In der
Geschichte des 20. Jahrhunderts stößt man in nahezu jedem Jahrzehnt auf von
Menschen an Menschen verübte Verbrechen, im Krieg und zu Friedenszeiten. Es ist
schlimm genug, wenn der Wert eines Menschenlebens nur auf dem Papier Relevanz
besitzt. Schlimmer ist es aber, wenn sie offiziell von einer Ideologie als
lebensunwert oder gar als Feinde der Gesellschaft in die Händen der Henker
überliefert werden. Massenhaftes Morden und systematisches Totarbeiten gab es
in britischen und belgischen Kolonien, zu Millionen in nationalsozialistischen Vernichtungslagern
und auch in stalinistischen Gulags. Jahrzehnte nach dem Töten beginnt die
Aufarbeitung jener Gleichgültigkeit, die diese Verbrechen oftmals hat geschehen
lassen. Ein Ort des Gedenkens bei Phnom Penh sind die Killing Fields von Choeung Ek, denn auch Kambodscha war einst trauriger
Schauplatz von zahllosen Massakern. Die Zäsur im nationalen Gedächtnis liegt noch
keine siebzig Jahre zurück, viele Kambodschaner erinnern sich noch schmerzlich
an die Tage des Vietnamkriegs und die Vorkommnisse dieser unübersichtlichen
Zeit. Abseits der Schlagzeilen und unzugänglich für die meisten Journalisten
errichteten die Roten Khmer ihr Terrorregime und gaben ihm den Titel Demokratisches Kampuchea. Unter der
Führung von Pol Pot, einem gelernten Zimmermann und Privatschullehrer, ergriff
die maoistisch-nationalistische Gruppe Mitte der Siebzigerjahre die Macht.
Zahllose politische Gegner und jene, die das Regime als Feinde ausgemacht
hatte, wurden in Lager deportiert und nicht selten umgebracht. Kambodscha hatte
1975 etwa acht Millionen Einwohner, von denen bis zu drei Millionen an den
Strapazen und am Hunger während groß angelegter Umsiedlungsaktionen starben,
oder in den kommunistischen Hinrichtungslagern.
Wir nehmen
uns ein Tuk Tuk vom Hostel aus und brausen durch die belebten Straßen von PhnomPenh, zu den etwas außerhalb der Stadt gelegenen Killing Fields. Es geht vorbei an Autowerkstätten und durch ärmlichere
Siedlungen, die sich jeweils dicht an die Hauptstraße drängen. Ab und zu führen
dicke Abwasserrohre unter der Asphaltdecke hinunter zum Tonle Sap, um ihre
giftige und bestialisch stinkende Mischung zuerst über die saftig grünen
Reisfelder und schließlich in den Fluss zu entladen. Um unsere Motorradrikscha schwirren
Mopeds und Lastwagen, irgendwann geht es aus der Stadt heraus auf eine staubige
Straße in Richtung Süden und nach kurzer Fahrt kommen wir in Choeung Ek an.
Am Eingang werden
wir mit einem Audio-Guide ausgestattet. Das Areal erkundet man schweigend zu
Fuß, die deutsche Stimme im Ohr erzählt die Geschichte der Hinrichtungsstätte
und der vielen Menschen, die in ihr umkamen. Alles ist sorgfältig
aufgearbeitet. Man erfährt auch von den Anfängen der Roten Khmer und ihrem
Führer, der unter der durch den Vietnamkrieg geschundenen Bevölkerung im
östlichen Grenzgebiet großen Zuspruch fand. Pol Pot versprach den Menschen, die
zum größten Teil in Armut lebten, vor allem Nahrung und Arbeit. In seiner
Ideologie wurden die Städte als Wurzeln des Hungers ausgemacht, ihre Bewohner bezeichnete
er als Parasiten. Privatbesitz wurde unter den Roten Khmer verboten und Geld
abgeschafft, Religion wurde mit allen Mitteln bekämpft und Schulen wurden
geschlossen. Pol Pot setzte seine Armee aus ungebildeten Bauern zusammen, unter
denen er den Hass auf die Städter schüren konnte. Grausame Parolen versuchten
schon am Anfang zu rechtfertigen, was später bittere Wahrheit werden sollte. Am
17. April 1975 eroberten die Roten Khmer die Hauptstadt und verschleppten daraufhin
fast die gesamte Stadtbevölkerung aufs Land. Millionen Menschen in ganz
Kambodscha wurden von den Machthabern entwurzelt und neuen Arbeitsbereichen im
ganzen Land zugeteilt, wo sie auf den Reisfeldern arbeiten sollten. Durch die
Vertreibung, das Chaos und den Hunger auf dem Land kamen Hunderttausende um. Die
Getreideproduktion sollte verdreifacht werden, doch ein Großteil der Ernte
wurde exportiert. Im Gegenzug erhielt die Führung Waffen und Vorräte von den
Chinesen, während selbst die Arbeiter auf den Reisfeldern verhungerten. In den
Internierungslagern, die übers ganze Land verteilt waren, wurden Millionen
ermordet. Pol Pot war paranoid, Lehrer und Intellektuelle wurden kollektiv zum
Tode verurteilt. Wer Fremdsprachenkenntnisse besaß war als Angehöriger der
Bourgeoisie von vornherein verdächtig. Auch Menschen mit Brille und mit weichen
Händen wurden zusammen mit politischen Gegnern zuerst in Gefängnissen
interniert und dann in Lager wie Choeung Ek gebracht.
Choeung Ek
war früher ein Obstgarten, auf dem Gebiet der Killing Fields befand sich ein
Friedhof der örtlichen chinesischen Bevölkerung. Nach der Einrichtung des Hinrichtungslagers
wurden die Ermordeten in Erdlöchern rund um die chinesischen Gräber verscharrt.
An einer Stelle des Rundgangs wird an das Massengrab von 166 desertierten Soldaten
der Roten Khmer erinnert. „Kambodschanischer Körper, vietnamesischer Kopf“,
hieß es in der Staatspropaganda. In den Vietnamesen sahen die gleichfalls
kommunistischen Roten Khmer den Feind der Stunde.
Über die
Killing Fields verteilt gibt es auf 2,4 Hektar Land ganze 129 Massengräber, von
denen nicht alle geöffnet wurden. Doch selbst dort, wo nur noch leere grasbewachsene
Gruben den Grund durchlöchern, kommen auf den Wegen nach jedem Regenfall neue
Knochen und Kleiderfetzen der Opfer ans Tageslicht. Die Stimme im Guide
erklärt, man solle auf die Fragmente nicht treten und sie auch nicht aufheben.
Alle paar Monate geht ein Team der Gedenkstätte über das Areal und sammelt die
Überreste ein, um sie in zwei große Glaskästen zu legen.
Der
Audio-Guide gibt Zeitzeugenberichte wieder von Menschen, die in Choeung Ek oder
im Tuol-Sleng-Gefängnis (auch als S-21
bekannt) in Phnom Penh inhaftiert waren. Man erfährt, wie Häftlinge eigene
Geschichten von nie verübten Taten erfinden und danach um Vergebung bitten
mussten. „Wenn einem die Geschichten ausgingen, war die Zeit der Hinrichtung
gekommen“, erzählt die Stimme eines Mannes namens Yuk. Nachts übertönten
Lautsprecher mit Revolutionsliedern und das Rattern des Dieselgenerators die
Schreie der Sterbenden. Zuletzt wurden auf den Killing Fields bis zu 300
Gefangene pro Tag hingerichtet.
Am Rande der
Besichtigungstour steht ein alter Baum. Es ist der sogenannte Killing Tree, an den Aufseher die kleinen
Kinder der weiblichen Häftlinge geschlagen hatten, bis sie tot waren. Taten,
die an Grausamkeit kaum zu überbieten sind. Das Massengrab der Opfer liegt
direkt daneben. An diesem Ort war der ehemalige Gefängnisleiter, bekannt unter
dem Namen Duch, zusammengebrochen und
hatte unter Tränen seine Taten gestanden, als er Jahrzehnte nach den Verbrechen
selbst als Gefangener im Rahmen einer Tatortsichtung des Gerichts hierher
gebracht wurde.
Noch im
Jahre 1979 kam wenige Monate nach der Vertreibung der Roten Khmer durch die
vietnamesischen Truppen die schreckliche Wahrheit ans Licht. Die Befreier
fanden Grabhügel, die sich durch die Verwesungsgase gewölbt hatten. Bis heute
wurden etwa 20.000 Massengräber in Kambodscha freigelegt, die meisten davon über
das ganze Land verteilt in etwa 300 Hinrichtungsstätten. Es gibt auf den Killing Fields noch 40 ungeöffnete
Gräber, doch der Gedenkstupa ist voll. Die Hüter von Choeung Ek, wie die
Mitarbeiter der Gedenkstätte im Audio-Guide heißen, wollen die restlichen Opfer
in Frieden ruhen lassen. Doch fast 9.000 Tote wurden noch 1980 der Erde
entnommen und obduziert. Die Todesursachen wurden festgestellt. Was auf den
Informationstafeln abstrakt dargestellt wird, kann und will man sich nicht
vorstellen. Einschusslöcher im Kopf, mit Spitzhacken zertrümmerte Schädel. In
der Gedenkpagode sind die Überreste der exhumierten Opfer gestapelt, auf 17
Stockwerken und sorgfältig nach Alter der Opfer angeordnet.
Aus
europäischer Sicht eine etwas bizarre Art und Weise, den Ermordeten zu
gedenken. Doch die Symbolik, die in der traditionellen Architektur der Pagode
steckt und auch die Tatsache, dass man beim Betreten wie bei jeder heiligen
Stätte in Südostasien die Schuhe auszieht, verleihen dem Ort den zu erwartenden
Respekt.
Choeung Ek
ist vielleicht einer der Orte wie Dachau und Auschwitz, die tatsächlich zum
Nachdenken anregen. Doch wie die Stimme im Audio-Guide schon sagt: Die
Verbrechen der Roten Khmer waren nicht die ersten Massenmorde der Welt und –
wie uns die Geschichte zum Beispiel 1994 in Ruanda lehrte – auch nicht die
letzten. In der Gedenkstätte von der Killing
Fields drängt sich weniger die Frage nach dem Warum auf als vielmehr die
Erkenntnis, dass es auch hier passiert ist. Während man
nachdenklich zurück in die Stadt gefahren wird realisiert man, dass in Phnom
Penh fast jeder Mensch über 40 in irgendeiner Weise von den Vertreibungen oder
Morden durch die Roten Khmer betroffen gewesen sein musste. Die Täter von
damals und ihre Taten sind bis heute in den Zeitungen des Landes präsent. Die
Führungsriege der Roten Khmer wurde mit der Zeit von internationalen Gerichten
unter kambodschanischem Vorsitz zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die
Nachfolgeprozesse laufen bis heute. Die Anführer der Roten Khmer lebten
teilweise bis in die 1990er Jahre im Grenzgebiet zu Thailand, erst 1997 wurde Pol
Pot von ehemaligen Mitstreitern aus seiner Führungsposition als „Bruder Nr. 1“
verdrängt. Kurz darauf beging er vermutlich Selbstmord, ohne dass er jemals für
seine Taten zur Verantwortung gezogen worden wäre.
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