Dienstag, 20. Oktober 2015

Die Dritte Intifada & das Dilemma der moralischen Überlegenheit

Vor einer ganzen Weile hat mich ein israelischer Bekannter gefragt, ob ich wirklich der Meinung wäre, Israel sei weniger aufgeschlossen, weniger open-minded als Deutschland. Ich wollte ihm damals antworten und habe viel Zeit investiert in die Formulierung meiner Gedanken, doch nach einer Weile haben sich die Ereignisse in Deutschland und auch in Israel überschlagen, sodass ich bis heute nicht dazu gekommen bin, diese Email zu schreiben. Gerade in diesen Tagen erleben wir aber wieder einen neuen Ausbruch der Gewalt im Nahen Osten, inmitten der vielen anderen Krisenherde, die seit Jahren die Nachrichten dominieren: Zwischen Mittelmeer und Jordan bahnt sich etwas an, das viele schon jetzt als Dritte Intifada bezeichnen. Die Zahlen der Toten steigen wieder, es kommt zu Angriffen und Attentaten. Menschen fallen Messerstechern und Polizeischüssen zum Opfer. Erst kürzlich erzählte mir ein Freund aus Israel, dass er mit einem flauen Gefühl im Magen von Tel Aviv mit dem Bus nach Beersheva fuhr. Dort hatte ein Palästinenser am Tag zuvor versucht, an der Central Bus Station mit Messer und Schusswaffe ein Blutbad anzurichten. Der Freund erzählte weiter, er habe sich aber besser gefühlt, als er am Busbahnhof eine große Gruppe israelischer Jugendlicher mit der Nationalflagge habe tanzen sehen. Da kam ich ins Grübeln. Was ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt, lässt mich wiederum schlucken. Denn an genau jener Stelle hatten Passanten am Tag zuvor auch einen Eritreer zu Tode geprügelt, nachdem sie ihn für einen zweiten Attentäter gehalten hatten. Die Nerven liegen blank, und vor der Kulisse einer weiteren Zeit des Terrors geht jede Menschlichkeit verloren.
Da fiel mir wieder die Email ein, die ich schreiben wollte. Ist Israel weniger open-minded als andere Länder, als Deutschland? Ich denke, man kann Gesellschaften nur schlecht vergleichen, wenn sie sich in einer komplett anderen Ausgangssituation befinden. Und doch möchte ich den meisten Israelis sagen, dass ich sie nicht mehr verstehe – wenn ich sie denn jemals auch nur ansatzweise verstanden habe. Die israelische Gesellschaft ist entweder blind, oder sie schaut weg. Eines ist sie jedenfalls nicht: Moralisch überlegen. Es ist nicht nur ein Versäumnis der Regierung, wenn sich ultraorthodoxe Juden dazu ermutigt fühlen, auf einer Gay Pride Parade in Jerusalem junge, andersdenkende und -fühlende Menschen abzustechen. Es ist auch nicht die Schuld der Regierung, wenn Polizisten einen äthiopischstämmigen IDF-Soldaten auf offener Straße misshandeln oder einen Eritreer für einen Terroristen halten, nur weil er eine dunklere Hautfarbe hat als der durchschnittliche aschkenasische israelische Jude. Die Regierung trägt zwar die Verantwortung für die seit Jahrzehnten aufrecht erhaltene Besatzung der palästinensischen Nachbarn, doch die Gesellschaft wiederum toleriert sie. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird durch diese Besatzung jedoch maßgeblich bedingt – doch die Gesellschaft sieht sie nicht einmal, solange man sie nicht mit ihr konfrontiert.

Symbol der Freiheit?

Natürlich haben Israelis in den letzten Jahrzehnten ihre eigenen persönlichen Erfahrungen mit dem Konflikt gemacht. Familien haben Väter oder Onkels in einem der zahlreichen Kriege mit den arabischen Nachbarn verloren, oder durch Scharfschützen bei der Feldarbeit in einem Kibbuz. Andere können sich daran erinnern, wie zur Zeit der Zweiten Intifada die Küchenfenster zum wiederholten Male wackelten, wenn sich der Attentäter in einem Jerusalemer Bus in die Luft gesprengt hat. Diesen Menschen macht es Mut, wenn die jugendlichen Massen am Unabhängigkeitstag bis in die Nacht in den Straßen tanzen und sich in blau-weiße Fahnen einhüllen. Für die junge Generation sind Blau und Weiß die Farben der Zuversicht, der Davidstern ein Symbol der Freiheit. Genau diese Flagge bedeutet für die unterdrückten Nachbarn jedoch etwas ganz anderes, wo immer sie über spontan vor Ortseingängen errichteten Checkpoints weht, die von einem Tag auf den anderen willkürlich entscheiden können, wer heute zur Schule oder zur Arbeit geht und wer nicht. An diesen Checkpoints stehen keine gesichtslosen Soldaten, sondern nahezu jeder israelische Mann und fast jede israelische Frau, die beide ihren Wehrdienst bei der Armee ableisten, und das meist auch vollem ganzem Herzen tun. Den Schrecken der Besatzung, an der sie teilhaben und bei der sie Zeuge alltäglicher Ungerechtigkeiten werden, versuchen sie nach zwei oder drei Jahren des Armeedienstes in Südamerika oder Indien zu vergessen, mit Marihuana und anderen Drogen aus dem Gedächtnis zu löschen. Nur eine kleine Gruppe ehemaliger Wehrdienstleistender berichtet von den Szenen in Hebron und anderen Orten, wo israelische Einheiten zu Übungszwecken die Wohnzimmer palästinensischer Familien in Kommandozentralen umfunktionieren und beim Abzug nach zwei, drei Tagen bisweilen die komplette Inneneinrichtung kaputtschlagen, oder der Familie sogar noch aufs zertrümmerte Sofa kacken. All dies ist man gezwungen, an der Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland abzulegen, denn die Gesellschaft möchte die Berichte über die eigenen moralischen Makel nicht hören. Als „Linker“ sind jene verschrien, die an der Besatzung zweifeln. Und so kommt es, dass der Konflikt nur dann die israelische Öffentlichkeit berührt, wenn perspektivlose und ideologisch vereinnahmte Palästinenser an Bushaltestellen in wartende Menschen rasen oder mit Messern um sich stechen. Die israelische Politik, die mit dem Bau von Siedlungen bestraft und durch die Aufrechterhaltung der Besatzung jede Chance auf Frieden zubetoniert, erfährt in diesen Tag noch mehr Zuspruch. Mehr als eine halbe Million oftmals extremistischer Siedler haben sich im Westjordanland niedergelassen. Dort ist in den letzten Jahren mit ihnen nicht nur eine entscheidende politische Größe herangewachsen, sondern auch eine radikalisierte Jugend, die durch benachbarte palästinensische Dörfer zieht, um Autos anzuzünden und Moscheen zu beschmieren. Und während diese Jugendlichen im besten Fall vor ein ordentliches Gericht gestellt werden, steht jeder palästinensische Steinewerfer unter israelischer Militärgerichtsbarkeit. Wie moralisch überlegen kann eine Gesellschaft sein, die es toleriert, dass in ihren Gefängnissen minderjährige Palästinenser auf unbestimmte Zeit festgehalten werden? Welche Werte vertritt ein Staat, in dessen Machtbereich ein 15jähriger Angreifer auf offener Straße verblutet, während dutzende Polizisten um ihn stehen und ein Siedler Nahaufnahmen mit seinem Handy macht, laut rufend „Stirb, Du Hurensohn“? Man könnte sich fragen, ob die israelische Öffentlichkeit tatsächlich erkennt, in welchem moralischen Dilemma sie sich hier befindet. 
Extremisten und Terroristen gibt es auf beiden Seiten, das ist nicht Gegenstand der Diskussion. Der palästinensische Terror entsteht jedoch auf dem Boden der Perspektivlosigkeit, in einem von Zäunen und Mauern und Checkpoints durchzogenen Land. Der israelische Terror auf der anderen Seite wähnt große Teile der eigenen Politik hinter sich. Er entsteht in einem Staat, der seit Jahrzehnten in jedem Konflikt Sieger geblieben ist und seit einer halben Ewigkeit eine Besatzung aufrecht erhält, durch die sowohl die eine als auch die andere Seite immer weiter abstumpft und irgendwann jedes Gefühl für ein menschliches Miteinander verlieren wird. Ein anderer Bekannter schrieb mit auf Facebook, die Atmosphäre in Israel sei dermaßen vergiftet, dass er noch nie so ernstlich über Auswanderung nachgedacht habe wie heute. Und wenn die ersten Querdenker aus einem Staat auszuwandern beginnen, der sich noch immer die "einzige Demokratie im Nahen Osten" nennt, dann kann dieser Staat nicht sehr open-minded sein.


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