Der Krankenwagen, der die drei Leichen abtransportierte,
wurde mit Steinbrocken und Farbe beworfen, als er die palästinensische Ortschaft
Halhul passierte. Die israelischen Jugendlichen Naftali Frenkel, Gilad Shaer
und Eyal Yifrach waren noch keine 20 Jahre alt. Sie besuchten jüdisch-religiöse
Schulen in den besetzten Gebieten, zwei von ihnen wohnten aber in Zentralisrael.
Zusammen fuhren sie am Abend ihrer Entführung per Anhalter, wie es in dieser Region üblich ist. Auf einem nahe gelegenen Feld in der Gegend von Hebron hatte man dann nach
wochenlanger Suche die drei Leichen gefunden, an einem Montag. Am Dienstag fand
die Beerdigung statt, unter großer Anteilnahme. Und in der Nacht zum Mittwoch verschwand der sechzehnjährige
Muhammad Abu Khudair aus dem Jerusalemer Vorort Schuafat. Der Ramadan hatte begonnen und Muhammad hatte das Haus am frühen
Morgen um halb vier verlassen, um mit seinen Freunden am Gebet der
Morgendämmerung teilzunehmen. Auf der Straße wurde er von zwei Männern in einen
grauen Hyundai gezerrt, in dem schon ein Fahrer saß. In Sekundenschnelle waren
die Entführer mit ihrem Opfer verschwunden. Eine Stunde später fand man Muhammads Leiche
in einem Wald.
Emotionen - Wut, Hass und Vergeltung
Diese Geschichte könnte nur das Vorspiel sein zu einer
weiteren Eskalation des Konflikts zwischen Mittelmeer und Jordan, der Auftakt einer neuen Tragödie. In den
letzten drei Wochen vor den Leichenfunden bei Hebron hatte sich auf beiden
Seiten der israelischen Sperrmauer eine enorme Spannung aufgebaut. Die Armee startete eine
großräumige Suchaktion und nahm hunderte Palästinenser fest. Gleichzeitig
wurde die Entführung der drei Israelis gefeiert, auf den
Straßen und vor allem im Internet. Man gratulierte sich zu drei weiteren „Schalits“: Als Gilad Schalit
2011 aus mehrjähriger Hamas-Gefangenschaft freikam, wurden im Gegenzug 1.027
palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen entlassen. Der
Preis des aktuellen Entführungsfalls war jedoch die Durchsuchung hunderter
Häuser durch israelische Soldaten. Mehrere Jugendliche kamen bei den Razzien in
palästinensischen Flüchtlingslagern ums Leben. Die Führung in Ramallah hatte
die israelische Armee ungehindert walten lassen, um eine Verschärfung zu
vermeiden, doch in der Bevölkerung wuchs die Wut.
Auch auf der israelischen Seite stauten sich Emotionen an.
Im Fernsehen wurde der Anruf ausgestrahlt, der in einer Notrufzentrale am Abend
der Entführung der drei Jugendlichen einging. Man hört die Stimme von Gilad,
zwischen einigen anderen. Originalton eines Kidnappings. Die Entdeckung der Leichen setzte allen Hoffnungen
schließlich ein Ende. Noch am selben Abend kam es zu Krawallen in den
Straßen, wütende israelische Mobs begannen Jagd auf Palästinenser zu machen. „Tod
den Arabern!“, schrien sie. Dienstags verfolgte das ganze Land die Beerdigung
der ermordeten Israelis im Fernsehen. Die anschließenden Ausschreitungen hasserfüllter
Israelis waren so heftig, dass die Polizei 47 Personen festnahm. Eine
Facebook-Gruppe rief zu Racheaktionen auf. Und 35.000 Personen
gefällt das, in kürzester Zeit. Nach zwei Tagen wurde die Gruppe gelöscht. Verstörende Fotos
kursierten in den sozialen Netzwerken, darunter auch das von zwei lachenden Mädchen, die einen Zettel hochhalten:
„Araber zu hassen ist kein Rassismus“, heißt es da. „Das Volk Israel fordert
Vergeltung“, lautet der dazugehörige Hashtag auf Hebräisch.
Die nächtliche Vergeltungsaktion findet ohne laute Worte
statt. Ein Wagen wendet, Muhammad wird eingesammelt. Eine weitere Leiche.
Und der Politik entgleitet immer weiter die Kontrolle. Palästinenserpräsident
Mahmud Abbas hatte der Entführung der drei Israelis nicht zugestimmt. Und
Ministerpräsident Netanjahu verurteilte die Tötung des arabischen Jugendlichen.
Doch in den Straßen machen Gruppen von Israelis Jagd auf arabisch aussehende
Personen und in den arabischen Vororten Jerusalems kommt es vonseiten der Palästinenser
zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei.
Yishai Frenkel, der Onkel des einen ermordeten Israelis,
sagte dem Fernsehsender Channel 2: „Jeder Akt der Vergeltung, welcher Art auch
immer, ist unangebracht und falsch. Mord ist Mord.“ Es gäbe keinen Unterschied
im Blut, egal ob Araber oder Jude. Und auch der Vater von Muhammad Abu Khudair
meldete sich zu Wort: „Ich bin gegen Entführung und Mord“, sagte er. „Ob Jude
oder Araber, wer kann die Entführung und Ermordung seines Sohnes oder seiner
Tochter akzeptieren?“ Er rief beide Seiten dazu auf, das Blutvergießen zu
beenden.
Doch die Gewalt wird wohl noch eine Weile anhalten. Sie
könnte sogar eskalieren. Eine dritte Intifada steht bevor. Hochkochende Emotionen, angestaute Wut und grenzenloser Hass.
Steine werden geworfen, Molotowcocktails fliegen und Müllcontainer gehen in Flammen auf. Und allein am Mittwoch feuerte die Hamas mehr als 20 Raketen auf
Südisrael ab. Die israelische Armee reagierte mit dem Bombardement von über
dreißig Zielen im Gazastreifen.
Diskussionen
Es wäre wieder einmal Zeit für Gespräche, zumindest hier
bei uns, in sicherer Entfernung. Doch leider sind sachliche Diskussionen selbst unter weitgehend Unbeteiligten nicht
möglich. Niemand, der sich an das Thema Israel/Palästina heranwagt, kann seine
Emotionen unterdrücken. Die meisten werden Opfer einer Propagandawelle,
entweder der einen oder der anderen Seite.
Doch kann das überhaupt anders sein? Kann man sich denn
überhaupt eine eigene Meinung bilden, ohne irgendwelche einschlägigen Phrasen
zu übernehmen, mit denen man wiederum anderen auf den Schlips tritt? Wie
beantwortet man zum Beispiel folgende Fragen:
Wieso sitzen hunderte minderjährige Palästinenser ohne
Anklageschrift in israelischen Gefängnissen?
Welche palästinensische Mutter kann es sich leisten, wie die
Mütter der entführten Israelis nach Genf zu fliegen und sich vor dem
UN-Menschenrechtsrat für ihr unrechtmäßig inhaftiertes Kind einzusetzen?
Darf man „Siedlerkinder“ entführen und töten, nur weil sie z.B.
in einer nach Völkerrecht illegalen Siedlung auf besetztem Gebiet zur Schule
gehen?
Weshalb interessiert sich kein Israeli für die Besatzung,
während sich in Palästina alles ausschließlich um die Besatzung dreht?
Wieso haben sowohl pro-israelische als auch
pro-palästinensische Gruppen immer das Gefühl, gerade ihre Position werde in
den Medien zu unzureichend vertreten?
Aber wieso ist es weniger schlimm, dass die Hamas zivile
Ziele in Südisrael beschießt, als wenn Israel mutmaßliche Terroristen in Gaza
gezielt bombardiert?
Warum sind die letzten Friedensgespräche wieder gescheitert,
obwohl es doch im Prinzip um dieselben Probleme wie schon 1993 ging?
Weshalb darf ein Palästinenser aus Ramallah oder Jericho
nicht nach Jerusalem kommen, um zu beten?
Wieso darf ein Palästinenser mit israelischem Pass im
Westjordanland ein Haus bauen, ein Jude mit israelischem Pass jedoch nicht?
Man könnte noch Dutzende solcher Fragen stellen und jede einzelne
könnte stundenlang diskutiert werden. Und die dazugehörigen Erklärungen wären
in kaum einem Fall zufriedenstellend für alle Beteiligten.
Erinnerung
Der Friedensprozess ist vor einigen Monaten gescheitert,
Entführungen und Morde haben die Lage verschärft, Militäreinsätze und
Hamas-Raketen schürfen tagtäglich neue Wunden. Zurück bleiben die Toten, von
denen man in einem einzigen Beitrag nur an wenige erinnern kann. Doch ich will
es hier tun.