Karneval ist
für viele Menschen Sinnbild eines Schreckensszenarios: Zerbrochene Bierflaschen
soweit das Auge blicken kann, Erbrochenes und Konfetti, vollgepinkelte
Hauseingänge. In der Zeit zwischen Donnerstag (Weiberfasnacht) und
Aschermittwoch drehen die Menschen im Rheinland durch, wahrscheinlich mehr als irgendwo
sonst in Deutschland. Es herrscht der vollkommene Ausnahmezustand. Sogar Rewe
macht am Donnerstag früher zu, Friseure und Antiquariate haben an
Weiberfasnacht generell geschlossen. Alles in allem hält der jahrhundertealte
Brauch des Feierns vor der vierzigtägigen Fastenzeit die Rheinländer mehr auf
Trab als Weihnachten.
Was
andernorts in der Bundesrepublik Fasching heißt, trägt in Köln den Namen „Fastelovend“.
Der Rosenmontag ist traditionell Höhepunkt des Karnevals und bietet mit seinem
Rosenmontagszug ein unvergleichliches Spektakel: Die Strecke des Umzugs ist
knapp sieben Kilometer lang, die Straße wird gesäumt von knapp einer Million
Menschen – unter die ich mich dieses Jahr gemischt habe. Beim Kölner Karneval sind
so gut wie alle Zuschauer verkleidet, von der kitschigen Plastik-Blumenkette
(oftmals Überbleibsel aus Zeiten der Fußballweltmeisterschaft) über Bären- und
Bienenkostüme oder Minions bis hin zu wirklich ausgefuchsten oder
ungewöhnlichen Verkleidungen wie Barockgestalten oder britische Gardesoldaten. Alle
stehen am Rand und fangen Süßigkeiten („Kamelle“) auf. Je nach Alkoholpegel
werden die Schreie nach Süßem lauter und das wilde Gestikulieren mit den Armen
stärker. Und vonseiten der Karnevalisten wird scharf geschossen: Während der
gewöhnliche Bonbon quasi durch die Luft segelt, kann man hier und da immer
wieder förmlich hören, wie Schokoladentafeln einer unbehelmten Zuschauerin oder
einem unachtsamen japanischen Touristen gegen den Kopf knallen. Die Freude
hierüber ist jedoch unermesslich und man bedauert bloß, nicht von einer der
äußerst raren Schachteln voller Schnapspralinen getroffen worden zu sein. (Insgesamt wurden heute 300 Tonnen Kamelle in Köln unters Volk gebracht.)
Während die
Karnevalsvereine vorbeiziehen gibt es Musik – mal von einem der marschierenden
Orchester, mal aus dem Lautsprecher. Jeder neue Verein wird mit „Kölle alaaf“
begrüßt. Der Einheizer von der Galeria-Kaufhof-Bühne etabliert auch schon
gleich zu Beginn den Slogan „Galeria Kaufhof alaaf!“ – das gehört hier wohl
einfach dazu. Funkenmariechen, rot und blau Uniformierte mit Blasinstrumenten,
Tanzgruppen und bonbonschleudernde Rentner auf festlich geschmückten oder
politisch ausgerichteten Festwagen ziehen vorbei. Der 1. FC Köln ist präsent
und auch Charlie Hebdo wird indirekt thematisiert: Der allererste Wagen zeigt
einen Karnevalisten, der einen Bleistift („Narrenfreiheit“) gießt.
Eine
belgische Besucherin erzählt mir, dass sie von der Organisation und Ordnung
erstaunt sei, die hier an den Tag gelegt wird. In Belgien, wo es kleinere
Umzüge gebe, breche jedes Jahr Chaos aus. Nicht hier in Köln. Am Rande des
Umzuges versorgen die Sanitäter zwar den einen oder anderen Fall von
Selbstüberschätzung was Alkohol angeht, aber die Menge braucht in vielen Straßen
nicht einmal Absperrungen, um dem Zug freies Geleit zu geben. Unmittelbar unter
dem Dom und vor dem Hauptbahnhof ist jedoch jeder Stehplatz vergeben und die
Menschen drängen sich hinter den Absperrgittern.
In der
ganzen Stadt ist es schwer voranzukommen, und der Weg zurück zum Bahnhof wird
noch immer einige Male von der Route des Umzugs gekreuzt, weshalb sich die
U-Bahn als Rückzugsmittel anbietet. Am frühen Nachmittag sind auch viele
verkleidete Leute schon auf dem Heimweg oder auf dem Sprung zur nächsten
Location. Ich fahre zurück nach Bonn und denke irgendwie, dass auch dort das
Gröbste schon gelaufen sein wird. Schließlich begann der Kölner Umzug um 10.11
Uhr vormittags. Dieser Rückschluss erweist sich jedoch als falsch. Meine
geliebte Bonner Altstadt ist wortwörtlich der Mittelpunkt des hiesigen
Geschehens, der Karnevalszug – der in Bonn erst um 12.11 Uhr begonnen hat –
zieht sogar direkt vor meiner Haustür vorbei.
Auf den
umliegenden Straßen gibt es kein Durchkommen. Tausende Menschen in Feierlaune,
Feuerwehr, Eltern mit kleinen Kindern, gleichermaßen kostümiert wie betrunkene
Nachbarn und Nachbarinnen. Es grenzt geradezu an Kulturschock. Und trotzdem,
die Altstadt von Bonn (die eigentlich gar nicht die wirkliche Altstadt ist) als
Wohnort gewählt zu haben beschert mir zum ersten Mal einen Logenplatz am
Küchenfenster.
Man will gar
nicht daran denken, was da bis morgen früh an Müllbergen und (zumeist
reparablen) Schäden zurückbleiben wird, aber momentan empfinde ich noch so
etwas wie Begeisterung. Fasching war nie mein Fall, aber Kultur ist eben nicht
nur nüchtern und leise. Gesellschaftliche Rituale erfüllen alle einen Zweck und
der Karneval erfüllt so auch seinen: Obwohl man im 21. Jahrhundert eigentlich jeden
Tag die persönliche Freiheit ausschöpfen kann, so bietet der Karneval zusätzlich
noch die Möglichkeit närrisch zu sein. Ordnung regiert den Alltag das ganze Jahr über. Und selbst wenn die VIP-Bühnen manchmal mehr Kamelle abzubekommen scheinen, so hebt Närrischkeit trotzdem ein stückweit die gesellschaftliche
Grenzen auf.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen