Dienstag, 8. Oktober 2013

Unser Lampedusa

Es gibt zu viele Flüchtlinge, sagen die Menschen.
Es gibt zu wenig Menschen, sagen die Flüchtlinge.
(Ernst Ferstl)


Vor Lampedusa ist es wieder passiert. Nicht anders als sonst, nur mit mehr Opfern, die man nach und nach aus dem Mittelmeer fischt. So viele Opfer, dass man sie nicht mehr ignorieren kann. Diskussionen werden geführt, die Politik will sich jedoch nicht beeindrucken lassen. Deutschland nehme genug Flüchtlinge auf, Italien solle sich um „seine Flüchtlinge“ gefälligst selbst kümmern, heißt es.

Deutschland hat im vergangenen Jahr 65.000 Flüchtlinge aufgenommen. Das ist eine natürlich eine ganze Menge. Und doch gibt es so etwas wie eine Willkommenskultur nicht, weder für diejenigen, die schon seit Jahrzehnten hier sind, noch für die Migranten der letzten Jahre oder gar für Flüchtlinge. Allein beim Klang dieses neudeutschen Wortes geht so manchem Nationaldemokraten wohl das Messer in der Tasche auf. In Berlin-Hellersdorf marschierten die Rechten auf, um gegen die Aufnahme von Asylanten zu demonstrieren. Die NPD ließ vor der Wahl in ihrem Programm verlauten: „Das weltweit einzigartige Asylrecht der Bundesrepublik Deutschland hat nicht nur zu einem Mißbrauch in unvorstellbarem Ausmaß geführt, sondern auch zu einer Belastung der Staatsausgaben in Milliardenhöhe.“ Deshalb solle man das Grundrecht auf Asyl aus dem Grundgesetz streichen. Doch nicht nur die Rechten haben die Nase voll: In jedem Ort, in dem ein Wohnheim für Asylbewerber eingerichtet werden soll, fürchten die Menschen um ihre Sicherheit. „Wer soll unsere Frauen beschützen?“ ist eine der wohl beschämendsten Fragen, die bei Bürgerversammlungen auftauchen. Wir erinnern uns an die 1990er Jahre, als man allen Statistiken zum Trotz Panik unter den Bürgern dieses Landes schürte mit Parolen wie „Das Boot ist voll!“ – Eine ähnliche Stimmung kommt heute wieder auf, während sich Vorpommern und Brandenburg langsam entvölkern und die echten Boote im Mittelmeer zumeist unbeachtet sinken. Angeheizt wird die Stimmung von den Bildern raubender Zigeunerbanden, die durch deutsche Großstädte ziehen. Natürlich, es gibt Probleme mit Armutszuwanderern, die man nicht ignorieren darf und die man sinnvoll angehen sollte, um die Entstehung von rechtsfreien Räumen wie beispielsweise Duisburg-Rheinhausen. Doch von diesen Zuwanderern ist hier nicht die Rede. Es geht um jene Menschen, die alles riskieren, um nach Europa zu kommen – auch ihr eigenes Leben.

Was ist es, das den Deutschen solche Angst macht vor jenen Menschen, die alles riskieren, nur um ein besseres Leben zu leben? Haben wir etwa Angst um unser Geld? Unser Geld ist ständig in Gefahr, aber hauptsächlich von anderer Seite: Während der Staat Milliarden irgendwo im Nirgendwo der Bürokratie versickern lässt, reden alle möglichen Parteien wieder über Steuererhöhungen – bis auf die kürzlich verstorbene FDP. Es geht um Geld, das da ist, ohne sinnvoll eingesetzt zu werden. In einem Land, dessen Wirtschaft wächst, in dem aber zu wenig investiert wird. Und wo es schon an innereuropäischer Solidarität (z.B. mit Griechenland) in der Bevölkerung fehlt, da hat man auch keinen Nerv für Syrer und Afrikaner.
Dabei ist der „Neid“ auf die Asylbewerber, denen man aus reiner Nächstenliebe Geld zu geben scheint, völlig unbegründet. Die Realität ist hart: Bis vor kurzem war das, was ein Asylbewerber in Deutschland bekam, weit unter dem Hartz-IV-Satz. Vielerorts bekamen diese Menschen sogar nur auf Landkreise beschränkte Aufenthaltsgenehmigungen und konnten auf diese Weise oft nicht von der Provinz in die nächstgrößere Stadt fahren. Größere Lager für Asylbewerber liegen meist außerhalb der dicht bevölkerten Ballungsräume, weit abgelegen von der Masse der Bevölkerung. Ein Beispiel hierfür ist das Lager Horst in Mecklenburg-Vorpommern, wo Hamburg seine Flüchtlinge „auslagert“. Oft gibt es in solchen Unterkünften keine Deutschkurse, eine Arbeitserlaubnis schon gar nicht – geduldet, nicht akzeptiert. Ein Leben in Würde? Fehlanzeige. Soll sich ein Asylbewerber etwa langweilen, während er auf das Ende des Krieges in seiner Heimat wartet? Außerdem darf man nicht vergessen, dass manchmal ganze Familien nach Deutschland kommen, Familien mit Kindern. Die sind dann auf das Engagement örtlicher Grundschullehrer und –lehrerinnen angewiesen, um im Unterricht einigermaßen folgen zu können. Schulpflicht gilt in Deutschland schließlich für alle Menschen. Eine Willkommenskultur gab es nie, nicht einmal für Menschen, die in ihrer Heimat ihr Zuhause verloren haben und nur als Gäste nach Deutschland kamen, ohne für immer bleiben zu wollen.

Können wir wirklich ruhig schlafen, während hunderte Menschen vor jenen Küsten ertrinken, an denen wir bevorzugt Urlaub machen? Und das nur, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen und die legalen Mittel dazu nicht ausreichen? Manche Flüchtlinge sitzen jahrelang in einem nordafrikanischen Land fest, haben kein Geld fürs Weiterkommen. Zurückkehren können sie auch nicht, denn die Familie hat oft ihr komplettes Vermögen investiert, damit ein junger Mann oder eine Frau die lange Reise nach Europa antreten kann. Wer sein Gesicht und seine Ehre nicht verlieren will, der steigt in die klapprige Nussschale und lässt sich irgendwo vor der Küste im vermeintlich flachen Wasser aussetzen. Manche schwimmen ans Ufer, andere ertrinken, weil sie von den mehreren Lagen Kleidung, die gegen die Kälte helfen soll, nach unten gezogen werden. Und dann gibt es welche, die verbrennen auf einem in Seenot geratenen Boot, weil irgendjemand Fackeln angezündet hat, um die Küstenwache auf sich aufmerksam zu machen…

Dabei sind die Deutschen normalerweise kein gefühlskaltes Volk – und sie sollten sich auch nicht durch Schreckensszenarien eines überfremdeten, wirtschaftlich zerstörten Deutschland dazu verleiten lassen, eines zu werden. Deutschland ist stark und kann solidarisch sein. Nach dem Horror-Tsunami 2004 haben tausende Familien auf ihr Silvesterfeuerwerk verzichtet und das Geld stattdessen den Opfern gespendet. Das ist nicht schwer und wir wissen doch alle, wie es geht.
Und wo man ins Gespräch kommt mit denjenigen, die ihr Schicksal in die Hände von tunesischen Schleppern gelegt haben, da zeigt man durchaus Verständnis und überwindet Unterschiede. Wo Asylanten Theaterstücke aufführen, da kommt man ins Gespräch, wo Kirchengemeinden bei Behördengängen helfen und hilfsbereite Menschen den Bedürftigen ein Quartier bieten, da zerfällt das Schreckensbild des anonymen und mutmaßlich kriminellen Asylbewerbers. Zahlreiche Kirchen und auch Moscheen in St. Pauli haben schon im August Flüchtlinge aufgenommen und tragen ihrerseits dazu bei, dass Menschen den nötigen Beistand bekommen. Die wirkliche Begegnung ist viel stärker als die populistische Panikmache, der man nur zu oft zu folgen verleitet ist.

Deutschland zeigt sehr wohl Mitgefühl. Die Stuttgarter Zeitung schrieb, dass die Opfer von Lampedusa auch unsere Toten seien. Doch auch die Politik muss ihren Beitrag leisten. Ein Asylbewerber hat eine recht geringe Chance, in Deutschland bleiben zu dürfen. Im Jahr 2011 wurden 84% der Anträge auf Asyl abgelehnt. Europa muss endlich beginnen, seine Werte nicht nur gegen Terroristen, Kommunisten und Kapitalisten zu verteidigen, sondern in erster Linie gegen seinen inneren Schweinehund. Denn um dem Elend rund um das Mittelmeer ein Ende zu machen würde es vielleicht schon genügen, die legalen Wege für Flüchtlinge einfacher zugänglich zu machen. 


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