Vor einer ganzen Weile
hat mich ein israelischer Bekannter gefragt, ob ich wirklich der Meinung wäre,
Israel sei weniger aufgeschlossen, weniger open-minded
als Deutschland. Ich wollte ihm damals antworten und habe viel Zeit investiert
in die Formulierung meiner Gedanken, doch nach einer Weile haben sich die
Ereignisse in Deutschland und auch in Israel überschlagen, sodass ich bis heute
nicht dazu gekommen bin, diese Email zu schreiben. Gerade in diesen Tagen
erleben wir aber wieder einen neuen Ausbruch der Gewalt im Nahen Osten,
inmitten der vielen anderen Krisenherde, die seit Jahren die Nachrichten
dominieren: Zwischen Mittelmeer und Jordan bahnt sich etwas an, das viele schon
jetzt als Dritte Intifada bezeichnen. Die Zahlen der Toten steigen wieder, es
kommt zu Angriffen und Attentaten. Menschen fallen Messerstechern und
Polizeischüssen zum Opfer. Erst kürzlich erzählte mir ein Freund aus Israel,
dass er mit einem flauen Gefühl im Magen von Tel Aviv mit dem Bus nach Beersheva
fuhr. Dort hatte ein Palästinenser am Tag zuvor versucht, an der Central Bus
Station mit Messer und Schusswaffe ein Blutbad anzurichten. Der Freund erzählte
weiter, er habe sich aber besser gefühlt, als er am Busbahnhof eine große
Gruppe israelischer Jugendlicher mit der Nationalflagge habe tanzen sehen. Da
kam ich ins Grübeln. Was ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt, lässt mich
wiederum schlucken. Denn an genau jener Stelle hatten Passanten am Tag zuvor
auch einen Eritreer zu Tode geprügelt, nachdem sie ihn für einen zweiten
Attentäter gehalten hatten. Die Nerven liegen blank, und vor der Kulisse einer
weiteren Zeit des Terrors geht jede Menschlichkeit verloren.
Da fiel mir wieder die
Email ein, die ich schreiben wollte. Ist Israel weniger open-minded als andere Länder, als Deutschland? Ich denke, man kann
Gesellschaften nur schlecht vergleichen, wenn sie sich in einer komplett
anderen Ausgangssituation befinden. Und doch möchte ich den meisten Israelis sagen,
dass ich sie nicht mehr verstehe – wenn ich sie denn jemals auch nur ansatzweise
verstanden habe. Die israelische Gesellschaft ist entweder blind, oder sie
schaut weg. Eines ist sie jedenfalls nicht: Moralisch überlegen. Es ist nicht
nur ein Versäumnis der Regierung, wenn sich ultraorthodoxe Juden dazu ermutigt
fühlen, auf einer Gay Pride Parade in Jerusalem junge, andersdenkende und -fühlende
Menschen abzustechen. Es ist auch nicht die Schuld der Regierung, wenn
Polizisten einen äthiopischstämmigen IDF-Soldaten auf offener Straße
misshandeln oder einen Eritreer für einen Terroristen halten, nur weil er eine dunklere
Hautfarbe hat als der durchschnittliche aschkenasische israelische Jude. Die
Regierung trägt zwar die Verantwortung für die seit Jahrzehnten aufrecht
erhaltene Besatzung der palästinensischen Nachbarn, doch die Gesellschaft wiederum
toleriert sie. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird durch
diese Besatzung jedoch maßgeblich bedingt – doch die Gesellschaft sieht sie
nicht einmal, solange man sie nicht mit ihr konfrontiert.
Symbol der Freiheit?
Natürlich haben Israelis
in den letzten Jahrzehnten ihre eigenen persönlichen Erfahrungen mit dem
Konflikt gemacht. Familien haben Väter oder Onkels in einem der zahlreichen
Kriege mit den arabischen Nachbarn verloren, oder durch Scharfschützen bei der
Feldarbeit in einem Kibbuz. Andere können sich daran erinnern, wie zur Zeit der
Zweiten Intifada die Küchenfenster zum wiederholten Male wackelten, wenn sich der
Attentäter in einem Jerusalemer Bus in die Luft gesprengt hat. Diesen Menschen macht
es Mut, wenn die jugendlichen Massen am Unabhängigkeitstag bis in die Nacht in
den Straßen tanzen und sich in blau-weiße Fahnen einhüllen. Für die junge Generation
sind Blau und Weiß die Farben der Zuversicht, der Davidstern ein Symbol der
Freiheit. Genau diese Flagge bedeutet für die unterdrückten Nachbarn jedoch
etwas ganz anderes, wo immer sie über spontan vor Ortseingängen errichteten
Checkpoints weht, die von einem Tag auf den anderen willkürlich entscheiden
können, wer heute zur Schule oder zur Arbeit geht und wer nicht. An diesen
Checkpoints stehen keine gesichtslosen Soldaten, sondern nahezu jeder
israelische Mann und fast jede israelische Frau, die beide ihren Wehrdienst bei
der Armee ableisten, und das meist auch vollem ganzem Herzen tun. Den Schrecken
der Besatzung, an der sie teilhaben und bei der sie Zeuge alltäglicher
Ungerechtigkeiten werden, versuchen sie nach zwei oder drei Jahren des
Armeedienstes in Südamerika oder Indien zu vergessen, mit Marihuana und anderen
Drogen aus dem Gedächtnis zu löschen. Nur eine kleine Gruppe ehemaliger
Wehrdienstleistender berichtet von den Szenen in Hebron und anderen Orten, wo
israelische Einheiten zu Übungszwecken die Wohnzimmer palästinensischer Familien
in Kommandozentralen umfunktionieren und beim Abzug nach zwei, drei Tagen
bisweilen die komplette Inneneinrichtung kaputtschlagen, oder der Familie sogar
noch aufs zertrümmerte Sofa kacken. All dies ist man gezwungen, an der Grenze
zwischen Israel und dem Westjordanland abzulegen, denn die Gesellschaft möchte die
Berichte über die eigenen moralischen Makel nicht hören. Als „Linker“ sind jene
verschrien, die an der Besatzung zweifeln. Und so kommt es, dass der Konflikt nur
dann die israelische Öffentlichkeit berührt, wenn perspektivlose und
ideologisch vereinnahmte Palästinenser an Bushaltestellen in wartende Menschen rasen
oder mit Messern um sich stechen. Die israelische Politik, die mit dem Bau von
Siedlungen bestraft und durch die Aufrechterhaltung der Besatzung jede Chance
auf Frieden zubetoniert, erfährt in diesen Tag noch mehr Zuspruch. Mehr als
eine halbe Million oftmals extremistischer Siedler haben sich im Westjordanland
niedergelassen. Dort ist in den letzten Jahren mit ihnen nicht nur eine
entscheidende politische Größe herangewachsen, sondern auch eine radikalisierte
Jugend, die durch benachbarte palästinensische Dörfer zieht, um Autos anzuzünden
und Moscheen zu beschmieren. Und während diese Jugendlichen im besten Fall vor
ein ordentliches Gericht gestellt werden, steht jeder palästinensische
Steinewerfer unter israelischer Militärgerichtsbarkeit. Wie moralisch überlegen
kann eine Gesellschaft sein, die es toleriert, dass in ihren Gefängnissen minderjährige
Palästinenser auf unbestimmte Zeit festgehalten werden? Welche Werte vertritt
ein Staat, in dessen Machtbereich ein 15jähriger Angreifer auf offener Straße
verblutet, während dutzende Polizisten um ihn stehen und ein Siedler Nahaufnahmen
mit seinem Handy macht, laut rufend „Stirb, Du Hurensohn“? Man könnte sich fragen, ob die israelische Öffentlichkeit tatsächlich erkennt, in welchem moralischen Dilemma sie sich hier befindet.
Extremisten und
Terroristen gibt es auf beiden Seiten, das ist nicht Gegenstand der Diskussion.
Der palästinensische Terror entsteht jedoch auf dem Boden der
Perspektivlosigkeit, in einem von Zäunen und Mauern und Checkpoints
durchzogenen Land. Der israelische Terror auf der anderen Seite wähnt große
Teile der eigenen Politik hinter sich. Er entsteht in einem Staat, der seit
Jahrzehnten in jedem Konflikt Sieger geblieben ist und seit einer halben
Ewigkeit eine Besatzung aufrecht erhält, durch die sowohl die eine als auch die
andere Seite immer weiter abstumpft und irgendwann jedes Gefühl für ein menschliches
Miteinander verlieren wird. Ein anderer Bekannter schrieb mit auf Facebook, die Atmosphäre in Israel sei dermaßen vergiftet, dass er noch nie so ernstlich über Auswanderung nachgedacht habe wie heute. Und wenn die ersten Querdenker aus einem Staat auszuwandern beginnen, der sich noch immer die "einzige Demokratie im Nahen Osten" nennt, dann kann dieser Staat nicht sehr open-minded sein.
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