„Es gibt in Deutschland keine millionenfache
Grundrechtsverletzung.“ – Das waren die Worte von Kanzleramtsminister Ronald Pofalla am 12. August, mit denen er die NSA-Affäre für beendet erklärte. Die
damals bestehenden Vorwürfe waren es scheinbar nicht wert, dass man groß über
sie diskutieren wollte. Außerdem war Wahlkampf und das Thema war schneller vom
Tisch als die NSA „Snowden“ buchstabieren kann. Da wirkt es irgendwie
befremdlich, dass nun eine einzige
Grundrechtsverletzung für so viel Wirbel sorgt. Gut, zuvor waren ja „nur“ die
Bürger ausgespäht worden, jetzt allerdings geht es um die Verletzung unserer
Souveränität in Gestalt von Angela Merkel. Der US-Geheimdienst soll sich
virtuell auf dem Handy der Kanzlerin umgesehen haben und erntet nun Kritik, strenge
Worte und heftige, aber irgendwie hilflose Bestürzung. Auf dem EU-Gipfel in
Brüssel stehen die Politiker Europas mit der starken Frau aus Deutschland
Schulter an Schulter. Merkel verkündet, dass es nicht mehr nur um gute Worte
ginge, sondern um wirkliche Veränderungen. Auch in den USA regt sich mittlerweile
Widerstand gegen die neugierigen Augen der Obrigkeit. Es ginge nicht an, dass
ein Staat seine Bürger ausspioniere, heißt es auf einem von Hollywood-Stars
veröffentlichten Video. „In einem Überwachungsstaat ist die Demokratie tot“,
sagt Schauspieler John Cusack warnend in die Kamera. Allerdings ist in den
US-amerikanischen Widerstandsnestern meist nur die Rede von den eigenen citizens. Auf der anderen Seite des
Großen Teichs sorgt sich kaum jemand um das Wohl der europäischen Verbündeten.
Die Geheimdienste der USA verteidigen die Souveränität Amerikas – politisch,
militärisch und auch wirtschaftlich. Wenn sie dabei sogar die Rechte ihrer
eigenen Schützlinge übergehen, wie egal müssen ihnen dann die unseren sein?
War die Bundesregierung die ganze Zeit zu naiv?
Auf jeden Fall. Hätte man von Anfang an aus der Wartehaltung herausrücken und Klartext
reden sollen? Sicherlich. Doch wahrscheinlich war die Bundesregierung – wie die
meisten Regierungen – zu verunsichert, zu überfordert und möglicherweise zu
schwach.
Doch was würde es ändern, wenn wir Obama nur
aufforderten, seine NSA endlich unter Kontrolle zu bekommen, und auf
irgendwelche Abkommen drängten, die in der Welt der Geheimdienste lediglich
beschriebenes Papier ohne nennenswerten Inhalt darstellten? Am Ende wäre der
durchschnittliche Europäer, ob er jetzt Leichen im Keller oder Bomben in der
Garage hat, genauso transparent einsehbar wie im Moment. Um die Wahrung unserer
Rechte zu garantieren, müssen wir anders reagieren – nicht nur als einzelne
Nationalstaaten, sondern als starkes, geeintes Europa.
Europa braucht eine transnationale
Souveränität – heute mehr denn je
Heute Morgen hat der SPD-Politiker Martin
Schulz bei Beckmann einen interessanten Aspekt angesprochen, den ich aufgreifen
und gegebenenfalls erweitern möchte: Ein Land wie Malta hätte heute keine
Chance, den USA auf Augenhöhe begegnen zu können. Selbst ein größerer Staat wie
Deutschland hat diese Chance nur noch scheinbar, meinte er. Was Europa brauche,
sei eine transnationale Souveränität.
Und damit hat er Recht. In der Realität müssen
auch wir kuschen, wenn es hart auf hart kommt. Mit unseren amerikanischen
Freunden verbindet uns zwar vieles, aber kaum jemand kann ihnen bei politischen
Streitthemen auf gleicher Höhe begegnen. Angelegenheiten wie die aktuelle
Ausspäh-Affäre sind nur ein weiterer ein Beweis dafür. Solange die europäischen
Staaten sich eher voneinander entfernen als sich anzunähern, haben wir keinen
sicheren Stand auf dem Weg in die Zukunft. Ob Malta, Rumänien, Deutschland oder
Frankreich – wir schaffen es nur gemeinsam. Einzeln betrachtet sind wir ein
Flickenteppich von Nationalstaaten, von denen alle einer oft widersprüchlichen
Politik folgen. Dies hat es den USA in der Vergangenheit zu oft ermöglicht,
sich seine Verbündeten gezielt herauszupicken. Als es beispielsweise 2003 gegen
den Irak ging, wurden Deutschland und Frankreich kurzerhand als das „alte
Europa“ deklariert. Das „neue Europa“ (Polen) hingegen bekam das Oberkommando
über eine der Besatzungszonen südlich von Bagdad.
Mehr denn je befindet sich Europa heute in
einer Krise. Der Euro wackelt bedenklich, die Skeptiker scheitern selbst in
Deutschland nur noch knapp an der 5-Prozent-Hürde. Nach der totalen Zerstörung
1945 hatten Adenauer und De Gaulle eine Vision, heute dagegen ziehen die ersten
wieder den Schwanz ein. Doch ist uns überhaupt klar, was wir mit unserer
Skepsis aufs Spiel setzen? Wir sind nur als geeintes Europa überlebensfähig –
sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Wenn wir auch nur anfangen mit dem
Gedanken zu spielen, das Projekt Europa für gescheitert zu erklären, dann haben
wir bereits verloren. Wenn wir uns wieder zersplittern, um danach innerhalb der
eigenen, dichten Grenzen – geografisch wie kulturell – vor uns hin zu vegetieren,
finden wir uns dort wieder, wo wir am Beginn des 20. Jahrhunderts schon waren,
während die Konkurrenz schon darauf wartet, uns aufzukaufen. Aus Angst vor zu
viel Europa suchen wir uns verzweifelt die letzten deutschen Werte zusammen,
mit denen wir uns identifizieren können, und pflegen sie dann, ohne sie zu
leben, ausgestellt und ausgestopft wie in einem Museum. Und dieses Museum
schützen wir vor jungen, arbeitswilligen und überdies schutzbedürftigen Asylsuchenden,
aus Angst vor Überfremdung und vor allem aus Angst um unser Geld.
Doch wie kann man von einem Bürger oder einer
Bürgerin erwarten, Asylbewerber als gleichwertige Individuen zu betrachten,
wenn er oder sie doch sogar gegen diejenigen noch Vorurteile hegt, die schon
seit vierzig Jahren hier leben? Oder gar gegen europäische Nachbarn wie Franzosen
oder Italiener? Während die einen über Europa fantasieren und den Blick für den
Alltag verloren haben, denken die anderen immer noch, Deutschland sei ein
autarker Organismus, der ohne Zuwanderung auskommt oder sich gegen diese gar zu
schützen hätte. Beide Gruppen reden aneinander vorbei und entfernen sich
voneinander. Und irgendwann blockiert der eine den anderen. Europa droht immer
wieder an unserer eigenen Engstirnigkeit zu scheitern, in Berlin genauso wie in
London oder Brüssel. Dabei bietet der Gedanke Europa jedem die Chance, sich
einzubringen und Dinge zum besseren zu verändern. Da diese Chance jedoch zu
selten eingefordert und gelebt wird, gerät sie immer mehr in Vergessenheit und
wird mit der Zeit so irrelevant, dass sie als Möglichkeit zu bestehen aufhört.
Einheit in Vielfalt
Wir sind nicht die USA, heißt es. Die „Vereinigten
Staaten von Europa“ seien eine Illusion. Viel zu vielseitig seien die
europäischen Länder, viel zu verschieden. – Doch wollen wir so werden wie die
USA? Der Große Bruder sollte seine Vorbildfunktion schon lange verloren haben.
Wir wollen nicht so oberflächlich und blind vor Patriotismus sein wie unsere
westlichen Nachbarn. Trotzdem ist ein vereintes Europa möglich. Unterschiede
und Differenzen sind nur faule Ausreden, um sich der Herausforderung zu
entziehen.
Es gibt ein Land im Süden Asiens, das sich den
Grundsatz „Einheit in Vielfalt“ seit jeher zur Devise gemacht hat. Indien ist
die bevölkerungsreichste Demokratie dieser Erde und ein Land, das 28
Bundesstaaten und 23 offizielle Sprachen in sich vereint. Obwohl Hindi die
Amtssprache ist, wird es von kaum jemandem im Süden des Landes verstanden.
Indien ist so groß, dass es von London bis Moskau reichen würde und vom Süden
Norwegens bis nach Tunesien. Die Menschen sind topmotiviert und erfüllt von
einem uns ungewohnten Nationalstolz, der auch vom gewaltigen wirtschaftlichen
Aufschwung der letzten Jahre herrührt.
Dieses Land hat noch sehr große Probleme, viele
Menschen leben in Armut, die Slums sind überfüllt. Wahrscheinlich findet man
dutzende Gründe, weshalb man Indien nicht mit Europa vergleichen kann. Und doch
ist es ein Land, das genauso viele Staaten in sich vereint wie die EU, in denen
sich Menschen in fast genauso vielen verschiedenen Sprachen unterhalten, unter
einer gemeinsamen Flagge.
Europa steckt in einer Krise, die mit dem Euro
begann und bei Bürgerrechtsverletzungen noch nicht zu Ende ist. Oft mangelt es
am gemeinsamen Kurs, der an großen Meinungsverschiedenheiten scheitert. Doch
das Projekt Europa ist noch nicht zu Ende, es steht vielmehr am Anfang einer
Erneuerung. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis sich jeder Deutsche mit dem
Gedanken einer europäischen Einheit anfreunden kann oder bis ein Ungar seine
Vorurteile gegen einen Rumänen abbaut. Doch wir haben keine andere Wahl als flexibel,
offen und nachhaltig zu agieren, wenn wir unser Ansehen, unsere Werte, unseren
Frieden und vor allem unseren Wohlstand auf lange Dauer wahren wollen. Um
unsere europäische Freiheit zu sichern, müssen wir einen Teil unserer
nationalen Souveränität aufgeben und der Verantwortung der europäischen
Allgemeinheit anvertrauen. Erst eine transnationale europäische Souveränität
bringt uns mit den Großen der Welt endgültig auf Augenhöhe. Zusammen bilden wir
mit knapp 507 Millionen Einwohnern den größten Binnenmarkt der Erde und einen
verlässlichen Partner. Nur geschlossen könnten wir uns dauerhaft behaupten
gegen aufstrebende Wirtschaftsriesen wie China oder Indien – und gegen Menschenrechtsverletzungen
auf eigenem Territorium, durch die eigenen, übermächtig erscheinenden Freunde
in Washington.
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