Freitag, 25. Oktober 2013

Gedanken zu Europa

„Es gibt in Deutschland keine millionenfache Grundrechtsverletzung.“ – Das waren die Worte von Kanzleramtsminister Ronald Pofalla am 12. August, mit denen er die NSA-Affäre für beendet erklärte. Die damals bestehenden Vorwürfe waren es scheinbar nicht wert, dass man groß über sie diskutieren wollte. Außerdem war Wahlkampf und das Thema war schneller vom Tisch als die NSA „Snowden“ buchstabieren kann. Da wirkt es irgendwie befremdlich, dass nun eine einzige Grundrechtsverletzung für so viel Wirbel sorgt. Gut, zuvor waren ja „nur“ die Bürger ausgespäht worden, jetzt allerdings geht es um die Verletzung unserer Souveränität in Gestalt von Angela Merkel. Der US-Geheimdienst soll sich virtuell auf dem Handy der Kanzlerin umgesehen haben und erntet nun Kritik, strenge Worte und heftige, aber irgendwie hilflose Bestürzung. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel stehen die Politiker Europas mit der starken Frau aus Deutschland Schulter an Schulter. Merkel verkündet, dass es nicht mehr nur um gute Worte ginge, sondern um wirkliche Veränderungen. Auch in den USA regt sich mittlerweile Widerstand gegen die neugierigen Augen der Obrigkeit. Es ginge nicht an, dass ein Staat seine Bürger ausspioniere, heißt es auf einem von Hollywood-Stars veröffentlichten Video. „In einem Überwachungsstaat ist die Demokratie tot“, sagt Schauspieler John Cusack warnend in die Kamera. Allerdings ist in den US-amerikanischen Widerstandsnestern meist nur die Rede von den eigenen citizens. Auf der anderen Seite des Großen Teichs sorgt sich kaum jemand um das Wohl der europäischen Verbündeten. Die Geheimdienste der USA verteidigen die Souveränität Amerikas – politisch, militärisch und auch wirtschaftlich. Wenn sie dabei sogar die Rechte ihrer eigenen Schützlinge übergehen, wie egal müssen ihnen dann die unseren sein?

War die Bundesregierung die ganze Zeit zu naiv? Auf jeden Fall. Hätte man von Anfang an aus der Wartehaltung herausrücken und Klartext reden sollen? Sicherlich. Doch wahrscheinlich war die Bundesregierung – wie die meisten Regierungen – zu verunsichert, zu überfordert und möglicherweise zu schwach.
Doch was würde es ändern, wenn wir Obama nur aufforderten, seine NSA endlich unter Kontrolle zu bekommen, und auf irgendwelche Abkommen drängten, die in der Welt der Geheimdienste lediglich beschriebenes Papier ohne nennenswerten Inhalt darstellten? Am Ende wäre der durchschnittliche Europäer, ob er jetzt Leichen im Keller oder Bomben in der Garage hat, genauso transparent einsehbar wie im Moment. Um die Wahrung unserer Rechte zu garantieren, müssen wir anders reagieren – nicht nur als einzelne Nationalstaaten, sondern als starkes, geeintes Europa.

Europa braucht eine transnationale Souveränität – heute mehr denn je

Heute Morgen hat der SPD-Politiker Martin Schulz bei Beckmann einen interessanten Aspekt angesprochen, den ich aufgreifen und gegebenenfalls erweitern möchte: Ein Land wie Malta hätte heute keine Chance, den USA auf Augenhöhe begegnen zu können. Selbst ein größerer Staat wie Deutschland hat diese Chance nur noch scheinbar, meinte er. Was Europa brauche, sei eine transnationale Souveränität.
Und damit hat er Recht. In der Realität müssen auch wir kuschen, wenn es hart auf hart kommt. Mit unseren amerikanischen Freunden verbindet uns zwar vieles, aber kaum jemand kann ihnen bei politischen Streitthemen auf gleicher Höhe begegnen. Angelegenheiten wie die aktuelle Ausspäh-Affäre sind nur ein weiterer ein Beweis dafür. Solange die europäischen Staaten sich eher voneinander entfernen als sich anzunähern, haben wir keinen sicheren Stand auf dem Weg in die Zukunft. Ob Malta, Rumänien, Deutschland oder Frankreich – wir schaffen es nur gemeinsam. Einzeln betrachtet sind wir ein Flickenteppich von Nationalstaaten, von denen alle einer oft widersprüchlichen Politik folgen. Dies hat es den USA in der Vergangenheit zu oft ermöglicht, sich seine Verbündeten gezielt herauszupicken. Als es beispielsweise 2003 gegen den Irak ging, wurden Deutschland und Frankreich kurzerhand als das „alte Europa“ deklariert. Das „neue Europa“ (Polen) hingegen bekam das Oberkommando über eine der Besatzungszonen südlich von Bagdad.

Mehr denn je befindet sich Europa heute in einer Krise. Der Euro wackelt bedenklich, die Skeptiker scheitern selbst in Deutschland nur noch knapp an der 5-Prozent-Hürde. Nach der totalen Zerstörung 1945 hatten Adenauer und De Gaulle eine Vision, heute dagegen ziehen die ersten wieder den Schwanz ein. Doch ist uns überhaupt klar, was wir mit unserer Skepsis aufs Spiel setzen? Wir sind nur als geeintes Europa überlebensfähig – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Wenn wir auch nur anfangen mit dem Gedanken zu spielen, das Projekt Europa für gescheitert zu erklären, dann haben wir bereits verloren. Wenn wir uns wieder zersplittern, um danach innerhalb der eigenen, dichten Grenzen – geografisch wie kulturell – vor uns hin zu vegetieren, finden wir uns dort wieder, wo wir am Beginn des 20. Jahrhunderts schon waren, während die Konkurrenz schon darauf wartet, uns aufzukaufen. Aus Angst vor zu viel Europa suchen wir uns verzweifelt die letzten deutschen Werte zusammen, mit denen wir uns identifizieren können, und pflegen sie dann, ohne sie zu leben, ausgestellt und ausgestopft wie in einem Museum. Und dieses Museum schützen wir vor jungen, arbeitswilligen und überdies schutzbedürftigen Asylsuchenden, aus Angst vor Überfremdung und vor allem aus Angst um unser Geld.
Doch wie kann man von einem Bürger oder einer Bürgerin erwarten, Asylbewerber als gleichwertige Individuen zu betrachten, wenn er oder sie doch sogar gegen diejenigen noch Vorurteile hegt, die schon seit vierzig Jahren hier leben? Oder gar gegen europäische Nachbarn wie Franzosen oder Italiener? Während die einen über Europa fantasieren und den Blick für den Alltag verloren haben, denken die anderen immer noch, Deutschland sei ein autarker Organismus, der ohne Zuwanderung auskommt oder sich gegen diese gar zu schützen hätte. Beide Gruppen reden aneinander vorbei und entfernen sich voneinander. Und irgendwann blockiert der eine den anderen. Europa droht immer wieder an unserer eigenen Engstirnigkeit zu scheitern, in Berlin genauso wie in London oder Brüssel. Dabei bietet der Gedanke Europa jedem die Chance, sich einzubringen und Dinge zum besseren zu verändern. Da diese Chance jedoch zu selten eingefordert und gelebt wird, gerät sie immer mehr in Vergessenheit und wird mit der Zeit so irrelevant, dass sie als Möglichkeit zu bestehen aufhört.

Einheit in Vielfalt

Wir sind nicht die USA, heißt es. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ seien eine Illusion. Viel zu vielseitig seien die europäischen Länder, viel zu verschieden. – Doch wollen wir so werden wie die USA? Der Große Bruder sollte seine Vorbildfunktion schon lange verloren haben. Wir wollen nicht so oberflächlich und blind vor Patriotismus sein wie unsere westlichen Nachbarn. Trotzdem ist ein vereintes Europa möglich. Unterschiede und Differenzen sind nur faule Ausreden, um sich der Herausforderung zu entziehen.
Es gibt ein Land im Süden Asiens, das sich den Grundsatz „Einheit in Vielfalt“ seit jeher zur Devise gemacht hat. Indien ist die bevölkerungsreichste Demokratie dieser Erde und ein Land, das 28 Bundesstaaten und 23 offizielle Sprachen in sich vereint. Obwohl Hindi die Amtssprache ist, wird es von kaum jemandem im Süden des Landes verstanden. Indien ist so groß, dass es von London bis Moskau reichen würde und vom Süden Norwegens bis nach Tunesien. Die Menschen sind topmotiviert und erfüllt von einem uns ungewohnten Nationalstolz, der auch vom gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre herrührt.
Dieses Land hat noch sehr große Probleme, viele Menschen leben in Armut, die Slums sind überfüllt. Wahrscheinlich findet man dutzende Gründe, weshalb man Indien nicht mit Europa vergleichen kann. Und doch ist es ein Land, das genauso viele Staaten in sich vereint wie die EU, in denen sich Menschen in fast genauso vielen verschiedenen Sprachen unterhalten, unter einer gemeinsamen Flagge.

Europa steckt in einer Krise, die mit dem Euro begann und bei Bürgerrechtsverletzungen noch nicht zu Ende ist. Oft mangelt es am gemeinsamen Kurs, der an großen Meinungsverschiedenheiten scheitert. Doch das Projekt Europa ist noch nicht zu Ende, es steht vielmehr am Anfang einer Erneuerung. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis sich jeder Deutsche mit dem Gedanken einer europäischen Einheit anfreunden kann oder bis ein Ungar seine Vorurteile gegen einen Rumänen abbaut. Doch wir haben keine andere Wahl als flexibel, offen und nachhaltig zu agieren, wenn wir unser Ansehen, unsere Werte, unseren Frieden und vor allem unseren Wohlstand auf lange Dauer wahren wollen. Um unsere europäische Freiheit zu sichern, müssen wir einen Teil unserer nationalen Souveränität aufgeben und der Verantwortung der europäischen Allgemeinheit anvertrauen. Erst eine transnationale europäische Souveränität bringt uns mit den Großen der Welt endgültig auf Augenhöhe. Zusammen bilden wir mit knapp 507 Millionen Einwohnern den größten Binnenmarkt der Erde und einen verlässlichen Partner. Nur geschlossen könnten wir uns dauerhaft behaupten gegen aufstrebende Wirtschaftsriesen wie China oder Indien – und gegen Menschenrechtsverletzungen auf eigenem Territorium, durch die eigenen, übermächtig erscheinenden Freunde in Washington.


Dienstag, 22. Oktober 2013

Der Fall Florian H.

„Bad Cannstatt: Aus bislang ungeklärter Ursache ist am Montagmorgen (16.09.2013) gegen 09.00 Uhr an der Mercedesstraße ein Peugeot in Brand geraten.“ – So beginnt die Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Stuttgart. Ein Zeuge habe Rauchentwicklung bemerkt und das brennende Auto entdeckt. Der Insasse des Wagens sei verbrannt.
In den folgenden Wochen sorgte der Fall des 21jährigen Florian H. aus Eppingen (Landkreis Heilbronn) für Wirbel, aber nicht für die wirklich großen Schlagzeilen. Dabei ist der Sachverhalt äußerst interessant: Ein Aussteigewilliger aus der rechten Szene wird als Zeuge vernommen, zum NSU und seinem Bezug zu Baden-Württemberg. Dabei erwähnt er auch eine bisher unbekannte Gruppierung, die NSS („Neoschutzstaffel Öhringen“). Und genau an dem Tag, an dem er zum zweiten Mal an einem geheimen Ort in Stuttgart vor den Ermittlern des Landeskriminalamtes aussagen soll, verbrennt er in seinem Auto, in der Nähe des Canstatter Wasens, um 9.00 Uhr morgens. Angeblich auf der Zufahrt desselben Campingplatzes, auf dem sich schon die drei NSU-Terroristen aufgehalten haben sollen. Die Polizei stellt Suizid als Todesursache fest, der Fall wandert zu den Akten.

© 7aktuell
Vielleicht war es ein Selbstmord. Vielleicht hielt Florian H. dem Druck nicht mehr Stand. Und doch, es bleiben einige Merkwürdigkeiten bestehen. Der junge Mann hinterließ keinen Abschiedsbrief, obwohl das Motiv laut dem Stuttgarter Polizeisprecher Thomas Ulmer „im Bereich einer persönlichen Beziehung liegen“ würden. Zumindest ungewöhnlich. Die Mutter des Toten sagt: „Florian war ein sehr lebenslustiger und kritischer Mensch. Er hatte so viele Träume, Wünsche und Ziele. Wer ihn gekannt hat, geht nicht von einem Suizid aus.“ Er hatte außerdem noch einige Termine. Am Tag seines Todes hätte H. eine neue Stelle als Lehrling bei einer Baufirma antreten sollen – und er hatte um 17.00 Uhr einen Termin mit der Polizei.
Schon vor Bekanntwerden der NSU-Morde sprach H. angeblich von einem rechtsextremistischen Hintergrund des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Man hielt ihn für einen Wichtigtuer, bis die Terrorgruppe aufflog. Später erwähnte H. die NSS Öhringen und bezeichnete sie nach dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ als zweitradikalste Gruppe in Deutschland. Es habe sogar ein Treffen zwischen den beiden Gruppierungen gegeben, behauptet er. Auch jetzt hielt man ihn für größenwahnsinnig, weil er sich bei den Aussagen in Widersprüche verstrickte. Er hatte behauptet, den Polizistenmörder zu kennen, konnte bei der Vernehmung jedoch keine Namen nennen.
Dann drängt das LKA nach Monaten plötzlich auf ein erneutes Treffen. Zwischen dem ersten Termin im Januar 2012 und der zweiten, nicht mehr stattgefundenen Befragung lagen mehr als eineinhalb Jahre. Egal, was Florian H. aussagen sollte, er kam nicht mehr dazu. Entweder hat er es selbst verhindert – und dann stellt sich die Frage nach dem Warum – oder er ist verhindert worden. Dabei trennten den Ort, an dem er angeschnallt, in aufrechter Sitzposition und 50 Kilometer von seinem Heimatort entfernt starb, nur 700 Meter vom Landeskriminalamt. Die Stuttgarter Polizei bestreitet zudem nicht, dass es am Ort des Suizids eine Explosion gegeben habe. Allerdings seien auch Spuren von Brandbeschleunigern gefunden worden. Wollte H. den beiden NSU-Terroristen Böhnhardt und Mundlos nacheifern, die ebenfalls vor ihrem Tod das eigene Auto in Brand setzten? Man weiß es nicht. Man könnte aber durchaus in dieser Richtung weiter ermitteln. Doch die Polizei ermittelt nicht weiter.

Sind die zahlreichen Ungereimtheiten nur Zufall? Vielleicht. Doch wie oft haben sich – gerade im Zusammenhang mit dem NSU – viele gemutmaßten Zufälle als fatale Irrtümer und Fehleinschätzungen erwiesen? Es bleiben auf jeden Fall noch eine Menge Fragen offen. Vielleicht würde es sich lohnen, in Baden-Württemberg einen eigenen NSU-Untersuchungsausschuss einzurichten, um Licht hinter all die Zusammenhänge zu bringen.

Ein Informant beschrieb H. dem Schwäbischen Tagblatt zufolge als labil. Und trotzdem meint er: „Mein erstes Gefühl sagte mir, jetzt haben sie ihn doch noch gekriegt.“

Sonntag, 20. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 4)

(Teil 4 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

Das „Deutsche Polizei-Hilfswerk“ (DPHW)

Im Gegensatz zu den meisten Begriffen sagte mir das sogenannte „Deutsche Polizei-Hilfswerk“ überhaupt nichts, als ich zum ersten Mal davon hörte. Beim näheren Hinschauen war ich aber zumindest beunruhigt.
Zwar melden Internet-Quellen, dass sich das DPHW schon im Juni aufgelöst hätte, doch die offizielle Homepage der Organisation sagt etwas anderes. Dort wird immer noch Werbung gemacht.

Werbeplakat des DPHW
Was ist das DPHW? – Die Mitglieder der Organisation verstehen sich als eine Art Bürgerwehr, in der natürlich nicht nur groß gewachsene, blonde Germanen willkommen sind. Wie die meisten ihrer Art zeigt sich auch diese Gruppe offen für alle Bürger. Das DPHW will „Lücken schließen“, die durch mangelnde Polizeipräsenz entstanden sind. Recht und Ordnung sollen durchgesetzt werden, Gesetzesverstöße werden „durch öffentliches Einschreiten“ abgestellt, heißt es auf der DPHW-Website. „Die Nachbarschaftshilfe und das menschliche Miteinander sollen dabei wieder in den Vordergrund gerückt werden.“ Man könnte es auch organisierte Selbstjustiz nennen.
Beispielhaft ist ein Vorfall vom November 2012:

Die Hilfspolizisten in Uniform gerieten den Ermittlern ins Visier, als sie am 23. November des letzten Jahres einen Gerichtsvollzieher in Bärwalde bei Meißen festnahmen, als dieser dort Schulden eintreiben wollte. Die Amtsperson musste von der richtigen Polizei befreit werden. Der Mann ist seither krank. Offensichtlich ist das kein Einzelfall. Mehrfach versuchte das Polizeihilfswerk, die Vollstreckung von Geldforderungen zu verhindern. Am 11. Oktober in Sonneberg: Hier musste die echte Polizei eingreifen, weil Mitglieder des DPHW den Chef des Finanzamts bedrängten. Und am 29. November wurde die echte Polizei in Weimar gerufen, weil Uniformierte des DPHW eine Gerichtsvollzieherin festnehmen wollten. Gegen sieben Beschuldigte wird nun ermittelt.
(Quelle: Exakt/MDR)

Das DPHW hat – wie auch z.B. der „Freistaat Preußen – eine überraschend gut organisierte Internet-Präsenz. Die Homepage macht einen vertrauenserweckenden Eindruck – auf den ersten Blick. Pressesprecher dieser Miliz ist Holger Fröhner, der in seinen weitgehend unbekannten Büchern (Die Jahrhundertlüge) ideologisch betätigt und im März 2013 von Fahndern des Operativen Abwehrzentrums Rechtsextremismus festgenommen wurde.
Derzeitiger Vorstand des DPHW ist Volker Schöne, der sich ebenfalls in Presseerklärungen der Organisation zu Wort meldet. Dort wirft er mit Zitaten von Mahatma Gandhi um sich, doch auf seiner privaten Homepage verweist er auf vaterländische Rechtsrock-Lieder wie z.B. „Wenn der Wind sich dreht“ von Faktor Widerstand.

Diese Selbstdarstellung des DPHW soll darüber hinwegtäuschen, dass es
sich bei der Bürgerwehr um einen Verein rechter Macht-Junkies handelt.
Das DPHW ist eine polizeiähnliche Organisation mit rechtsextremem Hintergrund – wer findet das noch beunruhigend? Was noch beunruhigender ist: Man weiß zu wenig über solche rechten Umtriebe. Das zu ändern war meine Intension, als ich diesen Blogeintrag geschrieben habe.

Fazit

Sollten bei einigen meiner Leser Zweifel an der Existenz der Bundesrepublik aufkommen, möchte ich zum Schluss auf eine Erklärung des Amtsgerichts Duisburg aus dem Jahr 2006 verweisen:

„Das Deutsche Reich in seiner historischen Gestalt ist spätestens mit der bedingungslosen Kapitulation aller Streitkräfte vom 7. und 8. Mai 1945 institutionell vollständig zusammengebrochen. Seine damals noch vorhandenen Organe und sonstigen staatsrechtlichen Strukturen sind im Mai 1945 auf allen Ebenen endgültig weggefallen, an ihre Stelle sind in den folgenden Jahren, zuletzt durch die deutsche Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990, neue, durch allgemeine Wahlen historisch und rechtlich uneingeschränkt legitimierte Strukturen getreten.“

Eine etwas knappe Erklärung, die sich jedoch weitgehend mit anderen Gerichtsurteilen deckt – und mit dem gesunden Menschenverstand.

Samstag, 19. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 3)

(Teil 3 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

Stellen die „Reichsbürger“ eine Gefahr dar? Was steckt hinter ihrer Ideologie?

Nach außen hin stecken hinter den Ideologien meist nur Landkarten von 1937 und uralte, preußische Gesetze, doch hinter vielen der Namen verbergen sich großkalibrige, rechte Persönlichkeiten. Und diese Persönlichkeiten wollen dem deutschen Volk zu seinem Recht verhelfen, sich selbst zu regieren, denn sie lehnen die gewählten Volksvertreter der Bundesrepublik ab. Neben Esoterikern und missverstandenen Freigeistern finden sich in den Reihen der „Reichsbürger“ auch waschechte Systemfeinde und Neonazis wie etwa der Holocaustleugner und ehemaliger RAF-Rechtsanwalt Horst Mahler, der schon vor Jahren auf die Seite der Rechten wechselte.

Die meisten „Reichsbürger“ weisen den Vorwurf, sie seien Nazis, entschieden zurück. Die bürgerliche Fassade soll stets gewahrt werden. Auch auf der Seite der RBU wird schon ganz am Anfang der Eindruck erweckt, hier sei aus der Vergangenheit gelernt worden: „Es lebe Deutschland!“, habe der Widerstandskämpfer Graf von Stauffenberg vor seiner Erschießung gerufen. „Er meinte mit Deutschland das Reich – an das sich die Mitglieder der Reichsbürger-Union weiter halten wollen“, sagen die „Reichsbürger“.

Heutzutage ist es sehr populär, „unbequeme Wahrheiten“ auszusprechen. Und so gelingt es den „Reichsbürgern“ meist, geschickt in der Masse der Verschwörungstheoretiker unterzutauchen. Hinter der von „Reichsbürgern“ oft zur Schau gestellten Ablehnung von Militäreinsätzen deutscher und europäischer Streitkräfte oder ihrer Feindschaft gegen die Banken und die gelebte Form des Kapitalismus stehen keine modernen, sondern vielmehr uralte und längst gescheiterte Staatskonzepte, die auf nationalistischen Theorien zu Wirtschaft und Gesellschaft basieren.
Viele „Reichsbürger“ sind noch dazu einfach hochkarätige Nazis, die durch ihre Aktionen immer wieder auffallen. So verfasste ein gewisser „Reichsbürger Walther“ im April 2004 einen „Offenen Brief“ an einen Schulleiter in Bernau bei Berlin, in dem er eine baldige Bestrafung androht. Der Grund: „Sie stehen an vorderster Front, wenn es gilt, unsere Jugend mit der Auschwitz-Lüge seelisch zu vergiften“.
Eine Bewegung, mit der viele „Reichsbürger“ in Kontakt stehen, ist das Internetprojekt Nürnberg 2.0 Deutschland. Diese „Erfassungsstelle zur Dokumentation der systematischen und rechtswidrigen Islamisierung Deutschlands“ will alle „Verantwortlichen“ zur Rechenschaft ziehen. 
Der Brandenburger Verfassungsschutz hat Teile der Bewegung als „hochgefährlich“ eingestuft. Deshalb sollte man die „Reichsbürger“ nicht als Spinner wahrnehmen, nur weil sie sich hinter einer Wand von ebensolchen verstecken. Es sind durchaus waschechte, rechte Ideologen, von denen eine Gefahr ausgehen kann.

Das Internet dient ihnen – wie an einigen Beispielen schon verdeutlicht – als Rednerpult, auf Facebook-Seiten scharen sie Anhänger um sich und auf Video-Portalen bringen sie ihre Botschaften unter, ohne zwangsläufig ihre komplette Identität offensichtlich werden zu lassen. So erkennt man z.B. bei Andreas Popp, der im Internet seine Wissensmanufaktur betreibt, nur auf den zweiten Blick, dass er als „Reichsbürger“ die Bundesrepublik Deutschland ablehnt.

Neben Internet-Ideologen gibt es jedoch noch Personengruppen eines anderen Kalibers, die mit den „Reichsbürgern“ in Verbindung stehen: Zum „Deutschen Polizei-Hilfswerk“ (DPHW) folgt morgen der letzte Beitrag der aktuellen Reichsextremismus-Reihe 2013.

Freitag, 18. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 2)

(Teil 2 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

Zahlreiche Staatsgründungen

Die „Reichsbürger-Union“ (RBU) hat nur ca. 50 Mitglieder. Insgesamt dürfte es aber in jedem Bundesland mehr als 100 und in manchen sogar mehrere hunderte von ihnen geben. Auffallend sind vor allem die zahlreichen „Staatsgründungen“, die sich in den letzten Jahren ereignet haben. Erst am 19. Oktober 2012 wurde der „Freistaat Preußen“ (wieder)gegründet – von einem Personenkreis, in dessen Führung auch die brandenburgische NPD-Politikerin Bärbel Redlhammer-Raback agiert. Der Staat „Germanitien“ wurde dagegen schon 2007 geschaffen. Seine derzeitige Präsidentin stammt sogar aus meiner Geburtsstadt... - Es existiert auch eine Neuauflage des zur Zeit der Weimarer Republik existenten „Freien Volksstaates Württemberg“ und seit September 2012 gibt es auch ein „Königreich Deutschland“, am Stadtrand von Wittenberg in Sachsen-Anhalt. Der „König“, Peter Fitzek, wird vom Verfassungsschutz beobachtet.

Flagge der Republik Germanitien
Einige dieser Umtriebe sind also noch recht aktuell, ihren Anfang nahm die organisierte Form der Reichsbürgerbewegung jedoch im Jahre 1985. Damals gründete Wolfgang Ebel in Westberlin die „Kommissarische Reichsregierung des Deutschen Reichs“, den bis heute existierenden Vorläufer aller „Reichsbürger“-Organisationen. Bekannt ist auch eine andere Scheinregierung, die „Exilregierung Deutschen Reich“, die sogar selbsternannte „Reichspräsidenten“ vorweisen kann.

Ein Verein von Spinnern?

Sind die „Reichsbürger“ ein Verein von Spinnern? Der Eindruck könnte durchaus entstehen. Viele Verschwörungstheoretiker, die die Existenz der Bundesrepublik anzweifeln, hängen auch noch anderen Theorien an und vertreten äußerst bizarre Ansichten. So ist zum Beispiel Norbert Schittke, selbsternannter „Reichspräsident“ der sogenannten „Exilregierung des Deutschen Reiches“ der Meinung, dass auch die Kondensstreifen am Himmel, die „ acht Stunden stehen bleiben“, etwas zu bedeuten hätten. Sie seien ein Beweis dafür, dass der Abbau der Menschheit um 85% aktiv betrieben. Politik und Weisheit bzw. Wissenheit verschwimmen hier miteinander. Oft ist es auch ein Mix aus Esoterik, Religion und Nationalismus, der den „Reichsbürgern“ zu Kopf steigt – oder die vermeintliche Chance, durch ein gesetzliches Schlupfloch den Steuerzahlungen zu entkommen. In einer Erklärung des Amtsgerichts Duisburg wird zusammengefasst, dass hinter den Motiven der „Reichsbürger“ rechtsextreme, aber auch finanzielle Absichten sowie ideologische Wahnvorstellungen stecken würden.

Eine Gefahr sind die ideologischen Anführer der „Reichsbürger“ vor allem für jene Menschen, die sich auf ihre Steuertipps einlassen. Vorgedruckte Formulare und Briefe sollen dabei helfen, dem Finanzamt zu trotzen. Oft musste schon mit einer Anzeige rechnen, wer mit den Ratschlägen der „Reichsbürgern“ argumentiert hat, im schlimmsten Fall haben sich Menschen bis über beide Ohren verschuldet. Blinder Glaube an Verschwörungstheorien, naives Wunschdenken und oftmals bloße Dummheit sind Eigenschaften, die den „Reichsbürgern“ entgegenkommen. Diese verbreiten ihre Ansichten über das Internet und auch über Bücher: Meist publizieren die Autoren im Eigenverlag, so auch Hans-Peter Thietz, ein ehemaliges Mitglied der letzten, frei gewählten Volkskammer der DDR. Er vertritt hauptsächlich antisemitische und revisionistische Positionen, aber auch kreationistische und esoterische. In seinem Buch Die Satanisierung des Neuen Testaments behauptet er, Jesus sei gekommen, um den biblischen Gott als von den Juden angebeteten Satan zu entlarven. An anderer Stelle meint er, nicht die Juden, sondern die Germanen seien das auserwählte Volk Gottes. Genau dieser Mann und sein Schriftwerk werden auf der Online-Präsenz der RBU als Lektüre empfohlen.
Viele der „Reichsbürger“ sind Juristen, wie etwa auch der Sprecher der RBU, Runhardt Sander, die sich ein Zubrot verdienen mit dem Verkauf ihrer drittklassigen Schriftwerke voller Rechtschreibfehler oder durch ihre mehr oder weniger schwach besuchten Seminaren, die dem naiven Zuhörer den einen oder anderen Aha-Effekt bescheren. Manche erwecken den Anschein, man müsse alte Werte wieder aufbauen: Der schon erwähnte „Reichspräsident“ Schittke will ein freies, souveränes und weltoffenes Deutschland, in dem die Alliierten nicht mehr machen können, er sieht ein Hauptproblem in der amerikanischen Militärpräsenz.

Die Sache mit den Staatsgründungen und den Kondesstreifen-Verschwörungen könnte ja ganz lustig sein, wenn es nicht noch einige braune Nebenwirkungen geben würde. Mehr dazu in Teil 3 meiner Reihe.

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 1)

(Teil 1 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

In letzter Zeit bin ich immer öfter über eine Gruppierung gestolpert, von der ich zuvor zwar schonmal etwas gehört hatte, die mir aber dennoch mehr oder weniger unbekannt geblieben ist. Von den sogenannten „Reichsbürgern“ wusste ich, dass sie die Bundesrepublik Deutschland als Nachkriegserfindung der Alliierten ablehnen und dass sie ihre Ablehnung sogar durch selbstgebastelte Personalausweise zum Ausdruck bringen, um ihre Autonomie auf Papier festzusetzen. Doch als ich vor einigen Wochen einen Artikel in der ZEIT gelesen habe, wurde mein Interesse an dieser neurechten Bewegung endgültig geweckt. Es wurde bekannt, dass einer dieser Verschwörungstheoretiker, ein gewisser Daniel S., aus der Haft geflohen war, nachdem man ihn zuvor wegen illegalen Sprengstoffbesitzes festgenommen hatte. Auf seinem Grundstück, das er mit einem Schild („Republik Freies Deutschland“) als unabhängiges Gebiet gekennzeichnet hatte, sammelte der bekennende „Reichsbürger“ Unmengen von „Sprengmitteln“. Im weiteren Verlauf des Artikels war noch davon die Rede, dass bei der Verhaftung ein Mitglied des DPHW zugegen war und für sich in Anspruch nahm, der „einzig wahren deutschen Polizei“ anzugehören. Ich hatte von dieser Organisation noch nie etwas gehört. Nach einigen Klicks im Internet war ich dann schlauer.

Über die „Reichsbürger“ und das riesige Netz, in das sie verwickelt sind, wissen die meisten Deutschen noch zu wenig, wie ich finde. Auch über die Größe des Gefahrenpotenzials, das von dieser Bewegung ausgeht, sind sich viele noch im Unklaren. Bis jetzt sind es meist nur lose Strukturen, die sich aber nach und nach zu einem Netzwerk zusammenfügen, das nicht nur Spinnern, Verschwörungstheoretikern, deutschen Alternativ- und Querdenkern eine neue Heimat bietet, sondern auch knallharten Nazis. – Wer also sind diese „Reichsbürger“? Dieser Frage möchte ich in meiner diesjährigen Rechtsextremismus-Reihe nachgehen.
 
Selbstgebastelte Ausweise und Steuerallergie

Die Bewegung der „Reichsbürger“ lebt heute mit durch das Internet, hat sich aber auch in realen Gruppierungen schon lange organisiert. Sie sind der Meinung, dass die Bundesrepublik Deutschland eine von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete GmbH ist – also eine Firma. Was in so mancher Kabarett-Stube für Erheiterung sorgt, ist bei diesen Ideologen bitterer Ernst. Sie können nicht lachen über die Bezeichnung „Personalausweis“, die uns als Mitglieder des Personals dieser GmbH ausweist. Aus diesem Grund haben die „Reichsbürger“ ihre Personalausweise schon lange zerschnitten, verbrannt und für Ersatz gesorgt. Ja, die haben tatsächlich ihre eigenen Ausweise:


Die „Reichsbürger“ spielen gerne mit Gesetzen und rechtlichen Grundlagen, sie versuchen zu beweisen, dass die Bundesrepublik nicht existiert – ganz im Gegensatz zu Deutschland! Die Bundesrepublik sei mit Deutschland nicht identisch, heißt es. Es gibt auf bestimmten Seiten sogar Formulare und vorgefertigte Erklärungen, die man an Finanzämter und Rathäuser schicken kann, sollte man Bußgelder verordnet bekommen haben – sei es wegen dem Fehlen eines bundesdeutschen Führerscheins oder der Verweigerung von Steuerzahlungen.
Ein Blick auf die zentrale Organisation der meisten „Reichsbürger“, die sogenannte „Reichsbürger-Union“ (RBU), gibt einen genaueren Eindruck davon, wie man im Milieu argumentiert. Schon auf der Eingangsseite der Website der RBU finden sich aufschlussreiche Informationen:

Die deutsche Staatsangehörigkeit beruht seit 1913 auf dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, also einem Reichsgesetz: Alle deutschen Staatsbürger sind somit (nach wie vor) Bürger des Deutschen Reichs (eine besondere Staatsangehörigkeit der „Bundesrepublik Deutschland“ gibt es nicht).

Das Deutsche Reich existiert – sagen seine selbsternannten Bürger, die ihre alten Phrasen und die nationalsozialistische Symbolik eingetauscht haben gegen Gesetzesbücher.

Dienstag, 8. Oktober 2013

Unser Lampedusa

Es gibt zu viele Flüchtlinge, sagen die Menschen.
Es gibt zu wenig Menschen, sagen die Flüchtlinge.
(Ernst Ferstl)


Vor Lampedusa ist es wieder passiert. Nicht anders als sonst, nur mit mehr Opfern, die man nach und nach aus dem Mittelmeer fischt. So viele Opfer, dass man sie nicht mehr ignorieren kann. Diskussionen werden geführt, die Politik will sich jedoch nicht beeindrucken lassen. Deutschland nehme genug Flüchtlinge auf, Italien solle sich um „seine Flüchtlinge“ gefälligst selbst kümmern, heißt es.

Deutschland hat im vergangenen Jahr 65.000 Flüchtlinge aufgenommen. Das ist eine natürlich eine ganze Menge. Und doch gibt es so etwas wie eine Willkommenskultur nicht, weder für diejenigen, die schon seit Jahrzehnten hier sind, noch für die Migranten der letzten Jahre oder gar für Flüchtlinge. Allein beim Klang dieses neudeutschen Wortes geht so manchem Nationaldemokraten wohl das Messer in der Tasche auf. In Berlin-Hellersdorf marschierten die Rechten auf, um gegen die Aufnahme von Asylanten zu demonstrieren. Die NPD ließ vor der Wahl in ihrem Programm verlauten: „Das weltweit einzigartige Asylrecht der Bundesrepublik Deutschland hat nicht nur zu einem Mißbrauch in unvorstellbarem Ausmaß geführt, sondern auch zu einer Belastung der Staatsausgaben in Milliardenhöhe.“ Deshalb solle man das Grundrecht auf Asyl aus dem Grundgesetz streichen. Doch nicht nur die Rechten haben die Nase voll: In jedem Ort, in dem ein Wohnheim für Asylbewerber eingerichtet werden soll, fürchten die Menschen um ihre Sicherheit. „Wer soll unsere Frauen beschützen?“ ist eine der wohl beschämendsten Fragen, die bei Bürgerversammlungen auftauchen. Wir erinnern uns an die 1990er Jahre, als man allen Statistiken zum Trotz Panik unter den Bürgern dieses Landes schürte mit Parolen wie „Das Boot ist voll!“ – Eine ähnliche Stimmung kommt heute wieder auf, während sich Vorpommern und Brandenburg langsam entvölkern und die echten Boote im Mittelmeer zumeist unbeachtet sinken. Angeheizt wird die Stimmung von den Bildern raubender Zigeunerbanden, die durch deutsche Großstädte ziehen. Natürlich, es gibt Probleme mit Armutszuwanderern, die man nicht ignorieren darf und die man sinnvoll angehen sollte, um die Entstehung von rechtsfreien Räumen wie beispielsweise Duisburg-Rheinhausen. Doch von diesen Zuwanderern ist hier nicht die Rede. Es geht um jene Menschen, die alles riskieren, um nach Europa zu kommen – auch ihr eigenes Leben.

Was ist es, das den Deutschen solche Angst macht vor jenen Menschen, die alles riskieren, nur um ein besseres Leben zu leben? Haben wir etwa Angst um unser Geld? Unser Geld ist ständig in Gefahr, aber hauptsächlich von anderer Seite: Während der Staat Milliarden irgendwo im Nirgendwo der Bürokratie versickern lässt, reden alle möglichen Parteien wieder über Steuererhöhungen – bis auf die kürzlich verstorbene FDP. Es geht um Geld, das da ist, ohne sinnvoll eingesetzt zu werden. In einem Land, dessen Wirtschaft wächst, in dem aber zu wenig investiert wird. Und wo es schon an innereuropäischer Solidarität (z.B. mit Griechenland) in der Bevölkerung fehlt, da hat man auch keinen Nerv für Syrer und Afrikaner.
Dabei ist der „Neid“ auf die Asylbewerber, denen man aus reiner Nächstenliebe Geld zu geben scheint, völlig unbegründet. Die Realität ist hart: Bis vor kurzem war das, was ein Asylbewerber in Deutschland bekam, weit unter dem Hartz-IV-Satz. Vielerorts bekamen diese Menschen sogar nur auf Landkreise beschränkte Aufenthaltsgenehmigungen und konnten auf diese Weise oft nicht von der Provinz in die nächstgrößere Stadt fahren. Größere Lager für Asylbewerber liegen meist außerhalb der dicht bevölkerten Ballungsräume, weit abgelegen von der Masse der Bevölkerung. Ein Beispiel hierfür ist das Lager Horst in Mecklenburg-Vorpommern, wo Hamburg seine Flüchtlinge „auslagert“. Oft gibt es in solchen Unterkünften keine Deutschkurse, eine Arbeitserlaubnis schon gar nicht – geduldet, nicht akzeptiert. Ein Leben in Würde? Fehlanzeige. Soll sich ein Asylbewerber etwa langweilen, während er auf das Ende des Krieges in seiner Heimat wartet? Außerdem darf man nicht vergessen, dass manchmal ganze Familien nach Deutschland kommen, Familien mit Kindern. Die sind dann auf das Engagement örtlicher Grundschullehrer und –lehrerinnen angewiesen, um im Unterricht einigermaßen folgen zu können. Schulpflicht gilt in Deutschland schließlich für alle Menschen. Eine Willkommenskultur gab es nie, nicht einmal für Menschen, die in ihrer Heimat ihr Zuhause verloren haben und nur als Gäste nach Deutschland kamen, ohne für immer bleiben zu wollen.

Können wir wirklich ruhig schlafen, während hunderte Menschen vor jenen Küsten ertrinken, an denen wir bevorzugt Urlaub machen? Und das nur, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen und die legalen Mittel dazu nicht ausreichen? Manche Flüchtlinge sitzen jahrelang in einem nordafrikanischen Land fest, haben kein Geld fürs Weiterkommen. Zurückkehren können sie auch nicht, denn die Familie hat oft ihr komplettes Vermögen investiert, damit ein junger Mann oder eine Frau die lange Reise nach Europa antreten kann. Wer sein Gesicht und seine Ehre nicht verlieren will, der steigt in die klapprige Nussschale und lässt sich irgendwo vor der Küste im vermeintlich flachen Wasser aussetzen. Manche schwimmen ans Ufer, andere ertrinken, weil sie von den mehreren Lagen Kleidung, die gegen die Kälte helfen soll, nach unten gezogen werden. Und dann gibt es welche, die verbrennen auf einem in Seenot geratenen Boot, weil irgendjemand Fackeln angezündet hat, um die Küstenwache auf sich aufmerksam zu machen…

Dabei sind die Deutschen normalerweise kein gefühlskaltes Volk – und sie sollten sich auch nicht durch Schreckensszenarien eines überfremdeten, wirtschaftlich zerstörten Deutschland dazu verleiten lassen, eines zu werden. Deutschland ist stark und kann solidarisch sein. Nach dem Horror-Tsunami 2004 haben tausende Familien auf ihr Silvesterfeuerwerk verzichtet und das Geld stattdessen den Opfern gespendet. Das ist nicht schwer und wir wissen doch alle, wie es geht.
Und wo man ins Gespräch kommt mit denjenigen, die ihr Schicksal in die Hände von tunesischen Schleppern gelegt haben, da zeigt man durchaus Verständnis und überwindet Unterschiede. Wo Asylanten Theaterstücke aufführen, da kommt man ins Gespräch, wo Kirchengemeinden bei Behördengängen helfen und hilfsbereite Menschen den Bedürftigen ein Quartier bieten, da zerfällt das Schreckensbild des anonymen und mutmaßlich kriminellen Asylbewerbers. Zahlreiche Kirchen und auch Moscheen in St. Pauli haben schon im August Flüchtlinge aufgenommen und tragen ihrerseits dazu bei, dass Menschen den nötigen Beistand bekommen. Die wirkliche Begegnung ist viel stärker als die populistische Panikmache, der man nur zu oft zu folgen verleitet ist.

Deutschland zeigt sehr wohl Mitgefühl. Die Stuttgarter Zeitung schrieb, dass die Opfer von Lampedusa auch unsere Toten seien. Doch auch die Politik muss ihren Beitrag leisten. Ein Asylbewerber hat eine recht geringe Chance, in Deutschland bleiben zu dürfen. Im Jahr 2011 wurden 84% der Anträge auf Asyl abgelehnt. Europa muss endlich beginnen, seine Werte nicht nur gegen Terroristen, Kommunisten und Kapitalisten zu verteidigen, sondern in erster Linie gegen seinen inneren Schweinehund. Denn um dem Elend rund um das Mittelmeer ein Ende zu machen würde es vielleicht schon genügen, die legalen Wege für Flüchtlinge einfacher zugänglich zu machen. 


Samstag, 5. Oktober 2013

Einwanderungsland Deutschland (Zusammenfassung eines Artikels aus der ZEIT vom 09.10.2013)

(Presseschau)

Vor einigen Tagen habe ich in der ZEIT einen interessanten, teils provokanten, teils bewusstseinserweiternden Artikel mit der Überschrift „Deutschland durchgehend geöffnet“ gelesen. Die Journalistin Özlem Topçu und der stellvertretende Chefredakteur Bernd Ulrich erörtern die momentan existierende Chance, Deutschland zu einem echten Einwanderungsland zu machen. Es kommen verschiedenste Punkte zur Sprache, u.a. geht es um die doppelte Staatsbürgerschaft, um das gesellschaftliche Klima in Deutschland und um den Bedarf an neuen Zuwanderern, der unbestreitbar besteht.
Da ich vermute, dass wahrscheinlich ein großer Teil meiner Leser diesen Artikel auf Seite 3 der Printausgabe nicht gelesen hat, möchte ich ihn hier zusammenfassen, einige interessante Stellen zitieren und eventuell den einen oder anderen Aspekt ein wenig erweitern.

Die Autoren beginnen mit der aktuellen Situation in Deutschland, mit der Problematik des Nachwuchsmangels. Alte Strategien, Akademikerinnen und Akademiker zum Kinderkriegen zu überreden, seien gescheitert. Deutschland brauche eine stabile Einwanderung, laut Statistik sogar bis zu 400.000 Menschen pro Jahr. Bis 2030 würden in Deutschland fünf Millionen Arbeitskräfte fehlen. – Für ein Land, das nicht nur geografisch, sondern auch wirtschaftlich die Mitte Europas bildet, ist Zuwanderung lebenswichtig.
Einwanderung sei außerdem nichts, das man bloß „ertragen“ müsse, sondern etwas Erstrebenswertes.  Die Autoren des Artikels haben entdeckt, was den Deutschen seit jeher davon abhält, seine Heimat als Einwanderungsland zu begreifen. Es ist die „altdeutsche Frage: Wann geht ihr wieder nach Hause?“ Denn tief im Bewusstsein der meisten Deutschen sitzt immer noch der Gastarbeiter, der seit 40 Jahren auf die Heimkehr wartet, genauso wie sein alteingesessener Gastgeber. Ob das Wort Gastgeber hier angemessen ist, wage ich in Zweifel zu ziehen – vielleicht wäre Arbeitgeber besser. Doch das ist meine eigene Deutung, denn Topçu und Ulrich schreiben ehrlich und zukunftsgewandt, ohne Spott, weniger mit dem Blick nach hinten als mit dem nach vorne. Und so sollte aus ihrer Sicht die Frage nach der Heimkehr von einem modernen, „neudeutschen Wunsch“ abgelöst werden: „Kommt zu uns, geht nicht in die USA!“

„Integration“

Deutschland ist stetig im Wandel, wurde über die Jahre internationaler – und hat es überlebt. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg hätte diese Geschichte der Einwanderung begonnen. Die Deutschen hätten Millionen Vertriebene integriert, „auch wenn sie sich diese Leistung nie eingestanden und sie nie gefeiert haben“, schreiben die Autoren. „Später kamen die Ostdeutschen, deren Fremdheit ein Tabu und eine Tatsache war.“ Es habe Investitionen erfordert und ein Vierteljahrhundert gedauert, doch letztendlich sei diese Integration erfolgreich gewesen. Schon in den Sechzigerjahren begann dann die Zuwanderung von Arbeitern aus Süd- und Südosteuropa, von denen viele blieben. „Man brauchte sie, aber so richtig wollen wollte man sie nicht. – Trotzdem, alle sind jetzt irgendwie drin im Club. Und das Land, es ist nicht untergegangen.“
Der Begriff Integration hat mittlerweile gänzlich ausgedient, meinen Topçu und Ulrich. Wohin solle man sich denn überhaupt integrieren? In eine Mehrheitsgesellschaft, die über die Jahrzehnte immer dieselbe geblieben wäre? Heute kommen wieder Zuwanderer aus ähnlichen Gründen wie die Gastarbeiter damals. Junge Spanier, die in ihrer Heimat mit einer erdrückend hohen Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen haben, füllen hier die vielen unbesetzten Lehrstellen. Ist für solche Menschen das Wort Integration noch zeitgemäß? Immerhin kommen sie aus dem europäischen Ausland. Innerhalb der EU sind wir alle irgendwie zuhause. Auch Topçu und Ulrich sind dieser Meinung. Sie haben auch eine Lösung für das Begriffsproblem parat: „Nur, was soll man sagen, wenn das Wort Integration nicht mehr funktioniert? Probieren wir es vielleicht vorerst mal mit: Zusammenleben.“

Vielfalt und Willkommenskultur

Migranten gingen lieber dorthin, wo entspannter mit Vielfalt umgegangen wird, meinen Topçu und Ulrich. „Die Frage ist also nicht: Wollen wir sie? Die Frage ist: Wie kriegen wir sie zu uns – und was für Gründe hätten sie zu bleiben?“ Man müsse das Klima ändern. Die Union hätte schon das Amt des Bundesbeauftragten für Integration geschaffen, auch die Islamkonferenz war ein guter Anfang. (Leider wurde diese von HP Friedrich an die Wand gefahren…) – Das Innenministerium müsse seinen Job machen und sich um das Kümmern, was in seine Zuständigkeit fiele: Terrorabwehr gegen rechts, links und Islamisten. „Integration und Migration haben dort nichts zu suchen, sie sollten als das behandelt werden, was sie in erster Linie sind: ein arbeits-, bildungs- und gesellschaftspolitisches Thema.“

Manchmal brauche es etwas Radikalität, meinen die Autoren und schlagen etwas vor, das sowohl neue Einwanderer anlocken solle als auch einen Klimawechsel beschleunigen würde:
„Modern und wirklich radikal wäre es, wenn man so jemanden [eine/n Migrant/-in] zum Außenminister macht. Ein Deutscher, dessen Eltern eingewandert sind, repräsentiert Deutschland im Ausland. Wie könnte man besser neue Einwanderer bekommen? Und ein Deutscher, dessen Eltern hier geboren sind, kümmert sich um die, die neu dazukommen.“
Ein interessanter Gedanke. Selbst wenn man in nicht ganz so extremen Zügen denkt, ist die Richtung klar: Die Unterscheidung zwischen uns und denen, die spätestens mit Sarrazin einen neuen Höhenflug erfahren hat, ist für den Wandel Deutschlands zu einer offenen, toleranten Gesellschaft des Miteinanders eher hinderlich.

Die doppelte Staatsbürgerschaft

Schon ziemlich am Anfang kommen die Autoren auf die Sache mit der doppelten Staatsbürgerschaft zu sprechen. Ich stelle diese Thematik an den Schluss, da sie einige gewichtige Schlüsse enthält, welche diejenigen Menschen, die den sogenannten Doppelpass strikt ablehnen, zum Denken anregen könnte.
Topçu und Ulrich stellen fest, dass die Zeiten des Die und Wir vorbei seien. Menschen mit und ohne Migrationshintergrund könnten sich heute leiden, die Deutschen glaubten nicht mehr, dass jemand, der die deutsche und eine andere Staatsbürgerschaft hat, seine Loyalität dann immer der anderen Nationalität schenken würde. Das Fazit:


„Aus diesem Selbstbewusstsein heraus sollte es doch endlich möglich sein, doppelte Staatsbürgerschaften zu akzeptieren. Deutschsein ist etwas Gutes und Haltbares, auch wenn man nebenher noch Türke, Libanese oder Italiener ist. Darum wäre es ein hochwichtiges Symbol, wenn die nächste Regierung […] diese kleinliche, ängstliche Regelung abschafft, die junge Türken und Araber dazu zwingt, eine ihrer Identitäten, ihre Herkunft oder ihre Zukunft, aufzugeben, wenn sie volljährig werden. Ihre erste erwachsene Entscheidung soll ein Nein sein? Eine Trennung? Verrückt.“

Donnerstag, 3. Oktober 2013

Zum Tag der Deutschen Einheit 2013

Ich möchte hier ausnahmsweise keine großen Reden schwingen, obwohl es viel zum Tag der Deutschen Einheit zu sagen gäbe. Trotzdem, an diesem sonnigen Tag, wahrscheinlich einem der letzten dieses Sommers, ist mir nicht nach theoretischen und politischen Hirnanstrengungen zumute. Stattdessen habe ich mich heute schon früh nach Stuttgart aufgemacht. Und es hat sich irgendwie schon gelohnt, an diesem Feiertag übertrieben früh aufzustehen:
Seit heute gehöre ich offiziell zu den wenigen Millionen Menschen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal persönlich zu Gesicht bekommen haben.

Die Kanzlerin in Stuttgart (3. Oktober 2013),
© Thorschten
Fast hätten ganze drei Stuttgart-21-Gegner den meisten Schaulustigen mit ihren Bannern die Sicht genommen, doch dann hat man sie höflich, aber nachdrücklich gebeten, doch an jedem anderen Tag und an jedem anderen Ort demonstrieren zu wollen. Ein bisschen pissig sind sie dann abgezogen. Kurz darauf kamen die Politiker: Beim Auszug aus der Stiftskirche nach einem ökumenischen Gottesdienst am Morgen schritt neben der Kanzlerin auch Bundespräsident Gauck sehr repräsentativ aus der Pforte. Beide wurden jedoch überragt vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten, dem Gastgeber des diesjährigen „Bürgerfestes“ anlässlich des Tags der Deutschen Einheit. Der Festakt und die Rahmenveranstaltungen fanden dieses Jahr in Stuttgart statt, weil Baden-Württemberg zurzeit den Vorsitz im Bundesrat hat. Zeitgleich findet auch das Volksfest auf dem Cannstatter Wasen statt, was die Zug- und Bahnverbindungen erst recht strapaziert hat.
Am 2./3. Oktober gab auf Schlossplatz, Königs- und Theodor-Heuss-Straße eine Vielzahl von Würstchenbuden, repräsentativen Pavillons politischer Einrichtungen und Zelten der verschiedenen Bundesländer. Neben bekannten und unbekannten Musikgruppen stieß man zudem auf Autohersteller, die zum Gewinnspiel einluden. Bundestag und Bundesrat veranstalteten einen Tag der offenen Tür – weit weg von Berlin.

Hier ein paar Bilder.

Der Bundesrat in Stuttgart. :)

Volksmusik und Trachten.

Ein afrikanischer Chor unter Anleitung dieses
charismatischen Herrn singt zu Ehren der Kanzlerin.

Natürlich gäbe es viel zu sagen zu Deutschland, der Einheit und den letzten zwei Jahrzehnten. Auch könnte man das Selbstbild Deutschlands diskutieren, über Wirtschaft, Werte und Integration reden. Andererseits sind wir jeden Tag aufgefordert, uns mit unserer Gesellschaft und ihren Herausforderungen auseinanderzusetzen, morgen wieder und auch gestern schon. Heute lasst uns einfach unsere Einheit genießen und im Radio auf die Hits des Jahres 1989 horchen… :)