Montag, 21. Juli 2014

Realität des Krieges

Ich selbst habe in meinem Leben nur einmal einen Blick auf Gaza werfen können, aus der Ferne. Damals im Jahr 2010 herrschte relative Ruhe in dem dicht besiedelten Küstenstreifen. Wenn ich also etwas über die Realität des aktuellen Krieges schreiben will, muss ich mich auf die Berichte Anderer stützen. Das birgt spezielle Risiken, ist aber die einzige Möglichkeit, das Leiden auf der anderen Seite des Mittelmeers nicht komplett zu ignorieren.
Wie fühlt es sich an, wenn man in einem Kriegsgebiet lebt? In diesen Tagen erlebt Gaza eine Welle unbarmherziger Angriffe vonseiten der israelischen Armee. Währenddessen schießen Hamas-Kämpfer weiterhin Raketen auf Israel ab. Mittlerweile wurden zwei israelische Zivilisten getötet, die Zahl der Toten auf palästinensischer Seite geht in die Hunderte.

Jürgen Todenhöfer ist ein 73jähriger Publizist aus Süddeutschland.[1] Er berichtete im Morgenmagazin der ARD am 18. Juli live über die Zustände in dem isolierten Stückchen Land, die ihn sichtlich schockierten. Todenhöfer erzählte von überfüllten Krankenhäusern, hilflosen Menschen und unsäglichen Zuständen. Er war sich auch sicher: Die Bodenoffensive würde nicht dazu führen, dass die Hamas zusammenbreche, „aber es bricht das kleine Volk von Gaza zusammen, das dort in einem Käfig auf dem engsten Flecken der Welt lebt.“ Auch der Fotojournalist Tyler Hicks berichtet aus Gaza, wo er sich immer noch aufhält. In einem seiner Berichte für die New York Times beschreibt er den Morgen, an dem vier kleine Jungen an einem Strand von israelischem Feuer getötet worden waren. Darin wird ziemlich deutlich, wie sich die Lage in Gaza im Moment gestaltet: Es kann jeden treffen, eigentlich immer. Hicks schreibt: „Es gibt zurzeit keinen sicheren Ort in Gaza. Bomben können jederzeit irgendwo landen. Eine kleine Wellblechhütte ohne Strom oder fließendes Wasser auf der Hafenmole in der brennenden Küstensonne sieht nicht aus wie die Art von Standort, den Hamas-Kämpfer, die vorgesehenen Ziele der Israeli Defense Forces, aufsuchen würden. Kinder, vielleicht ein Meter Zwanzig groß, in Sommerklamotten, die vor einer Explosion wegrennen, passen ebenfalls nicht auf das Profil eines Hamas-Kämpfers.“ Und genau einen Tag später ist es wieder passiert. Dylan Collins, dessen Fotos bei VICE zu sehen sind, war in Gaza, als eine Familie drei Kinder verlor. Wissam, Jihad und Fulla spielten auf dem Dach, als sie getötet wurden. Collins schreibt: „Die Familie hat mir erzählt, dass diese drei Kinder zuhause auf dem Dach spielten (kurz nach dem Ende der Feuerpause), als eine israelische Drohne ein knock-on-the-roof-Geschoss [„aufs Dach klopfen“] auf das Haus fallen ließ, um die Bewohner vor dem bevorstehenden eigentlichen Luftschlag zu warnen. Das „Anklopfen“ tötete alle drei.

Auch in Israel gibt es eine Realität des Krieges. Und wahrscheinlich wird diese Realität von europäischen Staatsoberhäuptern deshalb eher zur Kenntnis genommen, weil wir uns in die Situation der Israelis leichter hineinversetzen können. Unser Verständnis wird geweckt, wenn man uns in staatlichen Propagandavideos zeigt, wie kurz 15 Sekunden auf dem Weg in den Schutzraum sein können für eine gebrechliche Großmutter oder eine Gruppe fußballspielender Jungen. Wir können nachvollziehen, dass sich ein Land, das scheinbar unserem gleich ist, gegen Terroristen wehren muss. Wir würden schließlich genauso handeln, wenn aus der Schweiz plötzlich Beschuss käme, denken wir. Israel hat deshalb unsere volle Unterstützung. Und viele von uns fühlen mit den zahllosen Soldaten, die ihre Kameradinnen und Kameraden an den frischen Gräbern betrauern. Junge Menschen, kaum 20 Jahre alt, müssen in den Krieg ziehen - und das ist schrecklich.
Vielleicht fehlt aber genau aus diesem Grund bei vielen Deutschen - vor allem aber in der Politik - das bedingungslose Mitgefühl für die andere Seite: Wir können uns nicht hineinversetzen in Menschen, die seit fast zehn Jahren in engster Isolation leben. Menschen, deren einziger Freund in Jahren der Abschottung die Hamas war. Kein allzu guter Freund, aber immerhin jemand, der die Zügel in die Hand nahm. Und in nächster Nachbarschaft zu diesem Verbündeten lebt man nun, bis ein nächtlicher Bombenangriff den ganzen Straßenzug vernichtet und Hamas oder nicht Hamas plötzlich keine Rolle mehr spielt. Wir sehen, dass eine ganze Generation vom Hass gegen Israel zerfressen wird und unterstützen Israel beim Kampf gegen diese Menschen, obwohl ein Kampf gegen diesen Hass das wahre Heilmittel wäre. Hier bei uns geht alles geordnet zu, ebenso wie in Israel - und darum können wir uns am besten hineinfühlen in die Rolle des souveränen Staates, der von einem Haufen Terroristen angegriffen wird und sich gegen diese Attacken zur Wehr setzt. Eine jahrelang anhaltende Ausnahmesituation, wie sie die Menschen in Gaza erleben, ist uns fremd und daher unzugänglich.

Die Frage ist nicht: Wer hat Schuld?
Wer hatte Schuld in den Jahren 1948 oder 1967? Oder bei der letzten Intifada im Jahr 2000? Wer hat die letzten Feuerpausen in Gaza gebrochen, wer hat als erster wieder den Beschuss aufgenommen?
Nein! Die Frage ist vielmehr: Wie können wir jetzt unmittelbar und unverzüglich weiteres Blutvergießen beenden?
Erst wenn die Waffen ruhen und die Straßen frei sind, wird der Weg zu neuen Gesprächen geebnet. Denn - bei allem Respekt - um diese Gespräche kommt niemand herum.



[1] Anmerkung: Der oben erwähnte Jürgen Todenhöfer gehört zu jenen Menschen, deren Facebook-Posts ich häufig kritisiere. Zu oft vertritt er meines Erachtens subjektive anti-westliche Sichtweisen und des Öfteren habe ich mich gefragt, ob man ihn noch ernstnehmen könne. Doch ich habe Respekt vor Journalisten, die unter Lebensgefahr durch Tunnel nach Gaza hineinkriechen, um sich ein Bild von der Situation zu machen - und zu denen gehört auch Todenhöfer.


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