakte zu Deutschen, die über den
unmittelbaren Arbeitsplatz hinausgingen. Bekanntschaften, Freundschaften, eine
eigene Wohnung folgten. Manchmal wurde aus Freundschaft Liebe, und die ersten
binationalen Ehen wurden geschlossen, andere begannen, ihre Frauen und Kinder
nachzuholen. Obwohl schon nach wenigen Jahren klar wurde, dass aus der
gedachten Rotation längst eine Einwanderung geworden war, wurde dies von der
bundesdeutschen Politik schlicht ignoriert.
Das Phänomen war in allen westeuropäischen
Industrienationen das Gleich, doch zwischen Deutschland auf der einen und
Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden auf der anderen Seite gab es
einen großen Unterschied. Dort holte man sich den Arbeitskräftenachschub aus
eigenen Kolonien oder ehemaligen Kolonien. Das hatte den Vorteil, dass man sich
bereits ein wenig kannte und die Leute, die kamen, in der Regel auch Englisch,
Französisch oder Niederländisch sprachen. Außerdem war man aufgrund seiner
imperialen Vergangenheit nicht ganz so provinziell wie in Deutschland. Die
Auslandserfahrungen der meisten deutschen Männer beschränkten sich in den 50er
Jahren auf die Eroberungszüge der Wehrmacht, bei den Frauen auf Bekanntschaften
mit Besatzungssoldaten. Die ersten schwarzen Gis wurden bestaunt wie Zirkusattraktionen.
Der Faschismus war zwar durch eine Demokratie ersetzt worden, aber die
Vorstellung vom deutschen Volk als ethnischer Einheit saß und sitzt oft bis
heute noch in vielen Köpfen.
Wenn heute in Deutschland die mangelnde
Integrationsbereitschaft der türkischen Einwanderer beklagt wird, unterschlägt
man in der Regel, dass dazu auf der anderen Seite auch die Bereitschaft
bestehen muss, vormals Fremde im eigenen Land aufnehmen zu wollen. Genau damit
aber taten sich die Deutschen besonders schwer. Zu den überall existierenden
Schwierigkeiten mit der Integration ethnischer Minderheiten kommt in
Deutschland, anders als in Großbritannien oder Frankreich, oft bis heute noch
ein völkisches Element hinzu.
Mit dieser Haltung sahen sich viele türkische
Familien konfrontiert, als sie aus den Wohnbaracken der Anwerberfirmen
auszogen, um sich selbst einen Platz in der Gesellschaft zu suchen. […]
(Text aus Jürgen GOTTSCHLICH: Türkei – Ein Land jenseits von Klischees,
Sonderausgabe für die Zentrale für politische Bildung in Deutschland, 2008, S.
79-85)
Viele dieser
Feststellungen lassen einen ersten Schluss zu, dass ein Großteil der Probleme,
die wir heute in Deutschland haben, nicht nur an der Einwanderung selbst
liegen, sondern am Umgang der deutschen Politik mit dem Zustrom von
Arbeitskräften sowie mitunter auch an den national(istisch?)en Eigenarten der
Deutschen. Mehr nachdenkliche (und teils erschreckende) Fakten und persönliche Beobachtungen
aus dieser Zeit hat z.B. Günter Wallraff in seinem Buch „Ganz unten“ (1985)
gesammelt.
Gastarbeiter (Foto: dpa, gesehen bei Sueddeutsche Zeitung) |