Sonntag, 28. Dezember 2014

Friedrich, Deutschland und Pegida

Es freut mich ja, wenn unsere eiserne, unbeugsame und alternativlose Kanzlerin auch aus den eigenen Reihen mal Kritik zu hören bekommt – allerdings nicht unbedingt von Peter Friedrich! Dieser macht nämlich den scheinbar zu linken Kurs der CDU mitverantwortlich für den aktuellen Pegida-Höhenflug und meint: „Ich glaube, dass wir in der Vergangenheit mit der Frage nach der Identität unseres Volkes und unserer Nation zu leichtfertig umgegangen sind.“ Zur doppelten Staatsbürgerschaft (für Türken in Deutschland) hat er zu sagen: „Natürlich war die Zustimmung zur doppelten Staatsangehörigkeit ein Fehler. Gerade in einer Zeit, in der die Menschen wieder nach kultureller Identität, Heimat und Zusammenhalt fragen, ist der leichtfertige Umgang mit der Staatsbürgerschaft falsch.
Fragen die Menschen wirklich wieder nach kultureller Identität, Heimat und Zusammenhalt? Und wenn ja, warum?! Die Deutschen gehen wie Jahre und Jahrzehnte zuvor auf Weihnachtsmärkte, die in keiner einzigen deutschen Stadt in „Jahresabschlussmärkte“ umbenannt wurden. Ob Christ/-in oder nicht, gefühlt hat jede/-r zweite Facebook-Nutzer/-in mindestens ein kitschiges Foto gepostet, auf dem irgendwelche Weihnachtsaccessoires zu sehen sind. Die Deutschen sind Weltmeister und haben im Sommer eine riesige Party in Schwarz-Rot-Gold auf den Straßen gefeiert. Deutschland ist seit November offiziell das beliebteste Land der Welt. Natürlich geht es in diesem Land auch einigen Menschen ziemlich sche*ße, aber alles in allem haben wir eine souveräne Grundlage, auf die wir aufbauen können. Wieso um alles in der Welt sucht der/die durchschnittliche Deutsche plötzlich nach mehr Identität, mehr Heimat, mehr Zusammenhalt? Ist das, was wir haben, nicht schon eine ganze Menge?
Vielleicht stellt sich heute gar nicht die Frage, wie viel „Fremdes“ eine Gesellschaft verträgt, sondern wie viel „Nation“ eine Gesellschaft ertragen kann, bevor es zu bleibende Schäden kommt. Doch in unseren Tagen gehen immer mehr „besorgte Deutsche“, die angeblich der „bürgerlichen Mitte“ entstammen, auf die Straße und vertreten Thesen wie „Für mich ist es völlig unerheblich, ob es denHolocaust gegeben hat. Das ist 70 Jahre her!“ – Zur Erinnerung: Im März 1933 wurde die NSDAP von 43,9% des Volkes demokratisch an die Macht gewählt. Damals waren (nur) etwas mehr als 9% der Bevölkerung arbeitslos. Dies offenbart, was oft übersehen wird: Hitlers Wahlsieg wurde von großen Teilen der „bürgerlichen Mitte“ getragen. – Vielleicht ist das auch der Grund, wieso uns unser deutsches Schulsystem und die von Pegida & Co. als „Lügenpresse“ bezeichneten Medien zu Recht immer wieder daran erinnern, was zwischen 1933 und 1945 passiert ist.

Montag, 22. Dezember 2014

Zweite Bogida-Demo in Bonn

Oh, Du friedliche Weihnachtszeit…! Heute, am 22. Dezember 2014, fand die zweite Bogida-Demonstration in Bonn statt. Wahrscheinlich ist dies der Anfang einer Reihe von Veranstaltungen gegen Islamismus und die „Islamisierung des Abendlandes“. Man darf sich also – wie in so vielen deutschen Großstädten – auf mehr gefasst machen.


Es waren angeblich über 2.500 Gegendemonstranten,die sich vor dem Rathaus auf dem Bonner Marktplatz versammelten. Anders als letzte Woche war man sich näher, stand sich Auge in Auge gegenüber. Wie angekündigt waren rechte Demonstranten eigens aus dem Saarland angereist. „Saarländer gegen Salafisten“ konnte man auf einem Plakat lesen, hinter dem sich Kahlköpfe mit Deutschlandflaggen postiert hatten. Zu Beginn und am Ende präsentierten die Rechten ihre Redner. Die Stimmung war aufgeheizt, meist gelang es, die Worte von Initiatorin Melanie Dittmer, einer stadtbekannten Persönlichkeit der rechten Szene, zu übertönen. Ein mehr oder weniger prominenter Gast war Udo Ulfkotte, ehemaliger FAZ-Reporter und Politikwissenschaftler, der in der Vergangenheit schon oft wegen islamfeindlicher Haltungen aufgetreten ist und den rechtspopulistischen Verein Pax Europa mitbegründet hat. Von den verschiedenen Rednern gab es wieder die gewohnten Fakten zum gewohnten Zweck: "Es wurden über 3.000 Moscheen gebaut!" - "Asylbewerber machen hier Urlaub!" - "Die Politiker wollen Deutschland islamisieren."


Diese Woche dominierten Hooligans und kahl rasierte Köpfe unter den 250 Teilnehmern, doch auch die eine oder andere Großmutter war unter den Bogida-Demonstranten. Eine von ihnen streckte den lauten Gegendemonstranten ein Plakat entgegen, das über die Bösartigkeit des Islam aufklärte, man winkte sich höhnisch zu und würdigte sich mit Stinkefingern. Ein Nazi drehte durch und wurde abgeführt, ein paar Antifas warfen mit Plastikbechern. Doch dann setzte sich der Zug in Bewegung und den Rechten gelang es dieses Mal tatsächlich, ihren „Abendspaziergang“ zu vollführen. Die Straßen waren gesäumt von Polizeisperren und Uniformierten mit Helmen, laut vorherigen Berichten waren 900 Polizisten im Einsatz. Jenseits der Sperren warteten die gegendemonstrierenden Hundertschaften mit Pfiffen und Sprechchören, sogar aus den Fenstern der umliegenden Häuser kam das eine oder andere Plakat.


Auch anderswo in Deutschland kam es heute zu Demonstrationen. Allerdings sieht es nicht überall gut aus für den Widerstand gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus: In Dresden zum Beispiel konnten sich gegen 17.500 Pegida-Demonstranten nur 4.300 Bürger_innen mobilisieren. Die Rechten haben gegenüber letzter Woche einen Zulauf erfahren. In München gingen aber immerhin 12.000 Menschen gegen die Pegida-Bewegung auf die Straße. Höchstwahrscheinlich wird die Welle des Ausländerhasses und der Islamfeindlichkeit uns auch nächstes Jahr begleiten. Doch die Bonner Bogida hat durch ihre kahlköpfigen Unterstützer ein für alle Mal klargemacht, wo sie zu verordnen ist – am äußeren rechten Rand dieser Stadt.


Bericht zur ersten Bogida-Demo: hier.

Samstag, 20. Dezember 2014

Rheinländische Weihnacht

Weihnachtsmärkte sind der perfekte Ort, um das alltägliche Elend, das einen in diesem Jahr stetig begleitet hat, eine kurze Weile zu vergessen. Sicherlich, um an Glühwein-, Bratwurst- und Crêpes-Ständen satt zu werden ist ein gewisses finanzielles Polster von Nöten. Aber wenn man das einmal außer Acht lässt sind Weihnachtsmärkte einfach nur schön. Wo sonst findet man bunte Vogelhäuschen, Himbeerseife und Lángos auf einem Fleck? Wo könnte man sonst dem Lachs zusehen, wie er – mit mittelalterlichen Metallstiften an grobe Holzbretter genagelt – vor sich hin räuchert? Kunst und Kitsch erfreuen das Auge, Brauchbares und Unbrauchbares findet seinen Weg in die Einkaufstüte, bis die Liste mit den Namen der zu Beschenkenden nach und nach mit Häkchen abgearbeitet ist. Jung und alt erwärmt sich am Glühwein, während die sprechenden Hirsche auf dem Dach versuchen, die bayerische Sprache zu imitieren oder die Trinkenden mit den nervigsten Weihnachtsliedern anzulocken.
Es ist aber mal wieder an der Zeit für ein paar Fotos aus Bonn. Weihnachtsmärkte ähneln sich überall, und dennoch hat jede Stadt ihren eigenen Style, wie sie eben auch ihren eigenen Charme hat.

Das typischste aller Bilder von jedem Weihnachtsmarkt: Bunte Herzen, allesamt essbar, aber schwer verdaulich...

Der Bonner Weihnachtsmarkt bietet sogar ein Riesenrad.

Dom und Weihnachtspyramide in Großformat.

Zum Schluss noch ein Ausflug nach Köln mit einem Bild der Krippe im Dom, die ich irgendwie sehenswert fand. Jesus und seine Family sind allerdings irgendwo rechts versteckt, dafür sehen wir in der Mitte unten auch einen netten „Weihnachtsmarkt“.


Montag, 15. Dezember 2014

Demo und Gegendemo in Bonn

Was wäre ein Montag ohne Demonstrationen? Das haben sich auch ein paar Zeitgenossen aus der oft beschworenen bürgerlichen Mitte gedacht und im Namen von Bogida („Bonn gegen Islamismus in Deutschland und im Abendland“) einen sogenannten „Abendspaziergang“ organisiert. Angemeldet waren 500 Teilnehmer für 18.30 Uhr, doch mit dem Spaziergang wurde es nichts, denn „Bonn stellt sich quer“ stellte sich erfolgreich in den Weg. Um zwanzig vor sieben wird der Spaziergang abgesagt und stattdessen gibt es ein paar Redebeiträge: „Seit 1945 kamen 600.000 Muslime in unser Land!“ – „Moscheen!“ – „Frauen!“ – „Wir sind das Volk!“ – Das Übliche eben.

Bevor die beiden Demos losgingen, konnte man noch unbehelligt zwischen den Polizeireihen hindurch diffundieren und von den Gewerkschaften, Parteien, Kirchen und Antifas hinüberwechseln zu den Verteidigern der deutschen Weltordnung. Ab und zu traf man aber auf ein paar wackere Großmütter, die sich den Weg zur Bogida erfragten. Die Bonner Bürgerschaft teilte sich mit der Zeit je einer der beiden Seiten zu. Wie vermutet waren die Personen mit Deutschlandfahnen in der Unterzahl. Am Rande der anfangs noch recht mickrigen Truppe diskutierte man schon über das N-Wort. „Nein, das sind doch keine Nazis!“, argumentiert ein angegrauter Herr. – „Ja, was sind Sie dann?“, wird er direkt angesprochen. – „Ich? Ich gehöre da gar nicht dazu! Ich beobachte nur.“ Fast will man den beiden entgegenrufen: Nazis sagt man doch heute nicht mehr! Das sind doch lediglich treue Nationaldemokraten. Und AfD-Professoren natürlich.


Zurück zur Ernsthaftigkeit, denn ernst ist die Lage ganz sicher. Die ganze Pegida-, Bogida- oder Dügida-Debatte führt uns eines vor Augen: Möglicherweise demonstriert hier tatsächlich nur die bürgerliche Mitte. Hatte nicht 1933 niemand anderer das große Unheil heraufgewählt als eben die Durchschnittsbürger/-innen ihrer Zeit? Ausländerfeindlichkeit, Islamophobie, Antisemitismus und vor allem das Misstrauen gegenüber Asylbewerbern finden sich in der Mitte der Gesellschaft, nicht seltener und nicht weniger als anderswo.

Glücklicherweise gibt es noch einen weit größeren Teil, der sich dem entgegenstellt. Auch wenn sich nicht jeder mit den „Nie wieder Deutschland!“-Rufen der antideutschen extremen Linken identifizieren kann, so kann man doch sagen, dass am Montag in Bonn ein befriedigendes Zeichen gegen Rechts gesetzt wurde. Mit Musik und vor allem mit viel Lärm wurden die Redner der Gegenseite übertönt, mit Menschenmassen wurde die rechte Demo eingekesselt. Bonn kriegen sie nicht.

Gegendemonstrantion in Bahnhofsnähe.
Da wäre aber noch etwas anderes. Ich habe mich ungefähr zwei Sekunden lang gefragt, was es denn zu bedeuten hätte, dass neben Plakaten mit der Forderung „Stoppt die Islamisierung Europas!“ eine norwegische Flagge auftaucht. Und die Antwort darauf offenbart, dass der patriotische Teil der bürgerlichen Mitte keine Skrupel hat, sich mit einem Mann zu identifizieren, der am 22. Juli 2011 den Kampf gegen die „Islamisierung“ begann und kaltblütig 77 Menschen massakrierte. Wenn das mal nicht einiges über diese neue abendlandsbesessene Bewegung aussagt...

Klarstellung und Anmerkung vom 21. Dezember: Norwegische Flaggen werden auf rechten Demos schon seit Jahren verwendet, nicht erst seit den Attentaten von Breivik. Norwegen ist ein besonders tolerantes und offenes Land, gilt bei europäischen Nationalisten jedoch als jenes Land, in dem sich bis heute die "arische Rasse" am reinsten erhalten hat. Es besteht natürlich noch eine zweite Möglichkeit, nämlich dass es sich dabei nicht um eine norwegische Flagge gehandelt hat, sondern um jenen Entwurf, der 1948 als Vorschlag zur neuen deutschen Flagge eingereicht wurde. In diesem Fall war es kein blaues Kreuz (wie das auf der norwegischen Flagge), sondern ein schwarzes. Diese "alternative" deutsche Flagge wird gerade auf solchen "patriotischen" Demonstrationen oft gern gezeigt.

Freitag, 12. Dezember 2014

"Sie sind überall!" - Faktencheck und nachdenkliches Kopfschütteln

Der Spiegel macht den Faktencheck zu Behauptungen der Pegida („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“), widerlegt falsche Behauptungen und uralte Ressentiments. Sogar GMX fragt: „Was ist dran an den Vorurteilen?“ So stellt man sich den neuen alten Ängsten derjenigen, die von sich selbst behaupten, aus der Mitte der Gesellschaft zu kommen. Die Zeitungen und Magazine schreiben angestrengt gegen jene Kräfte an, die in Dresden kürzlich 19.000 „besorgte Bürger“ mobilisieren konnten, um gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ zu demonstrieren. Zumindest versuchen sie es.
Doch wo schreiben hoffnungslos erscheint, muss man fragen: Was treibt diese Menschen an? Woher kommt die Angst – und wie kann man ihr begegnen?

Die immer gleichen Vorurteile

Die gängigsten Vorurteile und Behauptungen lassen sich mittlerweile sogar mit Statistiken und in Stein gemeißelten Zahlen widerlegen. Dass Zuwanderung den fleißigen Deutschen nur Geld kosten würde, hat eine Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) als falsch erwiesen: Die 6,6 Millionen Menschen ohne deutschen Pass haben im Jahr 2012 für einen Überschuss von rund 22 Milliarden Euro gesorgt. Jeder Ausländer und jede Ausländerin zahlt pro Jahr etwa 3.300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben, als er oder sie an staatlichen Leistungen erhält.
Nun gut, aber kriminell ist der Ausländer an und für sich ja doch, oder? Wieder falsch. Die polizeiliche Kriminalstatistik (ebenfalls 2012) offenbart, dass nur jeder vierte Tatverdächtige keinen deutschen Pass hat – darin inbegriffen Touristen und aus dem Ausland agierende Banden.

Das älteste aller Vorurteile müsste heutzutage eigentlich gar nicht mehr thematisiert werden, gäbe es nicht einige Hetzer und ihre ungebildeten Fußsoldaten, die immer noch an das Märchen von der weggenommenen Arbeit glauben: Ausländer nehmen den fleißigen Deutschen die Arbeitsplätze weg. – Die Zahlen sprechen auch hier eine andere Sprache, der Mangel an Fachkräften und die Vielzahl unbesetzter Lehrstellen in vielen Regionen Deutschlands untermauern die Statistik. Währenddessen arbeiten studierte Iraner mitunter als Taxifahrer in Köln oder München, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden.
Aber wenn wir ehrlich sind, hat „der Ausländer“ immer nur die Drecksarbeit gemacht – und wurde genauso behandelt wie das, was er wegputzen musste. Wer sich an die Achtziger und Günter Wallraffs „Ganz unten“ (1985) nicht mehr erinnern kann, der sei an dieser Stelle auf die entsprechenden Links verwiesen.

„Sie sind überall“

Wer mit dem Jargon der extremen Rechten vertraut ist, dem muss jedes Mal ein Schauer über den Rücken laufen, wenn er Stimmen aus der Mitte der Gesellschaft mit dem Begriff „Überfremdung“ jonglieren hört. Was bitte soll man darunter verstehen? Von Überfremdung singen „national gesinnte“ Liedermacher mit weinerlicher Stimme, gegen die Überfremdung schreien neubraune Führer in Bierzelten auf NPD-Kinderfesten an – aber in der bürgerlichen Mitte hat diese Sprache nichts verloren, nicht zuletzt weil die Aussage, die dahinter steht, grober Unfug ist. Wenn sich ein ganzes Land fremd wird, dann hat es größere Probleme als die Zuwanderung.

Die Diskussion um Zuwanderung, Integration und Migranten hält mittlerweile schon zu viele Jahre an, ohne wirklich Ergebnisse zu liefern. Bei den zuvor genannten Vorurteilen und den dazugehörigen Diskussionen am sprichwörtlichen Stammtisch geht es in Wirklichkeit nicht um Tatsachen – auch nicht beim Thema Muslime. Es geht um subjektives Empfinden. Denn Fakt ist: Muslime machen in Deutschlands gerade einmal um die 5 Prozent der Bevölkerung aus. Eine verschwindend kleine Minderheit, vor der das deutsche Abendland eigentlich keine Angst zu haben braucht. Doch fragt man jenen Teil der Bevölkerung, der Angst vor „dem Islam“ hat, so wird der Anteil der Muslime um ein Vielfaches höher eingeschätzt. Dieses Phänomen gibt es nicht nur in Deutschland, sondern überall, wo Einwanderer ankommen und sich ins alltägliche Stadtbild integrieren. So wird z.B. auch in Großbritannien der prozentuale Anteil von Muslimen und Ausländern zu hoch eingeschätzt.
Die Angst vor dem Fremden hat die Tendenz, sich bisweilen in eine unkontrollierbare Hysterie zu steigern. Doch wie kommt man gegen die neue Bewegung der Angstbürger an? Scheinbar nicht mit Zahlen und Fakten, denn die Anhänger dieser selbsternannten Bürgerbewegungen glauben nur der eigenen Statistik: Sie sehen einige überwiegend von Arabern bevölkerte Stadtteile, eine größtenteils von fremdländisch aussehenden Kindern besuchte Schule, ein morgenländisches Gebetshaus und können es angesichts dessen nicht ertragen, dass in ihrer Heimat auch andere Menschen heimisch geworden sind.
Die Angst vor dem Unbekannten – oder noch schlimmer: vor dem aus politically incorrecten Gruselmärchen schon bekannt Erscheinenden – ist es, die neuerdings Massen auf die Straße bringen kann. Seit dem Elften September ist das Kopftuch, das unsere deutschen Großmütter vor vierzig oder fünfzig Jahren noch wie selbstverständlich trugen, zu einem Symbol der „Überfremdung“ geworden. Die Debatte über entweder unterdrückte oder fundamentalistische „Kopftuchmädchen“, die in Wirklichkeit doch eigentlich nur ihren Glauben leben und in Ruhe gelassen werden wollen, scheint erst jetzt abzuflauen, da man endlich ein handfestes, brandgefährliches und noch bedrohlicheres Beispiel für die Schattenseiten der islamischen Kultur gefunden hat: Während Terroristen und Theokraten im Nahen Osten ein Kalifat des Schreckens zu errichten versuchen, fühlen sich die rechten Hetzer und Breivik-Anhänger in der Echtheit des Konstrukts, das sie „Islamisierung des christlich-jüdischen Abendlandes“ nennen, bestärkt.

Willkommenskultur – Auffanglagerkultur

Ressentiments gegen Ausländer und Zuwanderungskritik gibt es seit der ersten Stunde deutscher Einwanderungsgeschichte. Bis zum heutigen Tag hat sich die Stimmung zu einem neuen Höhepunkt seit den 1990er Jahren hochgeschaukelt, doch der Grund ist nicht etwa die aggressive Missionierungskultur rheinländischer Salafisten. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, dass immer mehr Menschen – und darunter auch viele Flüchtlinge aus arabischen Ländern – in Deutschland Schutz vor Krieg, Vergewaltigung und Mord suchen. Denn mehr noch als das geliebte Vaterland lieben der und die Deutsche das Geld, das im Namen der deutschen Allgemeinheit ausgegeben wird. Und da kommt es vielen gerade Recht, wenn ihnen jemand erzählt, dass hunderttausende Asylbewerber_innen in Deutschland wie Gott in Frankreich leben. Bei Pegida-Demonstrationen wetterte der Initiator Lutz Bachmann gegen „Heime mit Vollversorgung“ für Flüchtlinge, während sich die deutschen Alten „manchmal noch nicht mal ein Stück Stollen leisten können zu Weihnachten“. Wie groß muss der Hass eines Volkes sein, wenn es seine Alten in miserable Heime steckt und dann Bürgerkriegsflüchtlinge zu Schuldigen erklärt?

Die ZEIT (04.12.2014, Nr. 50) berichtet über die aktuellen Zustände in vielen Lagern. Es wird auch der Kinderarzt Andreas Schultz zitiert, der in einem Asylbewerberheim in München Kinder behandelt.

Manchmal, sagt Schultz, erinnere ihn München an den Sudan. […] An die hundert Kinder wohnen in der Notunterkunft, viele von ihnen seien krank, sagt Schultz. Er hört ihren Brustkorb ab, untersucht ihre Ohren und Atemwege. Er erzählt von Kindern, die eitrige Mandeln haben, weil sie seit Tagen im Zelt schlafen. Von Jungen und Mädchen, die apathisch an die Decke starren, weil es kein Spielzeug gibt. Von Jugendlichen, die nachts vor Kummer schreien und tagsüber Bilder mit blutüberströmten Menschen malen. Von Babys, die Durchfall bekommen, weil sie das Essen im Heim nicht vertragen. „Die Kleinen bräuchten Brei“, sagt Schultz. „Stattdessen setzt man ihnen Hackfleisch vor.“

Vollverpflegung sieht anders aus. Das interessiert Leute wie Pegida-Bachmann aber nicht. Dabei geht es hier nicht einmal um Zuwanderung an sich, denn Asylbewerber sind zunächst einmal Schutzsuchende. (Oft wird dies auf beiden Seiten missverstanden: Asylgegner argumentieren, das Boot sei voll. Deutschland könne nicht noch mehr Menschen durchfüttern. Asylbefürworter argumentieren dagegen beim Thema Asyl, Deutschland bräuchte doch Zuwanderung, allein schon um die Wirtschaft am Laufen zu halten.)  Doch Flüchtlinge in Deutschland wollen in allererster Linie als Menschen behandelt werden und nicht als Zahlen, Nummern und Objekte. Sie wollen ein Leben in Würde führen. Ein Recht, das ihnen das Grundgesetz eigentlich zugesteht.
Dabei sind die meisten Deutschen gastfreundlich – nur eben nicht im eigenen Wohngebiet:

Im wohlhabenden Hamburger Stadtteil Harvestehude wird seit Oktober um ein Asylbewerberheim gestritten. Einige Nachbarn sind gegen das Heim vor Gericht gezogen, sie sagen, sie hätten Angst vor „Kinderlärm“. Harvestehude ist kein kinderfeindlicher Ort. Es gibt „Wohlfühlkindergärten“ mit Biofrühstück und Kinderyogakursen, es gibt Kochschulen für Zwölfjährige und Kieferorthopäden speziell für Kinder. In manchen Flüchtlingsheimen gibt es nicht einmal Zahnbürsten. In Würzburg zum Beispiel werden Zahnbürsten nur an Asylbewerber verteilt, die älter als zwölf Jahre sind. Deutsche Kinder bekommen Zahnputzkurse, sie haben kaum noch Karies. Viele Flüchtlingskinder kann man an ihren schlechten Zähnen erkennen, sie sind oft braun und morsch. Wenn ein deutsches Kind Karies hat, bohrt man ein Loch und füllt den Zahn. wenn ein Flüchtlingskind Karies hat, wartet man, bis der Zahn verrottet ist, so will es das deutsche Gesetz.

Das ist eigentlich zum Heulen. Menschen leben in Baracken, bekommen nicht einmal Hartz-IV und alleinstehende Männer versuchen häufiger als der umliegende deutsche Durchschnitt, sich selbst das Leben zu nehmen. Doch der Mainstream will in den Zeitungen lieber von ungerechtfertigter Vollverpflegung oder Drogenrazzien lesen.

„Ich bin autochthoner Deutscher.“ – „Ist das heilbar?“

„Bürgerbewegungen“ wie die Pegida und viele andere sprechen das offen aus, was (zu) viele Deutsche mittlerweile oder noch immer denken. Sie vertreten ein unvertretbares Deutschlandbild, in dem unterschieden wird zwischen Einheimischen und „Gästen“, die oft seit Generationen ihre Steuern in Deutschland zahlen, nie wirklich wie Gäste aufgenommen wurden und auch so schnell wie möglich wieder verschwinden sollen. Sie werfen diesen Gästen vor, undankbar zu sein. Dabei sind sie es selbst, die undankbar sind. In einem Land, das aus jeder Krise nahezu unbeschadet hervorgeht und sich dennoch bemitleidet, haben Zuwanderer oder Flüchtlinge dennoch keinen Platz. Im Land der Dichter und Denker denkt man immer weniger und dichtet nur noch selten – allerdings nicht deshalb, weil Zuwanderer, Asylanten oder Salafisten einen davon abhalten würden, sondern weil es viel komfortabler ist, erst einmal einen Schuldigen für ein aktuelles Schlamassel zu suchen. Doch vielleicht ist es die Art des (und der) Deutschen an sich: Wir haben schon mit uns selbst ein Problem, da brauchen wir nicht noch Andere, mit denen wir mehr Probleme haben können.

Doch wann fangen wir endlich an, uns um die wirklichen  Probleme zu kümmern – gemeinsam?

Sonntag, 23. November 2014

Der "Tanz um die Toleranz" - Kommentar zur Horizonte-Sendung

In den letzten Tagen hat die Horizonte-Sendung vom 15. November 2014 im Hessischen Rundfunk  mancherorts für einige Diskussionen und oft auch für große Empörung gesorgt. Als Auftakt einer ARD-Themenwoche gedacht, begann der Moderator Meinhard Schmidt-Degenhardt mit den Worten: „Man kann ja über Deutschland denken, was und wie man will. Sie dürfen gerne mäkeln, sie dürfen meckern, aber komme mir bitte keiner und sage, Deutschland sei kein tolerantes Land. Im Gegenteil! Wer, wenn nicht wir?“ Ihm gehe dieser „Tanz um die Toleranz“ auf den Geist. Und das erste Einspieler-Video polarisiert, was es nur zu polarisieren gibt: „Sind wir nicht längst das toleranteste Land der Welt?“ Dabei werden Frauen mit Kopftuch zusammen mit dem Bundespräsidenten gezeigt. „Schmeißen wir nicht bewährte Ansichten über Bord und jeder wird glücklich?“ Im Bild: Eurovision-Songcontest-Gewinner Conchita Wurst. In diesem Fall heißt altbewährt scheinbar nicht homosexuell. Ist diese Art von Intro überhaupt noch provokant oder ist das schon strafbar? Dann: Bilder von gewaltbereiten, tobenden Nazis, kommentiert mit den Fragen „Doch wie lange geht das gut? Was brodelt unter der Oberfläche? Geht der Schuss nach hinten los?“ Als Zuschauer zögert man. Ist das ernst gemeint, kommt da noch ein großer Umschwung zur Objektivität? Man vermutet, dass sich hier etwas wenig konstruktives anbahnt. 


Geladen sind Ellen Ueberschär, Generalsekretärin des Evangelischen Kirchentags, und Matthias Matussek, katholischer Journalist und Autor. Gleich zu Beginn geht es um Salafisten und den Umgang mit dem Islam. Das Einspieler-Video zu diesem ersten Themenblock: „Nie wieder Schweineschnitzel, nie wieder Bier, kein Kreuz an der Wand“ – eine Realität wird suggeriert, die angeblich den deutschen Alltag schon lange bestimmt. Und das alles aus Toleranz? Matussek spricht von „tolerant bis zur Prinzipienlosigkeit“, gerade im Umgang mit dem Islam. Anstatt Nazis den Protest gegen den Salafismus zu überlassen, solle lieber die Mitte der Gesellschaft – die Christen – auf die Straße gehen und ihren Glaubensbrüdern zur Seite stehen. Welche Glaubensbrüder er hier meint wird nicht deutlich. Das Publikum darf sich hier wohl eine bedrohte christliche Minderheit aussuchen. Ueberschär will die ziellose Diskussion weg von den wahllosen Beispielen Matusseks hin zu konstruktiven Ansätzen lenken. Wir würden Toleranz mit Beliebigkeit verwechseln, meint sie. Und genau das könnten wir der Gesellschaft nicht deutlich machen. Doch hier Lösungsansätze zu entwerfen ist von Anfang an ein aussichtsloses Unterfangen.
Weiter geht es mit Themenblock zwei: Sex. Im Intro-Einspieler geht ein nachdenklicher Mann über den Kiez, überall das gleiche Bild: Jeder mit jedem. Seine Freundin hat 5 unbeantwortete Anrufe auf dem Handy – er muss eben akzeptieren, dass es neben ihm noch andere gibt, denkt er sich. Der arglose Zuschauer runzelt hier die Stirn, die Darstellung ist schon ziemlich verstörend. Doch hier werden gesellschaftliche Problematiken oder Phänomene zusammengefasst und bewertet aus der Sicht einen erzkonservativen Christen. Die Welt wird so gezeigt, wie sie durch eine äußerst religiöse Brille gesehen wird. Und auch Matussek macht sich Sorgen über dieses Thema: Sex sei ja fast die neue Religion, meint er. Über nichts werde so viel gequatscht. Und natürlich läuft dieser Themenblock auf die Homo-Ehe hinaus. Matussek scheint in einen Sack zu stecken, was Ueberschär zum Glück deutlich zu unterscheiden weiß: Prostitution und Menschenhandel sind eine Sache, die Heirat homosexueller Paare sei eine ganze andere. Matussek verteidigt sofort – ohne direkt angegriffen worden zu sein – die katholische Kirche in ihrem Umgang mit den Homosexuellen, indem er darauf verweist, in Teheran würden Schwule an Kränen aufgehängt. Mehrmals lenkt er die Diskussion auf den Islam, um die katholische Kirche in Schutz zu nehmen. Ohne sichtlichen Zusammenhang wirft er dem Moderator, der so tut, als würde er kritisch nachfragen wollen, entgegen: „Ehrenmord gibt’s auch hier!
Im dritten Themenblock dann: Eine Art Kapitalismuskritik, der Zuschauer fühlt seine Aufmerksamkeit wieder auf die wirklich wichtigen christlichen Werte gelenkt. Welch eine Erlösung…

Was spielt sich in dieser Sendung eigentlich ab? Islam, Homosexuelle – und immer wieder dieselbe Frage: Müssen wir denn überall tolerant sein? Dürfen wir da überhaupt tolerant sein? Beantwortet wird durch die Videobeiträge von alleine: Nein, denn es läuft aus dem Ruder. Der Islam regiert unsere Straßen, Schwule heiraten und paaren sich an jeder Ecke, vor den Augen unserer Kinder.

Nun, das Entscheidende ist aber: Bei der Sendung Horizonte im Hessischen Rundfunk handelt es sich um ein offensichtlich christliches Programm, die Diskussion zwischen Matussek und Ueberschär ist eine Auseinandersetzung unter Christen. Hier wird nicht von einer säkularen Gesellschaft ausgegangen, sondern von einem christlichen Deutschland, das alles außerhalb dieses Rahmens vielleicht dulden, im seltensten Fall aber tolerieren kann. Und diese christliche Auseinandersetzung mit Problemen der modernen Gesellschaft ist nicht nur äußerst homophob, sondern auch enorm Islam-fixiert. Horizonte entlarvt sich an dieser Stelle aber nicht als hetzerisches Anti-Toleranz-Programm, was von vielen Beobachtern vielleicht so aufgenommen wurde. Vielmehr zeigt die Sendung, was für ein klägliches Minimum an Toleranz unter großen Teilen der deutschen Christenheit vertretbar erscheint – nicht mehr und nicht weniger. Bewerten kann man das jetzt auf unterschiedliche Art und Weise – von skandalisierend bis achselzuckend. Verstörend und auch ein wenig beschämend ist es aber auf jeden Fall.

Es kann eigentlich nur festgestellt werden: Fernsehsendungen wie Horizonte, die scheinbar nur mit den und für die christlichen Zuschauer sprechen, sind alles andere als geeignet, um in einer gesellschaftlichen Diskussion über Salafismus und Scharia-Polizei angehört zu werden. Selten habe ich erlebt, dass Stereotypen über Kopftuchfrauen und Schwule so fahrlässig (oder beabsichtigt?) zu einem Toleranz-Brei vermischt wurden, der natürlich jedem konservativem Publikum eklig erscheinen muss. Es wird propagiert, dass der eigentliche Grund für den Verfall der Gesellschaft und den scheinbaren Aufwind rechtsextremer Kräfte die Toleranz gegen Andersgläubige und Andersdenkende sei. Erneut muss man die Frage stellen, ob Thesen, Behauptungen und emotional-unsachliche Auswüchse wie die des Herrn Matussek sowie die auf unverschämte Art und Weise polarisierende Anmoderation von Herrn Schmidt-Degenhardt einen Platz haben dürfen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Ein sinnvoller Auftakt zur ARD-Themenwoche hätte wohl anders ausgesehen. Der eigentliche Skandal an der ganzen Geschichte ist es, dass jede/-r BürgerIn in Deutschland für diese Art des Fernsehens eine Zwangsabgabe namens G.E.Z. leisten muss.
Für jede inhaltliche Auseinandersetzung ist die Sendung eigentlich ungeeignet. Nur so viel: Toleranz – das ganze Wochenende hätten wir jetzt Zeit und Pflicht, darüber nachzudenken, meint der Moderator. Oh ja, das sollten wir, lieber Herr Schmidt-Degenhardt.


(Ein Artikel, der einigermaßen investigativ vorgeht und auf den Kern der Sache zu sprechen kommt:

Samstag, 8. November 2014

Makel der Einheit - Kritik an einem Erfolgsmodell

Ich wollte diesen Artikel schon lange schreiben, doch nie ergab sich der finale Motivationsschub oder gar die Notwendigkeit. Vielleicht ist er auch etwas provokant, was durchaus etwas Gutes sein kann. Angesichts des 25. Jahrestages des Mauerfalls scheint mir nun jedenfalls die passende Zeit dazu gekommen. An so einem denkwürdigen Tag neigen die Großen der Politik nämlich zu überschwänglichen Reden und vor allem dazu, sich selbst für etwas zu feiern, das auch nur deshalb so gut und makellos scheint, weil sich niemand das Gegenteil für möglich zu halten erdreistet. Denn was ist die deutsche Einheit? Und wieso neigt der politische Duktus dazu, sie als Erfolgsmodell zu verkaufen? Doch eins nach dem anderen.

Was ist Einheit. Nirgendwo ist die deutsche Un-Einheit so sichtbar wie auf der demografischen Landkarte, wo sich die Grenzen zwischen den beiden Staaten von damals noch heute abzeichnen. Helmut Kohl hatte vor zwei Jahrzehnten blühende Landschaften versprochen und ein Vierteljahrhundert später haben wir diese blühenden Landschaften tatsächlich: Nirgendwo ist der demografische Wandel deutlicher zu sehen als in der ostdeutschen Provinz, wo es seit einigen Jahren wieder Wolfsrudel gibt, wo Kleinstädte langsam aussterben und wo der Mensch wieder der Natur das Feld zu überlassen scheint. Zwar hat Dortmund vor kurzem Leipzig als „Armutshauptstadt“ der Republik abgelöst – was man vielleicht als innerdeutsche Annäherung bezeichnen könnte –, doch das Bild ist immer noch verheerend: Stellt man Ost und West in den direkten Vergleich, so sind in den neuen Bundesländern die Arbeitslosenzahlen höher, die Menschen älter, die Neugeborenen weniger und die Perspektivlosigkeit größer. Auch wenn bereits eine ganze Generation kein geteiltes Deutschland mehr kennt – die Teilung auf der statistischen Karte kann schwerlich ignoriert werden. Angesichts dieser Tatsache drängt sich nahezu die Vermutung auf: Es müssen Fehler gemacht worden sein.

Und Fehler wurden eine ganze Menge gemacht im Zuge der Wiedervereinigung. Das Grundgesetz sah ursprünglich zum Beispiel vor, dass als Folge der Einheit eine gemeinsame deutsche Verfassung per Volksabstimmung angenommen werden sollte. Doch Helmut Kohl und die CDU befürchteten, dass sozialistische Elemente Eingang in die Struktur der Bundesrepublik finden könnten – und schoben das Thema so lange auf, bis es vergessen und irrelevant geworden war. Sowohl der Koalitionspartner FDP als auch SPD und Grüne forderten eine Verfassungsdebatte, aber der entscheidende Artikel des Grundgesetzes wurde dennoch übergangen (beziehungsweise uminterpretiert). Das GG wurde Verfassung. Und Günter Grass äußerte sich noch 1998 über die auf diese Weise verpassten Chancen: „[Eine neue Verfassung] schafft zwar keine Arbeitsplätze, [sie] hilft uns auch ökologisch kein Stück weiter, aber die damit verbundene Verfassungsdiskussion, die natürlich von allen Gruppen der Gesellschaft getragen werden müsste, wäre eine nachzuholende Chance, die Deutschen in Ost und West wieder in grundsätzlichen Sachen ins Gespräch miteinander zu bringen.“ – Eine verpasste Chance, die man kreativ hätte nutzen können und wie man sie in der Gunst der Stunde schlicht hätte ergreifen müssen, denn die Bereitschaft zu neuen, gemeinsamen Veränderungen war durchaus da.
Die Frage der deutschen Verfassung ist nach 25 Jahren wohl tatsächlich unbedeutend geworden. Sie hat in einem vom Nationalstaat gelösten, europäischen Bewusstsein an Stellenwert und auch an Relevanz verloren. Es sind deshalb vielmehr die wirtschaftlichen Aspekte der Wende, die bis heute ihre Wirkung zeigen. Denn anstatt einer Verfassungsdiskussion bekamen die Ostdeutschen das, was sie neben politischer Teilhabe noch viel mehr begehrten: Mit der D-Mark kam die persönliche Freiheit – und vor allem neue Kaufkraft. Mit den neuen Einkaufsmöglichkeiten verschwand dann alsbald auch das Verlangen nach politischer Partizipation. Doch hier wird auf traurige Weise deutlich: Nicht Westen und Osten haben sich vereinigt, sondern Ost wurde von West aufgekauft. Alles Bestehende – ob schlecht oder gut – wurde ausradiert und ersetzt. Die Treuhandanstalt (THA), eine „bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts“, schlachtete ostdeutsche Betriebe der Reihe nach aus, einen nach dem anderen. Angeschlagene Westfirmen kauften mit ihrer Hilfe teilweise makellos arbeitende Werke im Osten und strichen staatliche Subventionen ein, mit denen sie zuhause die gefährdeten Arbeitsplätze sicherten. Gleichzeitig schalteten sie effektiv die mögliche Konkurrenz auf dem nunmehr gemeinsamen Markt aus. Millionen von D-Mark versickerten in zweifelhaften Kanälen, während viele Firmen im Osten zunächst günstig aufgekauft und schließlich aufgelöst wurden. Tausende Menschen in der ehemaligen DDR fielen aus diesem Grund der Arbeitslosigkeit zum Opfer und – abstrakt gesprochen – dem unbarmherzigen Kapitalismus, den sie eigentlich begrüßt hatten. Die Talfahrt ging noch weiter: Ungeklärte Eigentumsverhältnisse führten dazu, dass Familien sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten konnten. Noch heute gibt es in ostdeutschen Großstädten ganze Stadtteile, in denen dutzende von Mehrfamilienhäusern leer stehen und dem Verfall ins Auge blicken. – Unterdessen hatte man auf westdeutscher Seite im Grunde nur Arroganz übrig für die neuen Mitbürger. Das System der Bundesrepublik hatte sich in der Vergangenheit bewährt, es lief und läuft bis heute – ein Modell, das seine eigenen Makel durch die Vielzahl seiner Vorzüge übertüncht und den Regierten das Regiertwerden annehmlicher macht. Und so stülpte man einer Gesellschaft, die neben all den heute oft betonten Mängeln, Ungerechtigkeiten und Verbrechen auch 40 Jahre lang eine eigene Daseinsberechtigung entwickelt hatte, einfach ein neues (altes) Modell über – auf allen Ebenen. Dabei wurde die gesamte ostdeutsche Kultur zusammen mit dem SED-Regime in einen Sack gesteckt und im Mülleimer der Geschichte entsorgt. Journalisten bekamen keinen Arbeitsplatz, sogar normale Schriftsteller hatten es in den ersten Jahren schwer, in einer neuen Welt Gehör zu finden. Fußballvereine aus dem Westen kauften den DDR-Mannschaften die Spieler weg; bis heute spielt nur selten eine Ost-Mannschaft in der Bundesliga. NVA-Generäle dürfen den Namenszusatz „a. D.“ nicht tragen – eine Ehre, die nicht einmal ehemaligen Wehrmachtsoffizieren im westlichen Nachkriegsdeutschland versagt war.

Diese Tatsachen, die man sich angesichts der in diesen Tagen gefeierten schillernden Facetten der deutschen „Erfolgsstory Wiedervereinigung“ gar nicht zu erwähnen traut, könnten durchaus als Ungerechtigkeit bezeichnet werden. Doch die Missachtung eines Artikels des Grundgesetzes, die Abwicklung eines Systems mitsamt seiner Menschen und die Entsorgung einer Gesellschaft – an alledem kann man heute nicht viel mehr ändern als sich einfach einzugestehen, dass der Anfang der gesamtdeutschen Geschichte nicht ganz gerecht vollzogen worden ist. Als ersten von zwei wichtigen und großen Fehlern der Einheit sollte man vielmehr anerkennen, dass Millionen von nach Veränderung strebende Menschen einfach in ein neues, nur aus dem Westfernsehen bekanntes System gesetzt wurden, ihre Wünsche und Erwartungen hingegen wurden oft übergangen. Die Folgen kommen heute in Form der tiefsitzenden Politikverdrossenheit ans Tageslicht, die sich in Sachsen und Thüringen in Gestalt einer schockierend niedrigen Wahlbeteiligung niederschlägt. Eigentlich gehört zum Gedenken an die Widervereinigung mehr Tadel als Lob: Man hat den Menschen den Willen zur Demokratie madig gemacht. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR bekamen 1990 einen neuen Pass und wurden zwischen den vollen Regalen der Supermärkte stehen gelassen. Dabei waren sie es doch, die damals den Anfang machten. Der SPD-Politiker Egon Bahr, der unter Willy Brandt die bundesdeutsche Ost-Politik nach dem Gedanken Wandel durch Annäherung entscheidend gestaltete, bekannte sieben Jahre nach der Wiedervereinigung: „Wir verdanken […] den DDR-Bewohnern die Einheit. Das ganze deutsche Volk hat nach Westen geguckt. Die Westdeutschen haben nach Westen geguckt, und die Ostdeutschen haben auch nach Westen geguckt. Die Ostdeutschen wollten die Einheit. Die Westdeutschen wollten die Einheit gar nicht. Niemand hat gedrängt.“ So kam es auch, dass man sich für die neuen Bürgerinnen und Bürger nicht einmal genug interessierte, um ihnen zu erklären, wie „Deutschland“ eigentlich funktioniert. Dass man mit dem Begriff „Solidarität“ hierzulande nichts anfangen kann, dass hier jeder für sich selbst verantwortlich ist und dass sogar das Selbstverständnis von „Deutschland“ im Westen eben ein anderes ist. Vielleicht hätte man der breiten Masse auch erklären müssen, dass Deutschland schon lange multikulturell ist. Und dass diese Tatsache nicht negativ sein muss. Die Ignoranz, die man von westdeutscher Seite den Erwartungen der Ostdeutschen – und dazu gehörte auch ein gewisser unter der Oberfläche brodelnder und von der SED-Führung verleugneter Nationalismus – entgegenbrachte, ist einer der Gründe für die Mischung aus orientierungsloser Unsicherheit, Enttäuschung und Hass, die tausende Menschen zum Beispiel in Rostock-Lichtenhagen dazu trieb, in einer pogromähnlichen Jagd ein Wohnheim für vietnamesische Asylbewerber anzugreifen. Naive Arglosigkeit und beschämendes Desinteresse von westdeutscher Seite könnten indirekt auch förderlich gewesen sein für den Nährboden, auf dem Jahre später Unkraut wie der NSU gedieh.
Der zweite der zwei großen Fehler, die im Zuge der Einheit begangen wurden, ist der fehlende Wille, sich in Konfrontation mit einem anderen System auch mit dem eigenen auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt durch die pauschale Ablehnung alles Ostdeutschen war man unfähig, von den neuen Bundesbürgern zu lernen und zu profitieren – vor allem von deren Erfahrungen, die ja andere waren als im Westen, aber auch von den (aktuellen) Errungenschaften. Die aktuellste der ostdeutschen Tugenden war der Wille zur Teilhabe an der gelebten Demokratie. Im Osten herrschte eine Aufbruchsstimmung, die den Westdeutschen eher fremd war. Während die Freiheitshungrigen begannen, sich auf dem Boden der sterbenden DDR in neuen politischen Gruppierungen zu organisieren und an Runden Tischen zusammenzukommen, scheint der Westen verglichen zur neuen ostdeutschen Dynamik überfordert und ihr gegenüber gleichgültig gewesen zu sein. Es lässt sich also zusammenfassend sagen: Das größte Versäumnis der Wende ist wohl das Unvermögen von Politik und Gesellschaft, die dynamische Bewegung im demokratisierten Ostdeutschland in die verkrusteten westdeutschen Strukturen hineinzutragen. Diese neue Dynamik hätte den Mächtigen wahrscheinlich sogar gefährlich werden können. Das an vielen Enden krankende System hat sich selbst geschützt, indem es aller anfänglicher Euphorie einen Dämpfer vorsetzte und die Bevölkerung schnell wieder an die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten erinnerte. Doch als Trost wird bis heute jenes Minimum an Errungenschaften, das aus gemeinsamer Regierung, Währung, Fußballmannschaft und bundesdeutscher Routine besteht, als erfolgreich vollzogene Einheit gefeiert – in einem derartigen Pomp und Glanz, dass die begangenen Fehler, Versäumnisse und verpassten Chancen genau dieser Einheit in den Schatten gestellt werden und ihre Berechtigung, erwähnt zu werden, verlieren. Zurück bleiben jene, die damals mehr verändern wollten als sie letztlich imstande waren und sich mit der breiten Masse in die Politikverdrossenheit zurückgezogen haben.

Doch das ist nur (m)eine Lesart. Natürlich ist der 9. November 2014 ein Tag zum Feiern. Vielleicht ist es aber nicht die Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit, die wir mit Champagner begießen sollten, sondern lediglich jener erste Schritt, der 1989 getan wurde, und auf den zu viele Schritte schlussendlich nicht mehr folgten und auch nie mehr folgen werden. Wir sollten den heutigen Tag zum Anlass nehmen, uns der doch so nötigen, aber in Vergessenheit geratenen Dynamik der Ostdeutschen zu erinnern – auch im europäischen Kontext. Denn Europa ist nicht geeint. Europa ist nicht einmal gerecht. Europa gleicht vielmehr einer riesigen bürokratischen Baustelle mit perspektivlosen jungen Menschen im Süden, stolzen Verweigerern auf den Britischen Inseln und ertrinkenden Bürgerkriegsflüchtlingen an den Außengrenzen. Männer und Frauen auf der Flucht, die vor Hunger nach persönlicher Freiheit und aus Sehnsucht nach einem besseren Leben genau dieses verlieren. Wird in 25 Jahren irgendjemand auch diesen Menschen so gedenken, wie man es heute für die Mauertoten in Berlin tut? Auch Europa hat dichte Grenzen. Demokratie ist nur ein Wort, solang man sie nicht lebt. Viel weniger noch als ein Wort. Ein Schein, eine Farce.
Heute wollen wir niemandem die Feierstunde verderben. Aber vielleicht fangen wir morgen endlich an, uns diese Gedanken zu machen. In diese Sinne: Happy Mauerfall...!



Dienstag, 30. September 2014

Bloggerherbstbeginn

Der Herbst hat begonnen und es ist mal wieder an der Zeit, mich bei meiner Leserschaft zu melden und Euch mit einem freundlichen Gruß aus dem Sommer zu entlassen. Ich meinerseits habe in Bonn Quartier bezogen, bin allerdings noch nicht ganz am Ziel der Reise an den Anfang eines neuen Lebens- und Karriereabschnitts angelangt. Jedenfalls scheint die ehemalige Hauptstadt ein guter Ort zu sein, um etwas länger zu verweilen. Momentan fühle ich mich allerdings eher wie ein exilierter Monarch, der ohne Gefolge und mit drei mehr oder weniger mickrigen Gepäckstücken in der Verbannung leben muss, die sich ironischerweise auch noch als „Hotel President“ präsentiert. Copyshops und Behördengänge, auswärts essen und abends auf dem irreparabel dunkel und kontrastlos eingestellten Flachbildschirm die Nachrichten verfolgen – wer meinen zeitweiligen Sinn fürs Melodramatische kennt, der wird begreifen, dass ich in Bonn ein wahres Paradies gefunden habe und mich eigentlich über nichts beschweren will.

Es gibt also (noch) nicht viel zu berichten. Unterschiedlichste Projekte verschiedensten Charakters liegen in der symbolischen Schublade und warten auf Inangriffnahme. Und auch mein Blog harrt geduldig aus in Erwartung verstärkter Aktivität. Doch gerade in solchen ereignislosen Wochen, wenn nichts Neues von mir in die Weiten des endlosen, unbeherrschbaren und bisweilen gnadenlos desinteressierten Internets hinausgesendet wird, lohnt ein Blick auf die Statistiken. Woher kommen die zahlreichen Zufallsleser, die durch Schlagworte wie selbstgebastelte ausweise oder stampfen ist meine religion auf mein Blog gestoßen sind? Was sind die am häufigsten gelesenen Beiträge, wenn nichts Neues geliefert wird? Nicht etwa mein aktuellster Beitrag zum Ersten Weltkrieg und meiner beachtenswerten Sammlung deutscher Feldpostkarten steht in dieser Woche an der Spitze der Liste, sondern „Jom Kippur in Jerusalem“ (2012), „Die Reichsbürgerbewegung (Teil 2)“ von 2013 sowie der Beitrag zum NPD-Wahlkampfplakat gegen die Sinti und Roma. Zurzeit steht Deutschland natürlich ganz oben bei den Herkunftsländern meiner Zufallsleser – anders als vor einigen Wochen, als eine Vielzahl russischer Besucher meine Seite stürmte. Der entfernteste Visitor scheint aktuell aus Australien zu kommen.

Natürlich kann es interessant sein, bei „Stillstand“ die eigenmächtigen Bewegungen der Zugriffe und Zufallsklicks zu beobachten. Günstiger wäre es allerdings, seine Stammleser(innen)schaft mit regelmäßigeren Beiträgen zu „beliefern“. Aus diesem Grund werde ich mich bemühen, in den nächsten Wochen und Monaten wieder regelmäßig zu bloggen und Euch auf dem Laufenden zu halten über Dinge, die ich interessant finde, und Dinge, von denen ich glaube, dass sie außer mir noch andere Leute interessant finden müssten. Ganz nach dem Motto „Blog-Artikel, die diesem und jenem gefallen haben, könnten auch Ihnen gefallen!“ will ich nun wieder etwas Fahrt aufnehmen, damit mich der Gegenwind endlich wieder zu kühlen beginnt. (Welch schwer einzuordnende und bedeutungsoffene Metapher, merke ich gerade…)

In diesem Sinne, ich wünsch‘ Euch was. Wir hören voneinander.

Freitag, 5. September 2014

Kriegspostkarten

Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Ich habe in meiner Antiquitätensammlung gestöbert und bin auf eine interessante Postkarte gestoßen. Sie stammt aus dem Jahre 1915 und wurde von einem jungen Soldaten an der russischen Front in die unterfränkische Heimat geschickt. Die Bildseite zeigt zwei Motive: Deutsche Soldaten, die mit abgenommenem Helm und abgestellten Gewehren andächtig zum Gebet verharren. Ein Gebet voll „Donner des Todes“ und geöffneten Adern. Die Szene der betenden Männer steht im Gegensatz zu dem zweiten Teil des Bildes: Vorrückende Preußen, die Bajonette auf ihre Gewehre aufgepflanzt. Zwei Armeen stehen sich gegenüber, ein flaggentragender Franzose greift sich mit der Hand ans Herz, getroffen von einer deutschen Kugel.


Der Erste Weltkrieg war nur der Anfang einer katastrophalen Entwicklung, die das 20. Jahrhundert schon in seinen ersten 45 Jahren zu einem blutigen Säkulum werden lassen sollte. Können wir heute noch nachvollziehen, wie sich Deutsche und Franzosen so entschieden entgegentreten konnten, voller Begeisterung und kampfentschlossen bis in den Tod? Vor hundert Jahren zogen die Massen jubelnd in die Schlachten, Rudel frischer Abiturienten warfen ihre Hüte vor Freude über die neue Herausforderung „Krieg“ in die Luft. Diese Karte aus meiner Sammlung ist ein anschauliches Beispiel. Eindrücklich ist der Text, den ein gewisser Joseph an seine Cousine Elise schrieb:

Liebe Elise! Hat Wilhelm Euch schon besucht? Wie sieht er nur aus? Ist seine Wunde gut geheilt? Schade für den armen Kerl, dass er nicht mehr mit spielen kann. Es wird alle Tage interessanter. Die herzlichsten Grüsse an Deine lieben Eltern. Gruss Joseph.

Der Krieg, ein Spiel? Wie groß muss die Begeisterung bei diesem Joseph, einem deutschen Frontsoldaten, im April 1915 gewesen sein? Krieg ist nur dann, wenn alle hingehen und mitmachen. Und vor hundert Jahren waren die Völker geradezu erpicht darauf, an diesem großen „Spiel“ teilzunehmen.


Das erste große Schlachten des 20. Jahrhunderts forderte knapp 17 Millionen Opfer. Die Nationen lernten kaum etwas dazu. Es dauerte kaum mehr als zwanzig Jahre, bis die nächste – noch größere – Katastrophe ihre Opfer forderte.

Und das Schlimme ist, dass es Kriege auch heute noch gibt. Sie sind etwas Menschliches – und unmenschlich zugleich. Doch Menschen finden immer wieder neue Begründungen, um ihre Macht zu demonstrieren, und neue gerechte Verkleidungen, in die sie das Unrecht des Krieges hüllen. Wo stehen wir heute, hundert Jahre nach Kriegsbeginn? Das Jahr 2014 scheint leider ein besonders blutiges Jahr zu werden. Warum?

Dienstag, 26. August 2014

Der Versuch eines Einblicks in die Terrorgruppe IS

Die Vorgänge in Syrien und im Irak sind brutal, die letzten überlebenden Reste jahrtausendealter Kulturen werden zerstört. In Syrien gehen die Toten seit Beginn des Konflikts in die Hunderttausende, im Irak müsste man erst den Zeitpunkt definieren, ab dem man mit dem Zählen der Opfer beginnt. Das Regime von Saddam Hussein hat laut Human Rights Watch bis zu 290.000 Menschen auf dem Gewissen. Die US-amerikanische Besatzung und die in der Folge stellenweise eskalierenden Konflikte kosteten nicht nur über 4.000 alliierten Soldaten das Leben, sondern auch das von bis zu 600.000 irakischen Zivilisten. Heute, im Sommer des Jahres 2014, findet sich das Zweistromland erneut zwischen den Fronten verfeindeter Kräfte und internationaler Interessen wieder. Doch mittlerweile hat sich ein Gegner zwischen Syrien und Irak festgesetzt, den alle Beteiligten gleichermaßen fürchten: Der selbst proklamierte Islamische Staat (IS), eine dschihadistische Terrorgruppe, erobert Städte und Dörfer im Norden des Landes, vertreibt Christen, Jesiden und Turkmenen, köpft und massakriert Zivilisten, ausländische Berichterstatter und gefangene Soldaten. Vor einigen Tagen wurde der Journalist James Foley von IS-Terroristen enthauptet. Kurze Zeit später hat die Al-Nusra-Front, eine Gruppe aus dem Umfeld des Terrornetzwerks Al-Qaida, den US-Amerikaner Peter Theo Curtis freigelassen, der seit zwei Jahren in Syrien festgehalten wurde. Was dieser Schritt gerade jetzt zu bedeuten hat, erklärt Aviv Oreg, ehemaliger Leiter der Abteilung zum Thema Globaler Dschihad bei der israelischen Armee. Er geht davon aus, dass der Zeitpunkt der Freilassung bewusst gewählt ist. „Al-Qaida hat diesen Schritt zur Freilassung von Peter Curtis unternommen, um innerhalb der islamischen Welt wieder mehr Legitimität zu erhalten“, erklärte er laut der Nachrichtenagentur dpa.  Al-Qaida will sich noch mehr vom IS abgrenzen. Es ist paradox: Knallharte Dschihadisten distanzieren sich von noch knallhärteren Dschihadisten.

Doch wer sind die Männer, die hinter der Gruppe IS (arab. dā‘isch) stecken? Und wie funktioniert dieses Netzwerk? Leider ist es den meisten Journalisten nicht möglich, vor Ort und brandaktuell Hintergrundberichte aus dem Inneren des Terrornetzwerks zu liefern. Deshalb bleibt auch mir nur übrig, mich auf all das zu stützen, was im Internet an mehr oder weniger glaubwürdigen Berichten kursiert.

Der „Kalif“

Abu Bakr al-Baghdadi al-Husseini al-Quraschi hat seinen Name treffend gewählt: Abu Bakr war der zweite der sogenannten Rechtgeleiteten Kalifen und der direkte Nachfolger Muhammads im 7. Jahrhundert. Mit dem Namenszusatz (nisbe) al-Baghdadi will er sich als einheimischen Iraker legitimieren, der Zusatz al-Quraischi weist ihn als Angehörigen des Stammes des Propheten aus, den Quraisch. Ob diese Tatsachen der Wahrheit entsprechen, lässt sich schwer feststellen. Doch es ist zu vermuten, dass die Wahl des Namens lediglich der Festigung der Macht al-Baghdadis dienen sollte. In Wirklichkeit heißt der Mann, der gerade den Nahen Osten und die Welt darüber hinaus in Angst und Schrecken versetzt, Ibrahim al-Badri und stammt aus der nördlich von Bagdad gelegenen Stadt Samarra, einem bedeutenden schiitischen Pilgerort am Ostufer des Tigris. Er studierte Islamic Studies in der irakischen Hauptstadt und war zur Zeit der US-Invasion angeblich Geistlicher in seinem Heimatort. Seit 2003 durchlief er eine Laufbahn als Kämpfer in unterschiedlichen militanten Gruppierungen, bis er bei den Vorgängern des IS landete. Seit 2010 war al-Baghdadi Chef des IS, seit Ende Juni 2014 nennt er sich offizielle „Kalif Ibrahim“. Am 29. Juni rief er bei der Freitagspredigt in der Hauptmoschee von Mossul vor sorgfältig ausgewählten Gästen das „Kalifat“ aus. Er will einen neuen islamischen Staat auferstehen lassen und momentan scheint ihn niemand daran hindern zu können.

Terroristen online - Propaganda und wertvolle Einblicke

Wertvolle Einblicke in die Welt des IS liefert eine Reportage des VICE-Magazins: In „The Islamic State“ begleitet der Journalist Medyan Dairieh die Kämpfer des IS in und um Raqqa (Syrien) und bekommt die Möglichkeit, Statements von ranghohen Führern der Gruppe aufzunehmen. Dem Zuschauer wird Einsicht gewährt in das ganze System des „Kalifats“: Dairieh besucht ein Gefängnis und den Scharia-Gerichtshof, wird Zeuge der Vereidigung neuer Kämpfer und begleitet einen IS-Funktionär bei seiner Patrouille durch die Stadt. Diese Dokumentation ist momentan die einzige, in der die Zuschauer das Innere der besetzten Gebiete zu Gesicht bekommen. Daneben bleiben nur noch die zahlreichen Propagandavideos des IS als virtuelle Quellen übrig: Paraden durch eroberte Gebiete auf weißen Geländewagen, immer dabei die schwarze IS-Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Vermummte und unvermummte Kämpfer posieren mit Gefangenen. Auf einigen Videos sind Hinrichtungen zu sehen, auf anderen rufen ausländische Terroristen ihre Landsleute in der Heimat dazu auf, dem Ruf des Dschihad zu folgen. Es existiert auch ein längeres Video, eine Produktion der Propagandaabteilung des „Kalifats“. Und am bedeutendsten ist wohl die aufgezeichnete Predigt des Kalifen Ibrahim, die er vor seinen freiwilligen und unfreiwilligen Gefolgsleuten in der Moschee von Mossul hielt, bevor er - abgeschirmt von seinen Sicherheitsleuten - wieder im Nirgendwo verschwand. Mit diesem Video appelliert er an die Muslime der Welt, seinem Ruf zu folgen und in sein Kalifat zu immigrieren. Das wichtigste Ziel des gesamten Propagandaapparates ist es, kampfbereite junge Muslime in aller Welt zu mobilisieren. Der Kampfeswille soll durch die begeisterten Zeugnisse kampferprobter Dschihadisten geweckt werden, der Alltag vor Ort wird durch diese Videos verherrlicht und die Legitimation des örtlichen Dschihad bekommt man durch die Rede des Kalifen gleich mitgeliefert. Wir sind das Kalifat und wir sind unbesiegbar. Das ist die Botschaft. Und nicht wenige ausländische Fanatiker kamen dieser Aufforderung nach: Wie schon in anderen Konflikten (z.B. Ex-Jugoslawien oder Afghanistan) kommen auch jetzt zahlreiche Muslime aus Saudi-Arabien, den Golfstaaten und auch Europa nach Syrien und in den Irak. Diese Bewegung wurde schon früh im Syrienkrieg losgetreten, als sich die Rebellengruppen gerade formiert hatten. Die europäischen Dschihadisten reisten größtenteils über die Türkei ins Kampfgebiet ein, wurden dort auf ihre Treue geprüft und an der Waffe trainiert. Seitdem tauchen Videos auf, in denen sich auch Deutsche damit rühmen, „Ungläubige“ getötet zu haben. Nach einem Bericht von n24 sollen derzeit 139 Deutsche im Kriegsgebiet kämpfen, eine große Zahl von ihnen in den Reihen es IS. Sie befeuern die Propaganda des Terrornetzwerks und ermutigen ihre Glaubensgeschwister zuhause zur Reise an die Levante. Und der Grund, wieso VICE seine Dokumentation drehen durfte, liegt auf der Hand: IS will sich der Welt präsentieren - als Kämpfer, als Sieger.
Die eigene Online-Recherche birgt aber die eine oder andere Tücke: Natürlich ist an allen Fronten und auf allen Seiten Propaganda im Umlauf. Nicht selten finden sich hier Fehler oder Falschmeldungen: Es kursierten zum Beispiel Bilder von Frauen, die vom IS angeblich in die Sklaverei verkauft wurden. Gestalten in schwarzer Burka, die Hände aneinandergekettet. Doch diese Fotos stammen vom Aschura-Ritual, bei dem Schiiten dem Tod des dritten Imams Hussein gedenken. Bilder des Aschura-Tages und der damit verbundenen Paraden, Rituale und Praktiken kennt man aus dem Iran: Männer geißeln sich selbst, indem sie sich mit Peitschen den Rücken blutig schlagen. Dazu gehören auch Frauen in Ketten, doch die haben mit dem IS in keiner Weise etwas zu tun - zumindest nicht auf den präsentierten Bildern.

Terror und Zerstörung

Inhalt der Propaganda, aber auch bittere Realität sind die Vertreibungen und die Massaker des IS an religiösen Minderheiten. Die christlichen Einwohner Mossuls wurden vor die Wahl gestellt zu fliehen, zum Islam zu konvertieren oder hingerichtet zu werden. Die Türen christlicher Haushalte wurden mit einem arabischen N (für narānī, „Nazarener“) gekennzeichnet. Sprühfarbe zur Brandmarkung. Die allermeisten Betroffenen verließen daraufhin Ende Juli 2014 die Stadt. Die christliche Gemeinde, die sich traditionell aus aramäischen, syrisch-orthodoxen und chaldäischen Gläubigen zusammensetzt, bestand seit über eineinhalb Jahrtausenden. Nun hat sie aufgehört zu existieren. Bei der Machtübernahme des IS lebten nach unterschiedlichen Angaben noch zwischen 25.000 und 35.000 Christen in der Stadt. Die meisten von ihnen sind nun auf das Gebiet der Autonomen Region Kurdistan geflüchtet. Die kurdischen Gebiete rund um Erbil und Dohuk waren auch das Ziel von ca. 200.000 Jesiden, die aus ihren Dörfern vor den herannahenden IS-Truppen geflohen waren. Unzählige Menschen verhungerten, während sie auf dem Dschabal Sindschar, einem Gebirge, festsaßen und auf Rettung warteten.
Neben der Vertreibung und Ermordung von Christen, Jesiden und Turkmenen begeht der IS auch ein unglaubliches Verbrechen am kulturellen Erbe des Irak: Aus Propagandavideos und Augenzeugenberichten geht hervor, dass die Gruppe damit begann, christliche Kirchen, aber auch schiitische Schreine und Moscheen sowie die Gräber von Heiligen oder islamischen Propheten zu sprengen. Im dogmatischen Islam ist die Verehrung von Heiligen und ihrer Gräber verpöhnt, für Dschihadisten ist sie inakzeptabel. Nun werden die eroberten Regionen nicht nur von Andersgläubigen, sondern auch von ihrem historischen Erbe „gesäubert“. Was einst die Taliban im afghanischen Bamian anrichteten, als sie die uralten Buddhastatuen sprengten, wiederholt der IS nun im Irak, einer der wichtigsten Wiegen der menschlichen Zivilisationsgeschichte.Innerhalb seines Machtbereich regiert der IS mit voller Härte. Die Gesetzgebung basiert dabei auf der individuellen Interpretation des islamischen Scharia-Gesetzeskorpus. Das „Kalifat“ soll eine Theokraie sein, die Gesetze werden auf der Straße von patroullierenden Aufsehern durchgesetzt. Im Fastenmonat Ramadan ist essen und trinken tagsüber streng verboten, Händler werden kontrolliert, Passanten im Falle eines Verstoßes gegen die Kleiderordnung gerügt. Angeblich verabschiedete der IS als erstes Regelwerk einen 16-Punkte-Katalog voller Einschränkungen, so ein Bericht des Merkur Online. Konsum und Verkauf alkoholischer Getränke oder Drogen sind verboten, gleiches gilt für das Rauchen. Das Tragen von Waffen ist untersagt, ebenso Versammlungen. Ausgenommen sind IS-Kämpfer. Frauen in den eroberten Gebieten müssen ihren gesamten Körper bedecken und optimalerweise zuhause bleiben. Das System des Islamischen Staates hat alles, was zur Aufrechterhaltung dieser neuen Ordnung notwendig ist: Gefängnisse und organisierte Gerichte mit Büros und Sprechstunden, wie sie in der VICE-Reportage zu sehen sind, existieren in jeder großen Stadt. Die Strafen für Verbrechen wie Mord oder Diebstahl sind drastisch: Dieben werden die Hände abgehackt, wegen unterschiedlichster Vergehen werden Menschen geköpft. Auch Abfall vom Glauben kann unmittelbar zum Tode führen. Es ist dabei aber nicht einmal sicher, ob sich der IS in der Durchsetzung dieser Urteile überhaupt an irgendwelchen Regeln orientiert oder ob die Scharia nur als Entschuldigung vorgeschoben wird, um Gegner gnadenlos niederzumetzeln. Laut WELT berichteten die UN unter Berufung auf Zeugenaussagen, dass im Juni in der Haftanstalt Badush ein Massaker verübt wurde. In dem Gefängnis in Mossul sollen 670 irakische Insassen hingerichtet worden sein. Es ist nur eine von vielen Meldungen über Massaker, Hinrichtungen und blutrünstige Massentötungen.

Wie finanziert sich der IS-Terror?

Wie konnte es so weit kommen? Wie wurde es möglich, dass der IS Mitte 2014 über ein eigenes Territorium von beachtlicher Größe verfügt? Dies ist neben einer politischen und militärischen auch eine finanzielle Frage, auf die es mehrere Antworten gibt: Der Islamische Staat handelt mit Rohöl und verkauft es an die verschiedensten Konfliktparteien. Große Ölfelder in Syrien, aber auch rund um die nordirakische Stadt Kirkuk gehören oder gehörten zum Machtgebiet der Terrorgruppe. Von hier aus wurden Tanklaster mit der wertvollen Ladung zum Export losgeschickt. Über die Empfänger gibt es unterschiedliche Meldungen: Das Öl werde an die iranische Grenze transportiert, hieß es. Doch vor allem der syrische Diktator Assad, der dem IS wie die meisten anderen politischen Akteure der Region als Feind gilt, soll laut taz zu den Hauptabnehmern des erbeuteten Öls gehören. Während andere bewaffnete Rebellengruppen den Rohstoff in Plastikflaschen und Kanistern über die Grenze in die Türkei schmuggeln, liefert IS im großen Stil an das benachbarte und offiziell verfeindete Regime. Aber schon vor der Eroberung dieser Ölfelder war der IS die reichste Terrorgruppe der Welt. Es ist zu vermuten, dass die Terroristen aus unterschiedlichen Richtungen große Spenden erhalten. Geld fließe vor allem aus den Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien, meldete die Tagesschau Ende Juli. Und auch Wegzölle entlang der Grenzen zwischen Irak und Syrien zählen zu den Einnahmequellen der Gruppe. Ein großer Coup gelang ihr außerdem im Juni 2014: Bei der Eroberung von Mossul fiel die Zentralbank in die Hände des IS - dabei wurden laut Washington Post ganze 425 Millionen US$ erbeutet. Die Welt hat es also nicht nur mit einer Bande von Terroristen zu tun, sondern mit einer gut organisierten Bewegung, die mittlerweile sowohl über Land als auch Geld verfügt.

Militärisch unterschätzt

Im Juni 2014 eroberte der IS - damals noch ISIS - die Metropole Mossul. Die zweitgrößte Stadt des Irak hat fast drei Millionen Einwohner und war schon 2006 Mittelpunkt der Terrorbewegung, als ISIS dort das „Islamische Emirat Irak“ ausrief und begann, die Bevölkerung zu terrorisieren. Seitdem war Mossul geplagt von Anschlägen, Entführungen und Morden an Journalisten, Frauen ohne Kopftuch oder Ladenbesitzern, die den Vorgaben der Terrorgruppe nicht Folge leisteten. Acht Jahre später ist die Stadt nun vollkommen in der Hand des IS und die Welt fragt sich: Wie konnte eine handvoll Terroristen diese große Stadt scheinbar im Handumdrehen einnehmen? Wie konnten 800 Kämpfer eine Metropole erobern, die von knapp 30.000 irakischen Soldaten verteidigt wurde? Militärexperten vermuten als Hauptursache die schlechte Ausbildung der irakischen Streitkräfte und vor allem die mangelnde Moral. Die Gründe liegen jedoch auch in der Strategie des IS, Furcht und Schrecken zu verbreiten und dafür zu sorgen, dass es sich herumspricht. Meldungen von exekutierten Gefangenen und Videos von Massenhinrichtungen untermauern die Brutalität des IS, deren Opfer jeder wird, der in ihre Hände gerät. Doch nicht nur die furchteinflößende Kriegspropaganda verhilft zum militärischen Sieg, es ist auch die Vorgehensweise an der Front: „Sturmattacken wie im siebten Jahrhundert“, titelt Spiegel Online. Modernste Kriegstaktik mischten die Dschihadisten mit apokalyptischen Angriffen, heißt es. Blitzschnell und skrupellos. „Sie kamen wie ein Schwarm, rasend, schießend, als ob nichts sie aufhalten könne“, berichtet ein kurdischer Kommandeur. Angriffe wie aus der Zeit der ersten islamischen Expansionen? Nur ohne Pferde: Auf 70 oder 80 Wagen seien sie angerast gekommen. „Sie rollten in breiter Linie durch die Wüste, Dutzende Fahrzeuge nebeneinander, und schossen dabei. Egal, ob wir einen Wagen ausschalten konnten, die anderen rasten einfach weiter“, erzählt ein weiterer kurdischer Soldat. „Sie schickten erst mehrere Selbstmordattentäter mit sprengstoffbeladenen Wagen, dann kam die Haupttruppe - und zwar so schnell nach den Explosionen, dass keiner reagieren konnte. Wer konnte, floh.“ Die IS-Kämpfer sind hoch motiviert und gnadenlos, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Dschihadisten fürchten den Tod nicht, sondern sehnen sich nach dem „Martyrium“. Und Berichte wie diese sorgen zudem dafür, dass die Moral derjenigen, die sich den Kämpfern entgegenstellen, noch weiter gegen Null geht. Die irakischen und kurdischen Soldaten fliehen vor heranbrausenden Jeeps und Pickups, auf denen Maschinengewehre installiert sind. Darunter sind dutzende Humvees: Vor ihrem Abzug hatten die US-Truppen der irakischen Armee viel Material überlassen, u. a. auch gepanzerte Fahrzeuge. Große Teile der militärischen Ausrüstung des IS stammen aus diesen Beständen, wurden schon andernorts von den fliehenden Irakern erobert. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte kämpfen nun Terroristen mit amerikanischen Waffen, rücken Woche für Woche ein Stück weiter vor und vergrößern ihr Territorium unaufhaltsam.

Kampf, Politik und aufgekündigte Bündnisse

Während in Deutschland und Europa diskutiert wird, ob man die kurdische Armee des Nordirak mit Waffen beliefern sollte, läuft den Menschen vor Ort die Zeit davon. Kurden, Jesiden, Christen - sie sind auf der Flucht. Und selbst gegen sunnitische Gruppen wendet sich der IS mittlerweile. Militärische Bündnisse sind nur so lange attraktiv, bis sie nicht mehr nützlich sind. Wer anfängt zu rebellieren, wird automatisch zum Feind und kommt unter die Räder des IS-Vormarsches. Mitte August soll der IS ganze 700 Mitglieder des asch-Scheitaat-Stammes getötet haben, nachdem es im Zuge der Besetzung mehrerer Ölfelder zu Konflikten gekommen war.
Bündnisse sind flüchtig beim Islamischen Staat. Von Beginn an war die Terrorgruppe eng mit Al-Qaida vernetzt. Als der IS noch kein Land und auch noch keinen bedeutenden Einfluss hatte, war das Terrornetzwerk um Osama Bin Laden ein wichtiger, ein unerlässlicher Verbündeter. Bis heute hat sich die Situation geändert: Erst machte sich der IS selbstständig, jetzt distanziert sich al-Qaida sogar von dieser Gruppe. Die Süddeutsche schrieb auch wieso: „Die dynamischen Emporkömmlinge lassen die einstigen Terror-Fürsten verkopft und entscheidungsschwach aussehen. Die Ausrufung des Kalifats ist für al-Qaida nicht nur eine Provokation - sie ist eine Kriegserklärung.“ Die Dschihadisten-Szene sei nicht weniger zerklüftet als andere arabische Gemeinschaften.Währenddessen macht sich in der gesamten islamischen Welt Widerstand breit: In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Erde, wurde jegliche Unterstützung der IS-Terroristen von höchster religiöser Instanz für illegal erklärt. Muslimische Gemeinden weltweit geben Erklärungen ab und distanzieren sich von diesem ungekannten Terror im Namen eines selbsternannten Kalifen.

Doch „außenpolitisch“ verunsichert der IS seine Gegner noch immer. Die USA beginnen zwar, Luftangriffe auf IS-Stellungen zu fliegen, um die kurdischen Peschmerga bei der Verteidigung der nordirakischen Städte zu unterstützen. Doch die Türkei erscheint still und passiv, fast schon eingeschüchtert. Mit gutem Grund: Im Laufe des Jahres nahmen die Terroristen 28 türkische Lastwagenfahrer als Geiseln. Und im Juni stürmten sie bei der Eroberung von Mossul auch das türkische Konsulat. Seitdem befinden sich fast 50 Mitarbeiter und Diplomaten in Geiselhaft, darunter der Generalkonsul der Türkei selbst. In den letzten Aufnahmen bei VICE gab es harte Worte vonseiten des IS an die türkischen Nachbarn. Man werde Istanbul erobern, hieß es. Ob dies eine Drohung sei? Ja, das sei eine Drohung.

IS-Dschihadisten im Nordirak: "Kämpfen bis zum Ende"
(Reuters)

Link:

Medyan Dairieh: „The Islamic State“ (VICE, Sommer 2014; englisch)