Montag, 16. Februar 2015

Rosenmontag in Köln & Bonn

Karneval ist für viele Menschen Sinnbild eines Schreckensszenarios: Zerbrochene Bierflaschen soweit das Auge blicken kann, Erbrochenes und Konfetti, vollgepinkelte Hauseingänge. In der Zeit zwischen Donnerstag (Weiberfasnacht) und Aschermittwoch drehen die Menschen im Rheinland durch, wahrscheinlich mehr als irgendwo sonst in Deutschland. Es herrscht der vollkommene Ausnahmezustand. Sogar Rewe macht am Donnerstag früher zu, Friseure und Antiquariate haben an Weiberfasnacht generell geschlossen. Alles in allem hält der jahrhundertealte Brauch des Feierns vor der vierzigtägigen Fastenzeit die Rheinländer mehr auf Trab als Weihnachten.


Was andernorts in der Bundesrepublik Fasching heißt, trägt in Köln den Namen „Fastelovend“. Der Rosenmontag ist traditionell Höhepunkt des Karnevals und bietet mit seinem Rosenmontagszug ein unvergleichliches Spektakel: Die Strecke des Umzugs ist knapp sieben Kilometer lang, die Straße wird gesäumt von knapp einer Million Menschen – unter die ich mich dieses Jahr gemischt habe. Beim Kölner Karneval sind so gut wie alle Zuschauer verkleidet, von der kitschigen Plastik-Blumenkette (oftmals Überbleibsel aus Zeiten der Fußballweltmeisterschaft) über Bären- und Bienenkostüme oder Minions bis hin zu wirklich ausgefuchsten oder ungewöhnlichen Verkleidungen wie Barockgestalten oder britische Gardesoldaten. Alle stehen am Rand und fangen Süßigkeiten („Kamelle“) auf. Je nach Alkoholpegel werden die Schreie nach Süßem lauter und das wilde Gestikulieren mit den Armen stärker. Und vonseiten der Karnevalisten wird scharf geschossen: Während der gewöhnliche Bonbon quasi durch die Luft segelt, kann man hier und da immer wieder förmlich hören, wie Schokoladentafeln einer unbehelmten Zuschauerin oder einem unachtsamen japanischen Touristen gegen den Kopf knallen. Die Freude hierüber ist jedoch unermesslich und man bedauert bloß, nicht von einer der äußerst raren Schachteln voller Schnapspralinen getroffen worden zu sein. (Insgesamt wurden heute 300 Tonnen Kamelle in Köln unters Volk gebracht.)


Während die Karnevalsvereine vorbeiziehen gibt es Musik – mal von einem der marschierenden Orchester, mal aus dem Lautsprecher. Jeder neue Verein wird mit „Kölle alaaf“ begrüßt. Der Einheizer von der Galeria-Kaufhof-Bühne etabliert auch schon gleich zu Beginn den Slogan „Galeria Kaufhof alaaf!“ – das gehört hier wohl einfach dazu. Funkenmariechen, rot und blau Uniformierte mit Blasinstrumenten, Tanzgruppen und bonbonschleudernde Rentner auf festlich geschmückten oder politisch ausgerichteten Festwagen ziehen vorbei. Der 1. FC Köln ist präsent und auch Charlie Hebdo wird indirekt thematisiert: Der allererste Wagen zeigt einen Karnevalisten, der einen Bleistift („Narrenfreiheit“) gießt.


Eine belgische Besucherin erzählt mir, dass sie von der Organisation und Ordnung erstaunt sei, die hier an den Tag gelegt wird. In Belgien, wo es kleinere Umzüge gebe, breche jedes Jahr Chaos aus. Nicht hier in Köln. Am Rande des Umzuges versorgen die Sanitäter zwar den einen oder anderen Fall von Selbstüberschätzung was Alkohol angeht, aber die Menge braucht in vielen Straßen nicht einmal Absperrungen, um dem Zug freies Geleit zu geben. Unmittelbar unter dem Dom und vor dem Hauptbahnhof ist jedoch jeder Stehplatz vergeben und die Menschen drängen sich hinter den Absperrgittern.


In der ganzen Stadt ist es schwer voranzukommen, und der Weg zurück zum Bahnhof wird noch immer einige Male von der Route des Umzugs gekreuzt, weshalb sich die U-Bahn als Rückzugsmittel anbietet. Am frühen Nachmittag sind auch viele verkleidete Leute schon auf dem Heimweg oder auf dem Sprung zur nächsten Location. Ich fahre zurück nach Bonn und denke irgendwie, dass auch dort das Gröbste schon gelaufen sein wird. Schließlich begann der Kölner Umzug um 10.11 Uhr vormittags. Dieser Rückschluss erweist sich jedoch als falsch. Meine geliebte Bonner Altstadt ist wortwörtlich der Mittelpunkt des hiesigen Geschehens, der Karnevalszug – der in Bonn erst um 12.11 Uhr begonnen hat – zieht sogar direkt vor meiner Haustür vorbei.


Auf den umliegenden Straßen gibt es kein Durchkommen. Tausende Menschen in Feierlaune, Feuerwehr, Eltern mit kleinen Kindern, gleichermaßen kostümiert wie betrunkene Nachbarn und Nachbarinnen. Es grenzt geradezu an Kulturschock. Und trotzdem, die Altstadt von Bonn (die eigentlich gar nicht die wirkliche Altstadt ist) als Wohnort gewählt zu haben beschert mir zum ersten Mal einen Logenplatz am Küchenfenster.


Man will gar nicht daran denken, was da bis morgen früh an Müllbergen und (zumeist reparablen) Schäden zurückbleiben wird, aber momentan empfinde ich noch so etwas wie Begeisterung. Fasching war nie mein Fall, aber Kultur ist eben nicht nur nüchtern und leise. Gesellschaftliche Rituale erfüllen alle einen Zweck und der Karneval erfüllt so auch seinen: Obwohl man im 21. Jahrhundert eigentlich jeden Tag die persönliche Freiheit ausschöpfen kann, so bietet der Karneval zusätzlich noch die Möglichkeit närrisch zu sein. Ordnung regiert den Alltag das ganze Jahr über. Und selbst wenn die VIP-Bühnen manchmal mehr Kamelle abzubekommen scheinen, so hebt Närrischkeit trotzdem ein stückweit die gesellschaftliche Grenzen auf.

Dienstag, 10. Februar 2015

"Freeing The Slave Women Of ISIS" (BBC Arabic)

Eine Reportage von BBC Arabic über die vom IS verschleppten Frauen im Nordirak und die Bemühungen, die Entführten wieder zurückzubringen. Die kurdische Journalistin Nareen Shammo hat ihren Job aufgegeben, um mit IS-Kämpfern zu verhandeln und gekidnappte Jesidinnen zu befreien.


In der Reportage kommen schockierende Details ans Tageslicht. Als der IS den nordirakischen Ort Shingal eroberte, wurden tausende von Menschen verschleppt und verkauft. Junge Frauen werden von IS-Kämpfern zu einem lächerlichen Preis ersteigert und geheiratet. Einige von ihnen müssen sogar Blut spenden für verwundete Kämpfer. Nareen Shammo kontaktiert entführte Frauen oder ihren Entführer, macht die Opfer über Facebook ausfindig und besucht ihre Familien. In dieser sehr emotionalen BBC-Reportage kommen die Opfer zu Wort, ihre Angehörigen, die unmittelbar Betroffenen. Die erschütternden Berichte und die Art und Weise, wie mit der Problematik umgegangen wird, ermöglichen einen Blick aus unbekannter Perspektive auf die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche im Nordirak.

Samstag, 7. Februar 2015

Zum Selbstverständnis vom Charlie Hebdo

Dieses Video von VICE könnte all denen etwas von dem Selbstverständnis von Charlie Hebdo vermitteln, die bis heute an der Relativierung „Naja, aber sie haben es ja auch provoziert…“ festhalten und den Eindruck haben, es handle sich bei der Zeitschrift lediglich um ein islamfeindliches Schmähblatt. VICE-Reporterin Milène Larsson hat sich mit einem der überlebenden Karikaturisten der französischen Satirezeitschrift getroffen.


Der Karikaturist Luz (eigentlich Renald Luzier) erzählt vom Tag des Anschlags, wie er ihn überlebte und warum er heute einen Gürtel trägt. Doch es wird auch ein wenig mehr deutlich, was Charlie Hebdo eigentlich ist. „Charlie ist ein satirisches Magazin, mehr oder weniger anarchistisch.“ Es sei seit den 1960er Jahren bestrebt, Tabus zu brechen sowie Symbole und jegliche Form von Fanatismus zu attackieren. Es war 2007 die einzige Zeitschrift in Frankreich, welche die dänischen Mohammed-Karikaturen veröffentlichte. Damals wurden sie als Provokateure bezeichnet, eine Abbildung des Propheten auf der Titelseite hatte zur Folge, dass die Büros von Charlie Hebdo niedergebrannt wurden. Nach dem Attentat vom Januar 2015 wurde Charlie Hebdo selbst zu einem Symbol – was Luz sehr kritisch sieht, denn Symbole hätte die Zeitschrift ja schließlich bekämpft.
Eine wichtige Antwort gibt Luz auf die Frage, ob er manchmal nicht besorgt sei, die Cartoons könnten die Gefühle der muslimischen Gemeinde verletzen. „Ich denke, dass Charlie Hebdo den meisten Muslimen egal ist.  Jene, die behaupten, alle Muslime seien beleidigt, halten Muslime für schwachsinnig“, sagt er. „Wir halten Muslime nicht für Schwachsinnige.“ Luz erzählt von einer bewegenden Begegnung mit einem Muslim auf der Beerdigung von Charb, dem Zeichner Stéphane Charbonnier, und meint dann: „Ich bin nicht gegen den Glauben der Menschen. Ich will Rabbis, Priester, Mullahs kritisieren – Menschen, die den Glauben anderer als politische und nicht immer als friedliche Angelegenheiten betrachten. Und das werde ich auch weiterhin tun.“ Der Zeichner berichtet auch von der Demonstration, an der (abseits, in einer abgesperrten Straße) auch die Staatschefs mehrerer Länder teilnahmen. Dabei bringt er auch zum Ausdruck, dass er es heuchlerisch findet, wenn der saudische König sich der Aussage „Je suis Charlie“ anschließt, gleichzeitig aber den Blogger Badawi in seiner Heimat auspeitschen lässt. Die Staatschefs sollten ihren Bürgern erlauben, über sie zu lachen, meint er.

Eine kurze Info zu meiner Motivation dahinter, fertige Reportagen in mein Blog einzubauen und zu kommentieren: Ich bin ein großer Fan von VICE und finde es bedauerlich, dass es viele Videos und Reportagen nur auf Englisch zu sehen gibt. Um die meist großartigen Reportagen und Interviews auch denjenigen zugänglich zu machen, die eher ungern englische Videos schauen, gebe ich hier zumindest einen kurzen Kommentar ab. Natürlich fließen hier auch meine eigenen Wertungen und Kommentare ein. Dies bitte ich zu berücksichtigen.

Donnerstag, 5. Februar 2015

Die Propaganda-Abteilung des IS (Teil 2)

Heute befassen wir uns mit einem IS-Video, das nicht zu den Kategorien Nasheed (Musikvideo) oder Grußvideo gehört. Ich war mir nicht ganz sicher, wie dieses Filmchen einzuordnen ist, doch am nächsten kommt vielleicht die Bezeichnung Reportage.  

A Visit To Mosul“ bringt das Publikum ins Herz des Islamischen Staates und an die aktuelle Kraftquelle der Terrorbewegung. Seit Mitte Juni 2014 befindet sich die Stadt in der Macht des IS und ist seither einer schaurigen Entwicklung ausgesetzt: Christen wurden vertrieben oder zur Konversion gezwungen, Jesiden in der Umgebung mussten flüchten und waren in isolierten Bergregionen zeitweise dem Hungertod ausgesetzt. In Mosul selbst begann der IS, Kirchen zu Moscheen umzuweihen und schiitische Schreine, Grabstätten und Gotteshäuser mit Dynamit oder Vorschlaghämmern dem Erdboden gleich zu machen. Nun ist Mosul die Hauptstadt des „Wilayat Ninawa“, des Verwaltungsbezirks Ninive. 
Zu Beginn des Videos werden Passanten gefragt, wie sich die Situation seit der „Befreiung“ durch den IS verändert habe. Natürlich gibt es nur positive Resonanz: „Es gab [früher] Verhaftungen. Verhaftungen ohne Gnade“, erzählt einer der Befragten. Straßenblockaden, unbeschreibliche Ereignisse. Doch die Behandlung der Menschen durch die Soldaten des Islamischen Staates sei sehr gut. „Es gibt keine Probleme mit der Behandlung.“ – Nach dem kurzen Interview folgt der eigentlich interessante Teil: Ein bärtiger, mutmaßlich tschetschenischer Kämpfer beschreibt die Eroberung der Millionenstadt. Er steht auf einer Autobahnbrücke und erzählt, wie die irakischen Truppen nach der Tötung eines Offiziers aus der Stadt flohen und Waffen und Ausrüstung zurückließen. Als nächstes nimmt der dschihadistische „Tour Guide“ die Zuschauer mit zur Großen Moschee von Mosul. „Mit der Ankunft des Islamischen Staates nahm der Islam in einem völlig neuen Weg Eingang in das Leben der Bewohner“, erzählt er, während zwei Männer gezeigt werden, die mit einem Auto durch die Straßen fahren und durch Lautsprecher etwas verkünden. Auf einem Schild steht „Hisba“ (حسبة), es handelt sich dabei wohl um eine Art Religionspolizei oder eher noch „Ordnungsamt“. Während die Straßenszenen mit der Kamera aufgefangen werden, berichtet der Erzähler stolz: „Viele Christen, die in der Stadt geblieben sind, sind jetzt interessiert am Islam, weil sie den wahren Islam gesehen haben, wie er umgesetzt wird und welche Ergebnisse er für alle Aspekte des Lebens bringt.“ Viele christliche Familien würden nun den Islam annehmen. Etwas zynisch – aber vom Erzähler wohl tatsächlich als Errungenschaft wahrgenommen – wirkt der Bericht darüber, dass „erst vor kurzem 130 jesidische Männer den Islam angenommen“ hätte. „Und wie Ihr wisst, sind die Jesiden Teufelsanbeter.“ Der Islam verbreite sich mit Wort und Schwert. Und aller Lob gebühre Allah…
Letzte Station der „Reportage“ ist der bekannte Scharia-Gerichtshof von Mosul. Denn die Durchsetzung der Scharia für alle Lebensbereiche sei der fundamentale Unterschied zwischen säkularen Staaten und dem Islamischen Staat. In den letzten zwei Monaten seien an diesem Gericht mehr als 1.000 Fälle behandelt worden, sagt der Reporter. Ein Beweis dafür, dass das Vertrauen der Menschen in den Islamischen Staat ungebrochen sei.


Das Video ist von der Machart her den von mir in Teil 1 gezeigten Produktionen ähnlich, was Effekte und Qualität angeht. Es fällt zudem auf, dass sich dieses Video an russisches oder tschetschenisches Publikum richtet. Dennoch wird das Gesagte durch Untertitel auch auf Englisch und Arabisch wiedergegeben. Ich bin mir nicht sicher, welcher Kategorie man dieses Video zuordnen kann, aber es trägt ganz klar Züge einer Reportage. Es gibt Interviews mit Passanten oder Offiziellen, Straßenszenen und Aufnahmen des Gebets, während der Kampfveteran das Publikum mit Informationen versorgt. Wenn er selbst ins Bild kommt, steht er meistens, doch im letzten Abschnitt geht er die Treppe des Scharia-Gerichtshofes hinauf, während er erzählt – und erinnert dabei fast zwangsläufig an amerikanische Dokumentationen, in denen der Reporter gerne gestikulierend eine Straße entlanggeht oder Treppenstufen ersteigt. Während diese Elemente zunehmen, werden andere Effekte seltener. Hintergrundmusik setzt erst im letzten Fünftel des Videos ein, schwarze Fahnen treten etwas weniger vehement auf. Bilder von Toten, die der Abschreckung dienen sollen, fehlen gänzlich. In der letzten Minute werden aber trotzdem Zeitlupe und Zeitraffer eingesetzt, fast so als sei dieses Merkmal charakteristisch für die zynische Verspieltheit der Produzenten des Al-Hayat Media Center. Als wolle es das Video, das die Ideologie eines kunst- und humorlosen Herrschaftsgebildes in die Welt tragen soll, doch um eine kunstvolle Nuance ergänzen. Und um dem Ganzen einen gewichtigen Schlusspunkt zu setzen, zeigen die Macher am Ende, als der Gerichtsbeamte aus dem Koran zitiert, ein Minarett, über dem die schwarze Fahne des IS weht. Willkommen im Kalifat, wo Recht und Ordnung herrscht. Diese Botschaft geht – wie wir gesehen haben – auf den verschiedensten Sprachen und auf unterschiedlichen Wegen hinaus in die Welt. Die wichtigste Erkenntnis für die Beobachtenden mag aber sein, dass der IS auf keinen Fall zu unterschätzen ist, was seine strukturgebenden Fähigkeiten angeht: Diese Videos bleiben nur Videos, Erzeugnisse einer Propagandamaschinerie, doch trotzdem geben sie dem Experiment „Terrorgruppe gründet Staat“ eine gewisse Festigkeit und Stabilität sowie eine Repräsentanz, die fast ganz ohne hohe Abgeordnete auskommt, sondern sich hauptsächlich auf (insgeheim wahrscheinlich verängstigte) Passanten und Ex-Frontkämpfer beruft.

Mittwoch, 4. Februar 2015

Die Propaganda-Abteilung des IS (Teil 1)

Wie sieht Öffentlichkeitsarbeit von Terroristen aus? Heute möchte ich unseren Blick auf das Al-Hayat Media Center, die Propaganda-Abteilung des Islamischen Staates, und vor allem auf seine Videos lenken. Public Relations spielen auch im Dschihadismus eine wichtige Rolle. Während Osama bin Laden seinerzeit in unregelmäßigen Abständen Drohbotschaften gegen die USA in die Welt sendete und sich die Youtube-Channels der meisten Terrorgruppen durch verwackelte Handyvideos von nächtlichen Kampfszenen auszeichnen, fährt der IS mittlerweile ganz andere Kaliber auf. Mehrminütige Videos, raffiniert zusammengeschnitten und qualitativ hochwertig. Es soll scheinbar mehr auf die Leinwand gebracht werden als nur Dschihad und Geballer.

Wie die meisten Videos aus islamistischer oder dschihadistischer Produktion arbeiten auch die Filme des IS mit Musik. Bei manchen von ihnen bleibt die Musik im Hintergrund, anderswo ist sie Trägerin der eigentlichen Botschaft. Im folgenden Video spielt der Nasheed, die a-cappella-Lobpreisung des Propheten (oder in diesem Fall: des Kalifen), eine zentrale Rolle. Es ist ein deutschsprachiges Video, das sich an muslimisches Publikum richtet:

[Warnung: Zwischen 2:29 und 3:05 wird eine sehr unschöne Aufnahme eines toten kurdischen Kämpfers gezeigt.]


In diesem kurzen Film wird all das deutlich, was eine Produktion von Al-Hayat Media Center ausmacht: Gesang und Lobpreisung des Kalifen auf der Audio-Ebene, die schwarze Fahne des Propheten, Kämpfer auf Pferden und in den Sonnenuntergang ziehende Dschihadisten auf der visuellen Ebene. Bemerkenswert ist der Einsatz von Effekten – erbebender Boden beim Abschuss einer Mörsergranate, bewegte Aufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven. Vor allem mit Zeitlupen wird gearbeitet, einzelne Abschnitte innerhalb bestimmter Sequenzen werden im Tempo verlangsamt, um gezielt Elemente wie etwa vorbeifahrende Panzer oder einen Jungen, der die schwarze Fahne des IS über eine Straße trägt, hervorzuheben. Zu diesem Zweck wird auch mit Schärfen und Unschärfen gespielt.
Ein weiteres Element, das in keinem der zahlreichen IS-Videos fehlt, sind die vielen kampferprobten Männer, die sich in den wenigen Pausen, die der Dschihad ihnen bietet, versammeln um zu beten, ihrem Kalifen die Treue zu schwören und sich an mehreren Stellen in den Videos kameradschaftlich umarmen. Ob am Ende eines Gebets oder anlässlich eines Sieges – Kameradschaft und Umarmungen spielen eine wichtige Rolle.

Doch wieso? Und hier kommen wir auch schon zum Sinn und Zweck dieser Videos: Während die ersten unkoordinierten Produktionen des IS noch Szenen der Eroberung irakischer und syrischer Armeestützpunkte zeigten, hat sich der Fokus nun gewandelt. In jungen muslimischen Männern aus aller Welt soll nicht mehr nur der Kampfesgeist geweckt werden. Anstelle das blutige Gemetzel zu zeigen, das der IS zwischen Euphrat, Tigris und Mittelmeer anrichtet, wird vielmehr die Illusion eines islamischen „Staates“, eines funktionierenden Kalifats in den Mittelpunkt gerückt, in dem neben (radikal ausgelegtem islamischen) Recht und Ordnung auch vor allem die Männerfreundschaft unter Kameraden und Kampfgenossen herrscht. Die IS-Propagandaabteilung versucht, das Bild einer Oase inmitten einer Wüste von Ungläubigen zu zeichnen. Hierbei füllen Kalaschnikows, Panzer und Raketen zwar noch eine Rahmenfunktion aus, doch der Trend geht zu befriedeten Straßen, im Park spielenden kleinen Jungen oder auch zu Besuchen im Scharia-Gerichtshof (ein Beispiel folgt im nächsten Teil der Reihe).
Das nächste Beispielvideo wurde anlässlich des Eid al-Fitr, dem islamischen Fest des Fastenbrechens zum Ende des Monats Ramadan, im Sommer 2014 veröffentlicht und übermittelt die Grüße verschiedener Dschihadisten an ihre „Brüder“ im Rest der Welt. Das Video beginnt mit einer längeren Gebetsszene in der Hauptmoschee des IS im irakischen Mosul. Dann folgen verschiedene Szenen, in denen kleine Jungen instrumentalisiert werden und „Allahu Akbar“ singen und rufen. Schließlich kommen die Grüße, die dem Video den Titel „Eid Greetings from the Land of Khilafa“ („Eid-Grüße aus dem Land des Kalifats“) gegeben haben. Abu Abdullah al-Habashi aus Großbritannien spricht ein Grußwort, Abu Shua’ib as-Somali aus Finnland kommt zu Wort und reitet auf einem Esel über eine Kreuzung. Zwischendurch verteilen Männer Spielzeugpistolen an Kinder im Park. Ein belgischer Dschihadist wendet sich sogar auf Flämisch an seine Glaubensgenossen (14:00).


Auffällig ist vor allem in diesem Video, dass keine einzige Frau auf den Straßen, im Park, oder generell in der Öffentlichkeit zu sehen ist. In der islamischen Welt kommt Frauen traditionell verstärkt die Rolle der Hausfrau und Mutter zu, was sie jedoch nicht aus dem öffentlichen Leben und alltäglichen Straßenszenen ausschließt. Im Islamischen Staat sind Frauen jedoch in die Häuser verbannt, die Straße bleibt den Männern vorbehalten. Ob diese Diskriminierung auch in der Realität so durchgesetzt wird lässt sich mit Sicherheit kaum feststellen, doch in den PR-Videos wird dieses Bild (bewusst) vermittelt.

Wo wir auch schon beim viel interessanteren Teil der Analyse wären: Was können wir anhand der Propaganda-Videos des IS an Einblicken in das Innerste der Bewegung gewinnen? Diese Art von Videos unterscheidet sich nämlich von jenen, die abschrecken sollen (Hinrichtungen, v.a. Enthauptungen ausländischer Geiseln), und solchen, die durch Kampfszenen einfach nur die Abenteuerlust vieler junger Männer ansprechen. Die aufwändigen Produktionen von Al-Hayat Media Center versuchen ein (trotz aller Waffen und der zynischen Botschaften) harmonisches Bild darzustellen. Dennoch zeigen sie uns vor allem das, was die Terroristen uns sehen lassen wollen. Man bekommt keine getöteten Jesiden zu Gesicht, keine gesprengten schiitischen Schreine und keine vertriebenen Christen. Die Beter in der Moschee von Mosul sind ausgewählt, die Jungen im Park sind naive Kinder und Jugendliche. Die bärtigen Männer, die sich in ihrer Landessprache an die Daheimgebliebenen richten, offenbaren ihre eigene Identität, verbrennen teilweise vor den IS-Kameras ihre Pässe. Sie sind sich ihrer Sache sicher. Sie kämpfen nicht einmal mehr nur für eine verzerrte Paradiesvorstellung, sondern sie opfern sich bereitwillig einem Staat, der in losen Grenzen schon lange besteht. Ein wichtiges Mittel, um den Islamischen Staat zu festigen, sind neben Waffen und Männern auch die Propagandavideos. Sie locken neue Kämpfer an, heben die Moral der Alten und bauen mit an dem Bild eines Staates, der zum Schrecken der ganzen Welt zu existieren begann. Das Kalifat ist ein funktionierendes System und es heißt alle Gläubigen willkommen, sich hier niederzulassen – das ist die Botschaft.

Die hier vorgestellten Videos sind nur zwei Beispiele für das Propaganda-Repertoire des IS: Nasheed-Videos und Grußworte. Mit weiteren Kategorien beschäftige ich mich in späteren Beiträgen, so auch mit einem Video in russischer Sprache (mit arabischen und englischen Untertiteln), in dem ein einzelner Protagonist vom Leben im IS erzählt und das uns wiederum einen anderen Blickwinkel mit wertvollen Einblicken bietet.

Dienstag, 3. Februar 2015

Music: "Up The Wolves" by The Mountain Goats

Normally I don’t write about songs and lyrics. The reason for that might be a certain lack of specific taste for music that I did or didn’t develop over the years. Nevertheless, this one I found interesting:


I didn’t really love it when we had to do interpretation work on poetry at school. What’s the use of that anyway? As far as I experienced it you can never be certain about the meaning of any phrase in any poem or lyrics unless you ask the composer, poet or writer himself (or herself). And even then you can never be sure about anything. However, this song by The Mountain Goats caught my attention when I watched The Walking Dead. It was released in 2005 and combines elements of revenge, relief, and maybe a sense of revolution. “There'll always be a few things, maybe several things / That you're gonna find really difficult to forgive” – But the day will come when these feelings will fall off eventually. In this song the great relief culminates in revenge, even brutality to an epic extend: “I'm gonna bribe the officials / I'm gonna kill all the judges / It's gonna take you people years / To recover from all of the damage.” But what is the actual message this song carries to the listener’s minds? Let’s ask singer John Darnielle himself:

I'm always trying to figure out what to say about this god damn song. Part of me wants to say look it's about revenge, but as soon as I say that... no, that's not quite it. Part of me wants to say it's about the satisfaction of not needing revenge... and I say no, that some new age stuff. I think it's a song about the moment in your quest for revenge when you learn to embrace the futility of it. The moment when you know that the thing you want is ridiculous and pompous and a terrible thing to want anyway. The direction in which you're headed is not the direction in which you want to go, yet you're going to head that way a while longer anyway cause that's just the kind of person you are.” (Darnielle at Bowery Ballroom, 2007)

Thus, the chorus becomes the most important part of this song:

Our mother has been absent
Ever since we founded Rome
But there's gonna be a party
When the wolf comes home.

Romulus and Remus, the two wolves that founded the Eternal City, were abandoned by their mother. But nevertheless, Darnielle makes them having a party when she returns. This song is about how you’re going to be alright, Darnielle said at another occasion. So, revenge might be the wrong way to go and in the end it’s a path you eventually don’t even find worth going. And in my point of view, that is a very encouraging conclusion and a nice message, too. One day...? – One day I don’t even care anymore and it will be quite well.