Es gibt zu viele Flüchtlinge, sagen die
Menschen.
Es gibt zu wenig Menschen, sagen die
Flüchtlinge.
(Ernst Ferstl)
Vor Lampedusa ist es wieder passiert. Nicht
anders als sonst, nur mit mehr Opfern, die man nach und nach aus dem Mittelmeer
fischt. So viele Opfer, dass man sie nicht mehr ignorieren kann. Diskussionen
werden geführt, die Politik will sich jedoch nicht beeindrucken lassen.
Deutschland nehme genug Flüchtlinge auf, Italien solle sich um „seine Flüchtlinge“
gefälligst selbst kümmern, heißt es.
Deutschland hat im vergangenen Jahr 65.000
Flüchtlinge aufgenommen. Das ist eine natürlich eine ganze Menge. Und doch gibt
es so etwas wie eine Willkommenskultur nicht, weder für diejenigen, die schon
seit Jahrzehnten hier sind, noch für die Migranten der letzten Jahre oder gar
für Flüchtlinge. Allein beim Klang dieses neudeutschen Wortes geht so manchem
Nationaldemokraten wohl das Messer in der Tasche auf. In Berlin-Hellersdorf
marschierten die Rechten auf, um gegen die Aufnahme von Asylanten zu
demonstrieren. Die NPD ließ vor der Wahl in ihrem Programm verlauten: „Das weltweit einzigartige Asylrecht der
Bundesrepublik Deutschland hat nicht nur zu einem Mißbrauch in unvorstellbarem
Ausmaß geführt, sondern auch zu einer Belastung der Staatsausgaben in
Milliardenhöhe.“ Deshalb solle man das Grundrecht auf Asyl aus dem
Grundgesetz streichen. Doch nicht nur die Rechten haben die Nase voll: In jedem
Ort, in dem ein Wohnheim für Asylbewerber eingerichtet werden soll, fürchten
die Menschen um ihre Sicherheit. „Wer soll unsere Frauen beschützen?“ ist eine
der wohl beschämendsten Fragen, die bei Bürgerversammlungen auftauchen. Wir
erinnern uns an die 1990er Jahre, als man allen Statistiken zum Trotz Panik
unter den Bürgern dieses Landes schürte mit Parolen wie „Das Boot ist voll!“ –
Eine ähnliche Stimmung kommt heute wieder auf, während sich Vorpommern und
Brandenburg langsam entvölkern und die echten Boote im Mittelmeer zumeist
unbeachtet sinken. Angeheizt wird die Stimmung von den Bildern raubender
Zigeunerbanden, die durch deutsche Großstädte ziehen. Natürlich, es gibt
Probleme mit Armutszuwanderern, die man nicht ignorieren darf und die man
sinnvoll angehen sollte, um die Entstehung von rechtsfreien Räumen wie beispielsweise
Duisburg-Rheinhausen. Doch von diesen Zuwanderern ist hier nicht die Rede. Es
geht um jene Menschen, die alles riskieren, um nach Europa zu kommen – auch ihr
eigenes Leben.
Was ist es, das den Deutschen solche Angst
macht vor jenen Menschen, die alles riskieren, nur um ein besseres Leben zu
leben? Haben wir etwa Angst um unser Geld? Unser Geld ist ständig in Gefahr,
aber hauptsächlich von anderer Seite: Während der Staat Milliarden irgendwo im
Nirgendwo der Bürokratie versickern lässt, reden alle möglichen Parteien wieder
über Steuererhöhungen – bis auf die kürzlich verstorbene FDP. Es geht um Geld,
das da ist, ohne sinnvoll eingesetzt zu werden. In einem Land, dessen
Wirtschaft wächst, in dem aber zu wenig investiert wird. Und wo es schon an
innereuropäischer Solidarität (z.B. mit Griechenland) in der Bevölkerung fehlt,
da hat man auch keinen Nerv für Syrer und Afrikaner.
Dabei ist der „Neid“ auf die Asylbewerber,
denen man aus reiner Nächstenliebe Geld zu geben scheint, völlig unbegründet.
Die Realität ist hart: Bis vor kurzem war das, was ein Asylbewerber in
Deutschland bekam, weit unter dem Hartz-IV-Satz. Vielerorts bekamen diese
Menschen sogar nur auf Landkreise beschränkte Aufenthaltsgenehmigungen und
konnten auf diese Weise oft nicht von der Provinz in die nächstgrößere Stadt
fahren. Größere Lager für Asylbewerber liegen meist außerhalb der dicht
bevölkerten Ballungsräume, weit abgelegen von der Masse der Bevölkerung. Ein
Beispiel hierfür ist das Lager Horst in Mecklenburg-Vorpommern, wo Hamburg
seine Flüchtlinge „auslagert“. Oft gibt es in solchen Unterkünften keine
Deutschkurse, eine Arbeitserlaubnis schon gar nicht – geduldet, nicht akzeptiert.
Ein Leben in Würde? Fehlanzeige. Soll sich ein Asylbewerber etwa langweilen,
während er auf das Ende des Krieges in seiner Heimat wartet? Außerdem darf man
nicht vergessen, dass manchmal ganze Familien nach Deutschland kommen, Familien
mit Kindern. Die sind dann auf das Engagement örtlicher Grundschullehrer und
–lehrerinnen angewiesen, um im Unterricht einigermaßen folgen zu können.
Schulpflicht gilt in Deutschland schließlich für alle Menschen. Eine
Willkommenskultur gab es nie, nicht einmal für Menschen, die in ihrer Heimat
ihr Zuhause verloren haben und nur als Gäste nach Deutschland kamen, ohne für
immer bleiben zu wollen.
Können wir wirklich ruhig schlafen, während
hunderte Menschen vor jenen Küsten ertrinken, an denen wir bevorzugt Urlaub
machen? Und das nur, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen und die legalen
Mittel dazu nicht ausreichen? Manche Flüchtlinge sitzen jahrelang in einem
nordafrikanischen Land fest, haben kein Geld fürs Weiterkommen. Zurückkehren
können sie auch nicht, denn die Familie hat oft ihr komplettes Vermögen
investiert, damit ein junger Mann oder eine Frau die lange Reise nach Europa
antreten kann. Wer sein Gesicht und seine Ehre nicht verlieren will, der steigt
in die klapprige Nussschale und lässt sich irgendwo vor der Küste im
vermeintlich flachen Wasser aussetzen. Manche schwimmen ans Ufer, andere
ertrinken, weil sie von den mehreren Lagen Kleidung, die gegen die Kälte helfen
soll, nach unten gezogen werden. Und dann gibt es welche, die verbrennen auf
einem in Seenot geratenen Boot, weil irgendjemand Fackeln angezündet hat, um
die Küstenwache auf sich aufmerksam zu machen…
Dabei sind die Deutschen normalerweise kein
gefühlskaltes Volk – und sie sollten sich auch nicht durch Schreckensszenarien
eines überfremdeten, wirtschaftlich zerstörten Deutschland dazu verleiten
lassen, eines zu werden. Deutschland ist stark und kann solidarisch sein. Nach
dem Horror-Tsunami 2004 haben tausende Familien auf ihr Silvesterfeuerwerk
verzichtet und das Geld stattdessen den Opfern gespendet. Das ist nicht schwer
und wir wissen doch alle, wie es geht.
Und wo man ins Gespräch kommt mit denjenigen, die
ihr Schicksal in die Hände von tunesischen Schleppern gelegt haben, da zeigt
man durchaus Verständnis und überwindet Unterschiede. Wo Asylanten
Theaterstücke aufführen, da kommt man ins Gespräch, wo Kirchengemeinden bei
Behördengängen helfen und hilfsbereite Menschen den Bedürftigen ein Quartier
bieten, da zerfällt das Schreckensbild des anonymen und mutmaßlich kriminellen Asylbewerbers.
Zahlreiche Kirchen und auch Moscheen in St. Pauli haben schon im August
Flüchtlinge aufgenommen und tragen ihrerseits dazu bei, dass Menschen den
nötigen Beistand bekommen. Die wirkliche Begegnung ist viel stärker als die populistische
Panikmache, der man nur zu oft zu folgen verleitet ist.
Deutschland zeigt sehr wohl Mitgefühl. Die
Stuttgarter Zeitung schrieb, dass die Opfer von Lampedusa auch unsere Toten
seien. Doch auch die Politik muss ihren Beitrag leisten. Ein Asylbewerber hat eine
recht geringe Chance, in Deutschland bleiben zu dürfen. Im Jahr 2011 wurden 84%
der Anträge auf Asyl abgelehnt. Europa muss endlich beginnen, seine Werte nicht
nur gegen Terroristen, Kommunisten und Kapitalisten zu verteidigen, sondern in
erster Linie gegen seinen inneren Schweinehund. Denn um dem Elend rund um das
Mittelmeer ein Ende zu machen würde es vielleicht schon genügen, die legalen
Wege für Flüchtlinge einfacher zugänglich zu machen.
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