Ich möchte
die Demokratie gegen nichts auf der Welt eintauschen. Doch zu einem gesunden
Selbstverständnis gehört auch Selbstkritik, besonders in Tagen des
Schwarz-und-Weiß-Denkens. Seit dem Beginn der Ukraine-Krise sind die Positionen
westlich und östlich der Front klar aufgeteilt, doch macht uns dies nicht alle
gleich. Und es täuscht nur kurzfristig über die Probleme hinweg, die wir in
Zukunft noch bekommen werden oder schon längst haben. Es besteht Nachholbedarf,
an allen Ecken und Enden – und nicht nur in Deutschland. Wenn es um die
Aufarbeitung der eigenen Geschichte geht oder um den Umgang mit Menschen
ausländischer Herkunft. Dass Lettland noch immer Gedenkmärsche für seine
Kriegsteilnehmer aus den Reihen der Waffen-SS abhält, an denen im März 2015
noch 1.500 Männer teilnahmen, kann man als alternative Interpretation
europäischer Geschichte deuten. Doch dass der ungarische Präsident auf
Wahlkampfplakaten fremdenfeindliche Sprüche gegen Flüchtlinge klopfte, ist ein
akutes Problem. Natürlich, die Plakat-Botschaften waren in ungarischer Sprache abgefasst
und richteten sich an das ungarische Wahlvolk, doch Fremdenhass (und
wahrscheinlich auch schlichtweg Angst vor der Einwanderung) ist ein Problem,
dem in vielen Ländern mit Nachsicht und allzu großem Verständnis begegnet wird.
Doch abseits der Flüchtlingsproblematik gibt es andere beunruhigende Tendenzen,
die sich vor allem im Kontext des Konflikts mit Russland manifestieren. In
Litauen wird das Schulfach „patriotische Erziehung“ eingeführt, in Polen
formiert sich angesichts der russischen Bedrohung die Federacja Organizacji Proobronnych (FOP, Föderation der
Pro-Verteidigungsorganisationen). Dieser Verband soll Freiwillige bündeln und bis
in drei Jahren mit 100.000 Mitgliedern in jedem Kreis präsent sein. Eine
Aufgabe der Organisation – neben der Verteidigung gegen „den Russen“ – ist die
Erziehung der Jugend zum Patriotismus. Ähnliche Bürgerwehren bilden sich auch
in den baltischen Staaten. Hilft Vaterlandsliebe gegen Faschismus? Eine
Legende, an die noch allzu viele glauben mögen.
Ich liebe die
Demokratie. Aber ich zweifle so langsam an unserer. Deutschland profitiert an
einem Konflikt, zu dessen Entschärfung auch von europäischer Seite nichts beigetragen
wird: Polen hat Ende 2013 einen Kaufvertrag zur Lieferung von 119 deutschen Leopard-Panzern,
18 Bergepanzern und 200 Militär-LKWs unterschrieben. Ende Mai hat Rheinmetall bekannt
gegeben, mit einem polnischen Joint Venture einen neuen Radpanzer zu bauen. Die
polnische Regierung will 200 Stück kaufen, Umsatz: 300 Millionen Euro. Litauen
wird demnächst mit deutschen Panzerhaubitzen und Feuerleitsystemen
ausgestattet. Natürlich ist Deutschland nicht der einzige Lieferant. Doch
bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, dass man viel mehr Mühe in die
militärische Hochrüstung zu legen scheint als in diplomatische
Friedensbemühungen. Während der Diplomatie die Ausdauer schwindet, beginnt die Wirtschaft
zu frohlocken. Ich will Pazifismus...
Ich glaube
an die Demokratie und bin der Meinung, dass man ein paar Macken in unserem
System durchaus kurieren kann. Aber vielleicht sollten wir erst einmal offen
bekennen, dass auch wir einen Propaganda-Apparat betreiben, bevor wir die
Medien unserer Kontrahenten verurteilen. Die Deutsche Welle hat seit Mitte Mai
ein Abkommen mit den baltischen Staaten und liefert russischsprachige
Fernsehbeiträge. Ein Zitat des DW-Intendanten Peter Limbourg: „Mit unseren
Programmlieferungen in russischer Sprache tragen wir dazu bei, dass die
Menschen Informationen russischer Medien besser einordnen können.“ – Was ist
das, wenn nicht Propaganda? Von Deutschland an Russen. Das gleiche macht
Russland mit seinem Russia-Today-Büro
in Berlin. Und das finde ich nicht gut.
Derweil wird
unterbunden, dass Russland seine Minderheiten im Baltikum medientechnisch
versorgt. Doch wieso ist es überhaupt nötig, dass sich der russische Staat um
Bürger in europäischen Ländern kümmern muss? Vielleicht weil diese gar keine
Bürger sind: Nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten bekam die russische
Minderheit nur unzureichend die Möglichkeit, die jeweilige neue
Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden diese
(meist russischsprachigen) Einwohner staatenlos. Heute leben 91.000 Staatenlose
in Estland (laut Amnesty International),
in Lettland sind es 300.000 und damit knapp 15 % der Bevölkerung. Wenn wir es
als falsch empfinden, dass sich Russland um Russen kümmert, wie stehen wir dann
dazu, dass sich das deutsche Innenministerium um deutsche Minderheiten im
Ausland kümmert? Eine absurde Frage, oder nicht?
Aufgrund der
alltäglichen Diskriminierung in Form von unzureichendem Zugang zu staatlichen
Leistungen, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und vor allem dem fehlenden Wahlrecht
ist die russische Minderheit in diesen Ländern Putin gegenüber zum großen Teil
freundlich eingestellt. Doch das können wir nicht verstehen: „Im Nato-Land
Estland […] sehen nur rund 30 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung das
Verteidigungsbündnis [NATO] positiv – obwohl Nato-Jets den Luftraum schützen
und inzwischen ständig US-Truppen im Land sind“, schreibt Spiegel Online und
wundert sich. Seit April 2014 sind in Lettland, Litauen und Estland jeweils 150
US-Soldaten stationiert, von denen einige an der Militärparade zum estnischen
Unabhängigkeitstag teilnahmen – aus mainstreameuropäischer Sicht kann das nur
positiv sein.
Wenn wir
kein Verständnis für Russland aufbringen können und wollen, dann sollten wir
wenigstens einmal ein wenig Unverständnis gegen unsere eigene Politik und ihre
unverhohlene Falschheit offenbar werden lassen. Und Empörung. Während unsere
Währungsunion am Euro und der Griechenland-Politik scheitert und unsere Werte
vor Italien und Spanien zusammen mit 25.000 Flüchtlingen ertrinken, bringen wir
es immer noch nicht übers Herz, die erste faulige Tomate zu werfen, die ein
erster Anstoß zur Heilung des Systems sein könnte.
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