Ich wollte diesen Artikel
schon lange schreiben, doch nie ergab sich der finale Motivationsschub oder gar
die Notwendigkeit. Vielleicht ist er auch etwas provokant, was durchaus etwas Gutes
sein kann. Angesichts des 25. Jahrestages des Mauerfalls scheint mir nun jedenfalls
die passende Zeit dazu gekommen. An so einem denkwürdigen Tag neigen die Großen
der Politik nämlich zu überschwänglichen Reden und vor allem dazu, sich selbst
für etwas zu feiern, das auch nur deshalb so gut und makellos scheint, weil
sich niemand das Gegenteil für möglich zu halten erdreistet. Denn was ist die
deutsche Einheit? Und wieso neigt der politische Duktus dazu, sie als
Erfolgsmodell zu verkaufen? Doch eins nach dem anderen.
Was ist Einheit. Nirgendwo
ist die deutsche Un-Einheit so sichtbar wie auf der demografischen Landkarte,
wo sich die Grenzen zwischen den beiden Staaten von damals noch heute abzeichnen.
Helmut Kohl hatte vor zwei Jahrzehnten blühende Landschaften versprochen und ein
Vierteljahrhundert später haben wir diese blühenden Landschaften tatsächlich:
Nirgendwo ist der demografische Wandel deutlicher zu sehen als in der
ostdeutschen Provinz, wo es seit einigen Jahren wieder Wolfsrudel gibt, wo Kleinstädte
langsam aussterben und wo der Mensch wieder der Natur das Feld zu überlassen
scheint. Zwar hat Dortmund vor kurzem Leipzig als „Armutshauptstadt“ der
Republik abgelöst – was man vielleicht als innerdeutsche Annäherung bezeichnen
könnte –, doch das Bild ist immer noch verheerend: Stellt man Ost und West in den
direkten Vergleich, so sind in den neuen Bundesländern die Arbeitslosenzahlen höher,
die Menschen älter, die Neugeborenen weniger und die Perspektivlosigkeit größer.
Auch wenn bereits eine ganze Generation kein geteiltes Deutschland mehr kennt –
die Teilung auf der statistischen Karte kann schwerlich ignoriert werden. Angesichts
dieser Tatsache drängt sich nahezu die Vermutung auf: Es müssen Fehler gemacht
worden sein.
Und Fehler wurden eine ganze
Menge gemacht im Zuge der Wiedervereinigung. Das Grundgesetz sah ursprünglich
zum Beispiel vor, dass als Folge der Einheit eine gemeinsame deutsche
Verfassung per Volksabstimmung angenommen werden sollte. Doch Helmut Kohl und
die CDU befürchteten, dass sozialistische Elemente Eingang in die Struktur der
Bundesrepublik finden könnten – und schoben das Thema so lange auf, bis es
vergessen und irrelevant geworden war. Sowohl der Koalitionspartner FDP als
auch SPD und Grüne forderten eine Verfassungsdebatte, aber der entscheidende
Artikel des Grundgesetzes wurde dennoch übergangen (beziehungsweise
uminterpretiert). Das GG wurde Verfassung. Und Günter Grass äußerte sich noch
1998 über die auf diese Weise verpassten Chancen: „[Eine neue Verfassung]
schafft zwar keine Arbeitsplätze, [sie] hilft uns auch ökologisch kein Stück
weiter, aber die damit verbundene Verfassungsdiskussion, die natürlich von
allen Gruppen der Gesellschaft getragen werden müsste, wäre eine nachzuholende
Chance, die Deutschen in Ost und West wieder in grundsätzlichen Sachen ins
Gespräch miteinander zu bringen.“ – Eine verpasste Chance, die man kreativ
hätte nutzen können und wie man sie in der Gunst der Stunde schlicht hätte
ergreifen müssen, denn die Bereitschaft zu neuen, gemeinsamen Veränderungen war
durchaus da.
Die Frage der deutschen
Verfassung ist nach 25 Jahren wohl tatsächlich unbedeutend geworden. Sie hat in
einem vom Nationalstaat gelösten, europäischen Bewusstsein an Stellenwert und
auch an Relevanz verloren. Es sind deshalb vielmehr die wirtschaftlichen
Aspekte der Wende, die bis heute ihre Wirkung zeigen. Denn anstatt einer Verfassungsdiskussion
bekamen die Ostdeutschen das, was sie neben politischer Teilhabe noch viel mehr
begehrten: Mit der D-Mark kam die persönliche Freiheit – und vor allem neue
Kaufkraft. Mit den neuen Einkaufsmöglichkeiten verschwand dann alsbald auch das
Verlangen nach politischer Partizipation. Doch hier wird auf traurige Weise
deutlich: Nicht Westen und Osten haben sich vereinigt, sondern Ost wurde von
West aufgekauft. Alles Bestehende – ob schlecht oder gut – wurde ausradiert und
ersetzt. Die Treuhandanstalt (THA), eine „bundesunmittelbare Anstalt des
öffentlichen Rechts“, schlachtete ostdeutsche Betriebe der Reihe nach aus,
einen nach dem anderen. Angeschlagene Westfirmen kauften mit ihrer Hilfe teilweise
makellos arbeitende Werke im Osten und strichen staatliche Subventionen ein,
mit denen sie zuhause die gefährdeten Arbeitsplätze sicherten. Gleichzeitig
schalteten sie effektiv die mögliche Konkurrenz auf dem nunmehr gemeinsamen Markt
aus. Millionen von D-Mark versickerten in zweifelhaften Kanälen, während viele
Firmen im Osten zunächst günstig aufgekauft und schließlich aufgelöst wurden. Tausende
Menschen in der ehemaligen DDR fielen aus diesem Grund der Arbeitslosigkeit zum
Opfer und – abstrakt gesprochen – dem unbarmherzigen Kapitalismus, den sie
eigentlich begrüßt hatten. Die Talfahrt ging noch weiter: Ungeklärte
Eigentumsverhältnisse führten dazu, dass Familien sich ihre Wohnungen nicht
mehr leisten konnten. Noch heute gibt es in ostdeutschen Großstädten ganze Stadtteile,
in denen dutzende von Mehrfamilienhäusern leer stehen und dem Verfall ins Auge
blicken. – Unterdessen hatte man auf westdeutscher Seite im Grunde nur Arroganz
übrig für die neuen Mitbürger. Das System der Bundesrepublik hatte sich in der
Vergangenheit bewährt, es lief und läuft bis heute – ein Modell, das seine
eigenen Makel durch die Vielzahl seiner Vorzüge übertüncht und den Regierten
das Regiertwerden annehmlicher macht. Und so stülpte man einer Gesellschaft,
die neben all den heute oft betonten Mängeln, Ungerechtigkeiten und Verbrechen
auch 40 Jahre lang eine eigene Daseinsberechtigung entwickelt hatte, einfach
ein neues (altes) Modell über – auf allen Ebenen. Dabei wurde die gesamte ostdeutsche
Kultur zusammen mit dem SED-Regime in einen Sack gesteckt und im Mülleimer der
Geschichte entsorgt. Journalisten bekamen keinen Arbeitsplatz, sogar normale
Schriftsteller hatten es in den ersten Jahren schwer, in einer neuen Welt Gehör
zu finden. Fußballvereine aus dem Westen kauften den DDR-Mannschaften die
Spieler weg; bis heute spielt nur selten eine Ost-Mannschaft in der Bundesliga.
NVA-Generäle dürfen den Namenszusatz „a. D.“ nicht tragen – eine Ehre, die nicht
einmal ehemaligen Wehrmachtsoffizieren im westlichen Nachkriegsdeutschland versagt
war.
Diese Tatsachen, die man sich
angesichts der in diesen Tagen gefeierten schillernden Facetten der deutschen „Erfolgsstory
Wiedervereinigung“ gar nicht zu erwähnen traut, könnten durchaus als
Ungerechtigkeit bezeichnet werden. Doch die Missachtung eines Artikels des
Grundgesetzes, die Abwicklung eines Systems mitsamt seiner Menschen und die
Entsorgung einer Gesellschaft – an alledem kann man heute nicht viel mehr
ändern als sich einfach einzugestehen, dass der Anfang der gesamtdeutschen
Geschichte nicht ganz gerecht vollzogen worden ist. Als ersten von zwei wichtigen
und großen Fehlern der Einheit sollte man vielmehr anerkennen, dass Millionen
von nach Veränderung strebende Menschen einfach in ein neues, nur aus dem
Westfernsehen bekanntes System gesetzt wurden, ihre Wünsche und Erwartungen hingegen
wurden oft übergangen. Die Folgen kommen heute in Form der tiefsitzenden
Politikverdrossenheit ans Tageslicht, die sich in Sachsen und Thüringen in
Gestalt einer schockierend niedrigen Wahlbeteiligung niederschlägt. Eigentlich
gehört zum Gedenken an die Widervereinigung mehr Tadel als Lob: Man hat den
Menschen den Willen zur Demokratie madig gemacht. Die Bürgerinnen und Bürger
der DDR bekamen 1990 einen neuen Pass und wurden zwischen den vollen Regalen
der Supermärkte stehen gelassen. Dabei waren sie es doch, die damals den Anfang
machten. Der SPD-Politiker Egon Bahr, der unter Willy Brandt die bundesdeutsche
Ost-Politik nach dem Gedanken Wandel
durch Annäherung entscheidend gestaltete, bekannte sieben Jahre nach der Wiedervereinigung:
„Wir verdanken […] den DDR-Bewohnern die Einheit. Das ganze deutsche Volk hat
nach Westen geguckt. Die Westdeutschen haben nach Westen geguckt, und die
Ostdeutschen haben auch nach Westen geguckt. Die Ostdeutschen wollten die Einheit.
Die Westdeutschen wollten die Einheit gar nicht. Niemand hat gedrängt.“ So kam
es auch, dass man sich für die neuen Bürgerinnen und Bürger nicht einmal genug interessierte,
um ihnen zu erklären, wie „Deutschland“ eigentlich funktioniert. Dass man mit
dem Begriff „Solidarität“ hierzulande nichts anfangen kann, dass hier jeder für
sich selbst verantwortlich ist und dass sogar das Selbstverständnis von „Deutschland“
im Westen eben ein anderes ist. Vielleicht hätte man der breiten Masse auch
erklären müssen, dass Deutschland schon lange multikulturell ist. Und dass
diese Tatsache nicht negativ sein muss. Die Ignoranz, die man von westdeutscher
Seite den Erwartungen der Ostdeutschen – und dazu gehörte auch ein gewisser
unter der Oberfläche brodelnder und von der SED-Führung verleugneter
Nationalismus – entgegenbrachte, ist einer der Gründe für die Mischung aus orientierungsloser
Unsicherheit, Enttäuschung und Hass, die tausende Menschen zum Beispiel in
Rostock-Lichtenhagen dazu trieb, in einer pogromähnlichen Jagd ein Wohnheim für
vietnamesische Asylbewerber anzugreifen. Naive Arglosigkeit und beschämendes Desinteresse
von westdeutscher Seite könnten indirekt auch förderlich gewesen sein für den
Nährboden, auf dem Jahre später Unkraut wie der NSU gedieh.
Der zweite der zwei großen
Fehler, die im Zuge der Einheit begangen wurden, ist der fehlende Wille, sich in
Konfrontation mit einem anderen System auch mit dem eigenen
auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt durch die pauschale Ablehnung alles Ostdeutschen
war man unfähig, von den neuen Bundesbürgern zu lernen und zu profitieren – vor
allem von deren Erfahrungen, die ja andere waren als im Westen, aber auch von den
(aktuellen) Errungenschaften. Die aktuellste der ostdeutschen Tugenden war der
Wille zur Teilhabe an der gelebten Demokratie. Im Osten herrschte eine Aufbruchsstimmung,
die den Westdeutschen eher fremd war. Während die Freiheitshungrigen begannen,
sich auf dem Boden der sterbenden DDR in neuen politischen Gruppierungen zu
organisieren und an Runden Tischen zusammenzukommen, scheint der Westen verglichen
zur neuen ostdeutschen Dynamik überfordert und ihr gegenüber gleichgültig
gewesen zu sein. Es lässt sich also zusammenfassend sagen: Das größte
Versäumnis der Wende ist wohl das Unvermögen von Politik und Gesellschaft, die
dynamische Bewegung im demokratisierten Ostdeutschland in die verkrusteten
westdeutschen Strukturen hineinzutragen. Diese neue Dynamik hätte den Mächtigen
wahrscheinlich sogar gefährlich werden können. Das an vielen Enden krankende System
hat sich selbst geschützt, indem es aller anfänglicher Euphorie einen Dämpfer
vorsetzte und die Bevölkerung schnell wieder an die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten
erinnerte. Doch als Trost wird bis heute jenes Minimum an Errungenschaften, das
aus gemeinsamer Regierung, Währung, Fußballmannschaft und bundesdeutscher
Routine besteht, als erfolgreich vollzogene Einheit gefeiert – in einem
derartigen Pomp und Glanz, dass die begangenen Fehler, Versäumnisse und
verpassten Chancen genau dieser Einheit in den Schatten gestellt werden und
ihre Berechtigung, erwähnt zu werden, verlieren. Zurück bleiben jene, die
damals mehr verändern wollten als sie letztlich imstande waren und sich mit der
breiten Masse in die Politikverdrossenheit zurückgezogen haben.
Doch das ist nur (m)eine
Lesart. Natürlich ist der 9. November 2014 ein Tag zum Feiern. Vielleicht ist
es aber nicht die Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit, die wir mit
Champagner begießen sollten, sondern lediglich jener erste Schritt, der 1989
getan wurde, und auf den zu viele Schritte schlussendlich nicht mehr folgten
und auch nie mehr folgen werden. Wir sollten den heutigen Tag zum Anlass
nehmen, uns der doch so nötigen, aber in Vergessenheit geratenen Dynamik der
Ostdeutschen zu erinnern – auch im europäischen Kontext. Denn Europa ist nicht
geeint. Europa ist nicht einmal gerecht. Europa gleicht vielmehr einer riesigen
bürokratischen Baustelle mit perspektivlosen jungen Menschen im Süden, stolzen Verweigerern
auf den Britischen Inseln und ertrinkenden Bürgerkriegsflüchtlingen an den
Außengrenzen. Männer und Frauen auf der Flucht, die vor Hunger nach
persönlicher Freiheit und aus Sehnsucht nach einem besseren Leben genau dieses
verlieren. Wird in 25 Jahren irgendjemand auch diesen Menschen so gedenken, wie
man es heute für die Mauertoten in Berlin tut? Auch Europa hat dichte Grenzen. Demokratie
ist nur ein Wort, solang man sie nicht lebt. Viel weniger noch als ein Wort.
Ein Schein, eine Farce.
Heute wollen wir niemandem die Feierstunde verderben. Aber vielleicht fangen wir morgen endlich an, uns diese Gedanken zu machen. In diese Sinne: Happy Mauerfall...!
Heute wollen wir niemandem die Feierstunde verderben. Aber vielleicht fangen wir morgen endlich an, uns diese Gedanken zu machen. In diese Sinne: Happy Mauerfall...!
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