Die Vorgänge in Syrien und im Irak sind brutal, die letzten
überlebenden Reste jahrtausendealter Kulturen werden zerstört. In Syrien gehen
die Toten seit Beginn des Konflikts in die Hunderttausende, im Irak müsste man
erst den Zeitpunkt definieren, ab dem man mit dem Zählen der Opfer beginnt. Das
Regime von Saddam Hussein hat laut Human Rights Watch bis zu 290.000 Menschen
auf dem Gewissen. Die US-amerikanische Besatzung und die in der Folge
stellenweise eskalierenden Konflikte kosteten nicht nur über 4.000 alliierten
Soldaten das Leben, sondern auch das von bis zu 600.000 irakischen Zivilisten.
Heute, im Sommer des Jahres 2014, findet sich das Zweistromland erneut zwischen
den Fronten verfeindeter Kräfte und internationaler Interessen wieder. Doch mittlerweile
hat sich ein Gegner zwischen Syrien und Irak festgesetzt, den alle Beteiligten
gleichermaßen fürchten: Der selbst proklamierte Islamische Staat (IS), eine
dschihadistische Terrorgruppe, erobert Städte und Dörfer im Norden des Landes,
vertreibt Christen, Jesiden und Turkmenen, köpft und massakriert Zivilisten, ausländische
Berichterstatter und gefangene Soldaten. Vor einigen Tagen wurde der Journalist
James Foley von IS-Terroristen enthauptet. Kurze Zeit später hat die
Al-Nusra-Front, eine Gruppe aus dem Umfeld des Terrornetzwerks Al-Qaida, den
US-Amerikaner Peter Theo Curtis freigelassen, der seit zwei Jahren in Syrien
festgehalten wurde. Was dieser Schritt gerade jetzt zu bedeuten hat, erklärt Aviv
Oreg, ehemaliger Leiter der Abteilung zum Thema Globaler Dschihad bei der
israelischen Armee. Er geht davon aus, dass der Zeitpunkt der Freilassung
bewusst gewählt ist. „Al-Qaida hat diesen Schritt zur Freilassung von Peter
Curtis unternommen, um innerhalb der islamischen Welt wieder mehr Legitimität
zu erhalten“, erklärte er laut der Nachrichtenagentur dpa. Al-Qaida will sich noch mehr vom IS abgrenzen.
Es ist paradox: Knallharte Dschihadisten distanzieren sich von noch
knallhärteren Dschihadisten.
Doch wer sind die Männer, die hinter der Gruppe IS (arab. dā‘isch) stecken? Und wie funktioniert dieses Netzwerk? Leider ist es den meisten Journalisten nicht möglich, vor Ort und brandaktuell Hintergrundberichte aus dem Inneren des Terrornetzwerks zu liefern. Deshalb bleibt auch mir nur übrig, mich auf all das zu stützen, was im Internet an mehr oder weniger glaubwürdigen Berichten kursiert.
Der „Kalif“
Abu Bakr al-Baghdadi al-Husseini al-Quraschi hat seinen Name treffend gewählt: Abu Bakr war der zweite der sogenannten Rechtgeleiteten Kalifen und der direkte Nachfolger Muhammads im 7. Jahrhundert. Mit dem Namenszusatz (nisbe) al-Baghdadi will er sich als einheimischen Iraker legitimieren, der Zusatz al-Quraischi weist ihn als Angehörigen des Stammes des Propheten aus, den Quraisch. Ob diese Tatsachen der Wahrheit entsprechen, lässt sich schwer feststellen. Doch es ist zu vermuten, dass die Wahl des Namens lediglich der Festigung der Macht al-Baghdadis dienen sollte. In Wirklichkeit heißt der Mann, der gerade den Nahen Osten und die Welt darüber hinaus in Angst und Schrecken versetzt, Ibrahim al-Badri und stammt aus der nördlich von Bagdad gelegenen Stadt Samarra, einem bedeutenden schiitischen Pilgerort am Ostufer des Tigris. Er studierte Islamic Studies in der irakischen Hauptstadt und war zur Zeit der US-Invasion angeblich Geistlicher in seinem Heimatort. Seit 2003 durchlief er eine Laufbahn als Kämpfer in unterschiedlichen militanten Gruppierungen, bis er bei den Vorgängern des IS landete. Seit 2010 war al-Baghdadi Chef des IS, seit Ende Juni 2014 nennt er sich offizielle „Kalif Ibrahim“. Am 29. Juni rief er bei der Freitagspredigt in der Hauptmoschee von Mossul vor sorgfältig ausgewählten Gästen das „Kalifat“ aus. Er will einen neuen islamischen Staat auferstehen lassen und momentan scheint ihn niemand daran hindern zu können.
Terroristen online - Propaganda und wertvolle Einblicke
Wertvolle Einblicke in die Welt des IS liefert eine Reportage des VICE-Magazins: In „The Islamic State“ begleitet der Journalist Medyan Dairieh die Kämpfer des IS in und um Raqqa (Syrien) und bekommt die Möglichkeit, Statements von ranghohen Führern der Gruppe aufzunehmen. Dem Zuschauer wird Einsicht gewährt in das ganze System des „Kalifats“: Dairieh besucht ein Gefängnis und den Scharia-Gerichtshof, wird Zeuge der Vereidigung neuer Kämpfer und begleitet einen IS-Funktionär bei seiner Patrouille durch die Stadt. Diese Dokumentation ist momentan die einzige, in der die Zuschauer das Innere der besetzten Gebiete zu Gesicht bekommen. Daneben bleiben nur noch die zahlreichen Propagandavideos des IS als virtuelle Quellen übrig: Paraden durch eroberte Gebiete auf weißen Geländewagen, immer dabei die schwarze IS-Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Vermummte und unvermummte Kämpfer posieren mit Gefangenen. Auf einigen Videos sind Hinrichtungen zu sehen, auf anderen rufen ausländische Terroristen ihre Landsleute in der Heimat dazu auf, dem Ruf des Dschihad zu folgen. Es existiert auch ein längeres Video, eine Produktion der Propagandaabteilung des „Kalifats“. Und am bedeutendsten ist wohl die aufgezeichnete Predigt des Kalifen Ibrahim, die er vor seinen freiwilligen und unfreiwilligen Gefolgsleuten in der Moschee von Mossul hielt, bevor er - abgeschirmt von seinen Sicherheitsleuten - wieder im Nirgendwo verschwand. Mit diesem Video appelliert er an die Muslime der Welt, seinem Ruf zu folgen und in sein Kalifat zu immigrieren. Das wichtigste Ziel des gesamten Propagandaapparates ist es, kampfbereite junge Muslime in aller Welt zu mobilisieren. Der Kampfeswille soll durch die begeisterten Zeugnisse kampferprobter Dschihadisten geweckt werden, der Alltag vor Ort wird durch diese Videos verherrlicht und die Legitimation des örtlichen Dschihad bekommt man durch die Rede des Kalifen gleich mitgeliefert. Wir sind das Kalifat und wir sind unbesiegbar. Das ist die Botschaft. Und nicht wenige ausländische Fanatiker kamen dieser Aufforderung nach: Wie schon in anderen Konflikten (z.B. Ex-Jugoslawien oder Afghanistan) kommen auch jetzt zahlreiche Muslime aus Saudi-Arabien, den Golfstaaten und auch Europa nach Syrien und in den Irak. Diese Bewegung wurde schon früh im Syrienkrieg losgetreten, als sich die Rebellengruppen gerade formiert hatten. Die europäischen Dschihadisten reisten größtenteils über die Türkei ins Kampfgebiet ein, wurden dort auf ihre Treue geprüft und an der Waffe trainiert. Seitdem tauchen Videos auf, in denen sich auch Deutsche damit rühmen, „Ungläubige“ getötet zu haben. Nach einem Bericht von n24 sollen derzeit 139 Deutsche im Kriegsgebiet kämpfen, eine große Zahl von ihnen in den Reihen es IS. Sie befeuern die Propaganda des Terrornetzwerks und ermutigen ihre Glaubensgeschwister zuhause zur Reise an die Levante. Und der Grund, wieso VICE seine Dokumentation drehen durfte, liegt auf der Hand: IS will sich der Welt präsentieren - als Kämpfer, als Sieger.
Die eigene Online-Recherche birgt aber die eine oder andere Tücke: Natürlich ist an allen Fronten und auf allen Seiten Propaganda im Umlauf. Nicht selten finden sich hier Fehler oder Falschmeldungen: Es kursierten zum Beispiel Bilder von Frauen, die vom IS angeblich in die Sklaverei verkauft wurden. Gestalten in schwarzer Burka, die Hände aneinandergekettet. Doch diese Fotos stammen vom Aschura-Ritual, bei dem Schiiten dem Tod des dritten Imams Hussein gedenken. Bilder des Aschura-Tages und der damit verbundenen Paraden, Rituale und Praktiken kennt man aus dem Iran: Männer geißeln sich selbst, indem sie sich mit Peitschen den Rücken blutig schlagen. Dazu gehören auch Frauen in Ketten, doch die haben mit dem IS in keiner Weise etwas zu tun - zumindest nicht auf den präsentierten Bildern.
Terror und Zerstörung
Inhalt der Propaganda, aber auch bittere Realität sind die Vertreibungen und die Massaker des IS an religiösen Minderheiten. Die christlichen Einwohner Mossuls wurden vor die Wahl gestellt zu fliehen, zum Islam zu konvertieren oder hingerichtet zu werden. Die Türen christlicher Haushalte wurden mit einem arabischen N (für naṣrānī, „Nazarener“) gekennzeichnet. Sprühfarbe zur Brandmarkung. Die allermeisten Betroffenen verließen daraufhin Ende Juli 2014 die Stadt. Die christliche Gemeinde, die sich traditionell aus aramäischen, syrisch-orthodoxen und chaldäischen Gläubigen zusammensetzt, bestand seit über eineinhalb Jahrtausenden. Nun hat sie aufgehört zu existieren. Bei der Machtübernahme des IS lebten nach unterschiedlichen Angaben noch zwischen 25.000 und 35.000 Christen in der Stadt. Die meisten von ihnen sind nun auf das Gebiet der Autonomen Region Kurdistan geflüchtet. Die kurdischen Gebiete rund um Erbil und Dohuk waren auch das Ziel von ca. 200.000 Jesiden, die aus ihren Dörfern vor den herannahenden IS-Truppen geflohen waren. Unzählige Menschen verhungerten, während sie auf dem Dschabal Sindschar, einem Gebirge, festsaßen und auf Rettung warteten.
Neben der Vertreibung und Ermordung von Christen, Jesiden und Turkmenen begeht der IS auch ein unglaubliches Verbrechen am kulturellen Erbe des Irak: Aus Propagandavideos und Augenzeugenberichten geht hervor, dass die Gruppe damit begann, christliche Kirchen, aber auch schiitische Schreine und Moscheen sowie die Gräber von Heiligen oder islamischen Propheten zu sprengen. Im dogmatischen Islam ist die Verehrung von Heiligen und ihrer Gräber verpöhnt, für Dschihadisten ist sie inakzeptabel. Nun werden die eroberten Regionen nicht nur von Andersgläubigen, sondern auch von ihrem historischen Erbe „gesäubert“. Was einst die Taliban im afghanischen Bamian anrichteten, als sie die uralten Buddhastatuen sprengten, wiederholt der IS nun im Irak, einer der wichtigsten Wiegen der menschlichen Zivilisationsgeschichte.Innerhalb seines Machtbereich regiert der IS mit voller Härte. Die Gesetzgebung basiert dabei auf der individuellen Interpretation des islamischen Scharia-Gesetzeskorpus. Das „Kalifat“ soll eine Theokraie sein, die Gesetze werden auf der Straße von patroullierenden Aufsehern durchgesetzt. Im Fastenmonat Ramadan ist essen und trinken tagsüber streng verboten, Händler werden kontrolliert, Passanten im Falle eines Verstoßes gegen die Kleiderordnung gerügt. Angeblich verabschiedete der IS als erstes Regelwerk einen 16-Punkte-Katalog voller Einschränkungen, so ein Bericht des Merkur Online. Konsum und Verkauf alkoholischer Getränke oder Drogen sind verboten, gleiches gilt für das Rauchen. Das Tragen von Waffen ist untersagt, ebenso Versammlungen. Ausgenommen sind IS-Kämpfer. Frauen in den eroberten Gebieten müssen ihren gesamten Körper bedecken und optimalerweise zuhause bleiben. Das System des Islamischen Staates hat alles, was zur Aufrechterhaltung dieser neuen Ordnung notwendig ist: Gefängnisse und organisierte Gerichte mit Büros und Sprechstunden, wie sie in der VICE-Reportage zu sehen sind, existieren in jeder großen Stadt. Die Strafen für Verbrechen wie Mord oder Diebstahl sind drastisch: Dieben werden die Hände abgehackt, wegen unterschiedlichster Vergehen werden Menschen geköpft. Auch Abfall vom Glauben kann unmittelbar zum Tode führen. Es ist dabei aber nicht einmal sicher, ob sich der IS in der Durchsetzung dieser Urteile überhaupt an irgendwelchen Regeln orientiert oder ob die Scharia nur als Entschuldigung vorgeschoben wird, um Gegner gnadenlos niederzumetzeln. Laut WELT berichteten die UN unter Berufung auf Zeugenaussagen, dass im Juni in der Haftanstalt Badush ein Massaker verübt wurde. In dem Gefängnis in Mossul sollen 670 irakische Insassen hingerichtet worden sein. Es ist nur eine von vielen Meldungen über Massaker, Hinrichtungen und blutrünstige Massentötungen.
Wie finanziert sich der IS-Terror?
Wie konnte es so weit kommen? Wie wurde es möglich, dass der IS Mitte 2014 über ein eigenes Territorium von beachtlicher Größe verfügt? Dies ist neben einer politischen und militärischen auch eine finanzielle Frage, auf die es mehrere Antworten gibt: Der Islamische Staat handelt mit Rohöl und verkauft es an die verschiedensten Konfliktparteien. Große Ölfelder in Syrien, aber auch rund um die nordirakische Stadt Kirkuk gehören oder gehörten zum Machtgebiet der Terrorgruppe. Von hier aus wurden Tanklaster mit der wertvollen Ladung zum Export losgeschickt. Über die Empfänger gibt es unterschiedliche Meldungen: Das Öl werde an die iranische Grenze transportiert, hieß es. Doch vor allem der syrische Diktator Assad, der dem IS wie die meisten anderen politischen Akteure der Region als Feind gilt, soll laut taz zu den Hauptabnehmern des erbeuteten Öls gehören. Während andere bewaffnete Rebellengruppen den Rohstoff in Plastikflaschen und Kanistern über die Grenze in die Türkei schmuggeln, liefert IS im großen Stil an das benachbarte und offiziell verfeindete Regime. Aber schon vor der Eroberung dieser Ölfelder war der IS die reichste Terrorgruppe der Welt. Es ist zu vermuten, dass die Terroristen aus unterschiedlichen Richtungen große Spenden erhalten. Geld fließe vor allem aus den Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien, meldete die Tagesschau Ende Juli. Und auch Wegzölle entlang der Grenzen zwischen Irak und Syrien zählen zu den Einnahmequellen der Gruppe. Ein großer Coup gelang ihr außerdem im Juni 2014: Bei der Eroberung von Mossul fiel die Zentralbank in die Hände des IS - dabei wurden laut Washington Post ganze 425 Millionen US$ erbeutet. Die Welt hat es also nicht nur mit einer Bande von Terroristen zu tun, sondern mit einer gut organisierten Bewegung, die mittlerweile sowohl über Land als auch Geld verfügt.
Militärisch unterschätzt
Im Juni 2014 eroberte der IS - damals noch ISIS - die Metropole Mossul. Die zweitgrößte Stadt des Irak hat fast drei Millionen Einwohner und war schon 2006 Mittelpunkt der Terrorbewegung, als ISIS dort das „Islamische Emirat Irak“ ausrief und begann, die Bevölkerung zu terrorisieren. Seitdem war Mossul geplagt von Anschlägen, Entführungen und Morden an Journalisten, Frauen ohne Kopftuch oder Ladenbesitzern, die den Vorgaben der Terrorgruppe nicht Folge leisteten. Acht Jahre später ist die Stadt nun vollkommen in der Hand des IS und die Welt fragt sich: Wie konnte eine handvoll Terroristen diese große Stadt scheinbar im Handumdrehen einnehmen? Wie konnten 800 Kämpfer eine Metropole erobern, die von knapp 30.000 irakischen Soldaten verteidigt wurde? Militärexperten vermuten als Hauptursache die schlechte Ausbildung der irakischen Streitkräfte und vor allem die mangelnde Moral. Die Gründe liegen jedoch auch in der Strategie des IS, Furcht und Schrecken zu verbreiten und dafür zu sorgen, dass es sich herumspricht. Meldungen von exekutierten Gefangenen und Videos von Massenhinrichtungen untermauern die Brutalität des IS, deren Opfer jeder wird, der in ihre Hände gerät. Doch nicht nur die furchteinflößende Kriegspropaganda verhilft zum militärischen Sieg, es ist auch die Vorgehensweise an der Front: „Sturmattacken wie im siebten Jahrhundert“, titelt Spiegel Online. Modernste Kriegstaktik mischten die Dschihadisten mit apokalyptischen Angriffen, heißt es. Blitzschnell und skrupellos. „Sie kamen wie ein Schwarm, rasend, schießend, als ob nichts sie aufhalten könne“, berichtet ein kurdischer Kommandeur. Angriffe wie aus der Zeit der ersten islamischen Expansionen? Nur ohne Pferde: Auf 70 oder 80 Wagen seien sie angerast gekommen. „Sie rollten in breiter Linie durch die Wüste, Dutzende Fahrzeuge nebeneinander, und schossen dabei. Egal, ob wir einen Wagen ausschalten konnten, die anderen rasten einfach weiter“, erzählt ein weiterer kurdischer Soldat. „Sie schickten erst mehrere Selbstmordattentäter mit sprengstoffbeladenen Wagen, dann kam die Haupttruppe - und zwar so schnell nach den Explosionen, dass keiner reagieren konnte. Wer konnte, floh.“ Die IS-Kämpfer sind hoch motiviert und gnadenlos, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Dschihadisten fürchten den Tod nicht, sondern sehnen sich nach dem „Martyrium“. Und Berichte wie diese sorgen zudem dafür, dass die Moral derjenigen, die sich den Kämpfern entgegenstellen, noch weiter gegen Null geht. Die irakischen und kurdischen Soldaten fliehen vor heranbrausenden Jeeps und Pickups, auf denen Maschinengewehre installiert sind. Darunter sind dutzende Humvees: Vor ihrem Abzug hatten die US-Truppen der irakischen Armee viel Material überlassen, u. a. auch gepanzerte Fahrzeuge. Große Teile der militärischen Ausrüstung des IS stammen aus diesen Beständen, wurden schon andernorts von den fliehenden Irakern erobert. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte kämpfen nun Terroristen mit amerikanischen Waffen, rücken Woche für Woche ein Stück weiter vor und vergrößern ihr Territorium unaufhaltsam.
Kampf, Politik und aufgekündigte Bündnisse
Während in Deutschland und Europa diskutiert wird, ob man die kurdische Armee des Nordirak mit Waffen beliefern sollte, läuft den Menschen vor Ort die Zeit davon. Kurden, Jesiden, Christen - sie sind auf der Flucht. Und selbst gegen sunnitische Gruppen wendet sich der IS mittlerweile. Militärische Bündnisse sind nur so lange attraktiv, bis sie nicht mehr nützlich sind. Wer anfängt zu rebellieren, wird automatisch zum Feind und kommt unter die Räder des IS-Vormarsches. Mitte August soll der IS ganze 700 Mitglieder des asch-Scheitaat-Stammes getötet haben, nachdem es im Zuge der Besetzung mehrerer Ölfelder zu Konflikten gekommen war.
Bündnisse sind flüchtig beim Islamischen Staat. Von Beginn an war die Terrorgruppe eng mit Al-Qaida vernetzt. Als der IS noch kein Land und auch noch keinen bedeutenden Einfluss hatte, war das Terrornetzwerk um Osama Bin Laden ein wichtiger, ein unerlässlicher Verbündeter. Bis heute hat sich die Situation geändert: Erst machte sich der IS selbstständig, jetzt distanziert sich al-Qaida sogar von dieser Gruppe. Die Süddeutsche schrieb auch wieso: „Die dynamischen Emporkömmlinge lassen die einstigen Terror-Fürsten verkopft und entscheidungsschwach aussehen. Die Ausrufung des Kalifats ist für al-Qaida nicht nur eine Provokation - sie ist eine Kriegserklärung.“ Die Dschihadisten-Szene sei nicht weniger zerklüftet als andere arabische Gemeinschaften.Währenddessen macht sich in der gesamten islamischen Welt Widerstand breit: In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Erde, wurde jegliche Unterstützung der IS-Terroristen von höchster religiöser Instanz für illegal erklärt. Muslimische Gemeinden weltweit geben Erklärungen ab und distanzieren sich von diesem ungekannten Terror im Namen eines selbsternannten Kalifen.
Doch „außenpolitisch“ verunsichert der IS seine Gegner noch immer. Die USA beginnen zwar, Luftangriffe auf IS-Stellungen zu fliegen, um die kurdischen Peschmerga bei der Verteidigung der nordirakischen Städte zu unterstützen. Doch die Türkei erscheint still und passiv, fast schon eingeschüchtert. Mit gutem Grund: Im Laufe des Jahres nahmen die Terroristen 28 türkische Lastwagenfahrer als Geiseln. Und im Juni stürmten sie bei der Eroberung von Mossul auch das türkische Konsulat. Seitdem befinden sich fast 50 Mitarbeiter und Diplomaten in Geiselhaft, darunter der Generalkonsul der Türkei selbst. In den letzten Aufnahmen bei VICE gab es harte Worte vonseiten des IS an die türkischen Nachbarn. Man werde Istanbul erobern, hieß es. Ob dies eine Drohung sei? Ja, das sei eine Drohung.
Doch wer sind die Männer, die hinter der Gruppe IS (arab. dā‘isch) stecken? Und wie funktioniert dieses Netzwerk? Leider ist es den meisten Journalisten nicht möglich, vor Ort und brandaktuell Hintergrundberichte aus dem Inneren des Terrornetzwerks zu liefern. Deshalb bleibt auch mir nur übrig, mich auf all das zu stützen, was im Internet an mehr oder weniger glaubwürdigen Berichten kursiert.
Der „Kalif“
Abu Bakr al-Baghdadi al-Husseini al-Quraschi hat seinen Name treffend gewählt: Abu Bakr war der zweite der sogenannten Rechtgeleiteten Kalifen und der direkte Nachfolger Muhammads im 7. Jahrhundert. Mit dem Namenszusatz (nisbe) al-Baghdadi will er sich als einheimischen Iraker legitimieren, der Zusatz al-Quraischi weist ihn als Angehörigen des Stammes des Propheten aus, den Quraisch. Ob diese Tatsachen der Wahrheit entsprechen, lässt sich schwer feststellen. Doch es ist zu vermuten, dass die Wahl des Namens lediglich der Festigung der Macht al-Baghdadis dienen sollte. In Wirklichkeit heißt der Mann, der gerade den Nahen Osten und die Welt darüber hinaus in Angst und Schrecken versetzt, Ibrahim al-Badri und stammt aus der nördlich von Bagdad gelegenen Stadt Samarra, einem bedeutenden schiitischen Pilgerort am Ostufer des Tigris. Er studierte Islamic Studies in der irakischen Hauptstadt und war zur Zeit der US-Invasion angeblich Geistlicher in seinem Heimatort. Seit 2003 durchlief er eine Laufbahn als Kämpfer in unterschiedlichen militanten Gruppierungen, bis er bei den Vorgängern des IS landete. Seit 2010 war al-Baghdadi Chef des IS, seit Ende Juni 2014 nennt er sich offizielle „Kalif Ibrahim“. Am 29. Juni rief er bei der Freitagspredigt in der Hauptmoschee von Mossul vor sorgfältig ausgewählten Gästen das „Kalifat“ aus. Er will einen neuen islamischen Staat auferstehen lassen und momentan scheint ihn niemand daran hindern zu können.
Terroristen online - Propaganda und wertvolle Einblicke
Wertvolle Einblicke in die Welt des IS liefert eine Reportage des VICE-Magazins: In „The Islamic State“ begleitet der Journalist Medyan Dairieh die Kämpfer des IS in und um Raqqa (Syrien) und bekommt die Möglichkeit, Statements von ranghohen Führern der Gruppe aufzunehmen. Dem Zuschauer wird Einsicht gewährt in das ganze System des „Kalifats“: Dairieh besucht ein Gefängnis und den Scharia-Gerichtshof, wird Zeuge der Vereidigung neuer Kämpfer und begleitet einen IS-Funktionär bei seiner Patrouille durch die Stadt. Diese Dokumentation ist momentan die einzige, in der die Zuschauer das Innere der besetzten Gebiete zu Gesicht bekommen. Daneben bleiben nur noch die zahlreichen Propagandavideos des IS als virtuelle Quellen übrig: Paraden durch eroberte Gebiete auf weißen Geländewagen, immer dabei die schwarze IS-Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Vermummte und unvermummte Kämpfer posieren mit Gefangenen. Auf einigen Videos sind Hinrichtungen zu sehen, auf anderen rufen ausländische Terroristen ihre Landsleute in der Heimat dazu auf, dem Ruf des Dschihad zu folgen. Es existiert auch ein längeres Video, eine Produktion der Propagandaabteilung des „Kalifats“. Und am bedeutendsten ist wohl die aufgezeichnete Predigt des Kalifen Ibrahim, die er vor seinen freiwilligen und unfreiwilligen Gefolgsleuten in der Moschee von Mossul hielt, bevor er - abgeschirmt von seinen Sicherheitsleuten - wieder im Nirgendwo verschwand. Mit diesem Video appelliert er an die Muslime der Welt, seinem Ruf zu folgen und in sein Kalifat zu immigrieren. Das wichtigste Ziel des gesamten Propagandaapparates ist es, kampfbereite junge Muslime in aller Welt zu mobilisieren. Der Kampfeswille soll durch die begeisterten Zeugnisse kampferprobter Dschihadisten geweckt werden, der Alltag vor Ort wird durch diese Videos verherrlicht und die Legitimation des örtlichen Dschihad bekommt man durch die Rede des Kalifen gleich mitgeliefert. Wir sind das Kalifat und wir sind unbesiegbar. Das ist die Botschaft. Und nicht wenige ausländische Fanatiker kamen dieser Aufforderung nach: Wie schon in anderen Konflikten (z.B. Ex-Jugoslawien oder Afghanistan) kommen auch jetzt zahlreiche Muslime aus Saudi-Arabien, den Golfstaaten und auch Europa nach Syrien und in den Irak. Diese Bewegung wurde schon früh im Syrienkrieg losgetreten, als sich die Rebellengruppen gerade formiert hatten. Die europäischen Dschihadisten reisten größtenteils über die Türkei ins Kampfgebiet ein, wurden dort auf ihre Treue geprüft und an der Waffe trainiert. Seitdem tauchen Videos auf, in denen sich auch Deutsche damit rühmen, „Ungläubige“ getötet zu haben. Nach einem Bericht von n24 sollen derzeit 139 Deutsche im Kriegsgebiet kämpfen, eine große Zahl von ihnen in den Reihen es IS. Sie befeuern die Propaganda des Terrornetzwerks und ermutigen ihre Glaubensgeschwister zuhause zur Reise an die Levante. Und der Grund, wieso VICE seine Dokumentation drehen durfte, liegt auf der Hand: IS will sich der Welt präsentieren - als Kämpfer, als Sieger.
Die eigene Online-Recherche birgt aber die eine oder andere Tücke: Natürlich ist an allen Fronten und auf allen Seiten Propaganda im Umlauf. Nicht selten finden sich hier Fehler oder Falschmeldungen: Es kursierten zum Beispiel Bilder von Frauen, die vom IS angeblich in die Sklaverei verkauft wurden. Gestalten in schwarzer Burka, die Hände aneinandergekettet. Doch diese Fotos stammen vom Aschura-Ritual, bei dem Schiiten dem Tod des dritten Imams Hussein gedenken. Bilder des Aschura-Tages und der damit verbundenen Paraden, Rituale und Praktiken kennt man aus dem Iran: Männer geißeln sich selbst, indem sie sich mit Peitschen den Rücken blutig schlagen. Dazu gehören auch Frauen in Ketten, doch die haben mit dem IS in keiner Weise etwas zu tun - zumindest nicht auf den präsentierten Bildern.
Terror und Zerstörung
Inhalt der Propaganda, aber auch bittere Realität sind die Vertreibungen und die Massaker des IS an religiösen Minderheiten. Die christlichen Einwohner Mossuls wurden vor die Wahl gestellt zu fliehen, zum Islam zu konvertieren oder hingerichtet zu werden. Die Türen christlicher Haushalte wurden mit einem arabischen N (für naṣrānī, „Nazarener“) gekennzeichnet. Sprühfarbe zur Brandmarkung. Die allermeisten Betroffenen verließen daraufhin Ende Juli 2014 die Stadt. Die christliche Gemeinde, die sich traditionell aus aramäischen, syrisch-orthodoxen und chaldäischen Gläubigen zusammensetzt, bestand seit über eineinhalb Jahrtausenden. Nun hat sie aufgehört zu existieren. Bei der Machtübernahme des IS lebten nach unterschiedlichen Angaben noch zwischen 25.000 und 35.000 Christen in der Stadt. Die meisten von ihnen sind nun auf das Gebiet der Autonomen Region Kurdistan geflüchtet. Die kurdischen Gebiete rund um Erbil und Dohuk waren auch das Ziel von ca. 200.000 Jesiden, die aus ihren Dörfern vor den herannahenden IS-Truppen geflohen waren. Unzählige Menschen verhungerten, während sie auf dem Dschabal Sindschar, einem Gebirge, festsaßen und auf Rettung warteten.
Neben der Vertreibung und Ermordung von Christen, Jesiden und Turkmenen begeht der IS auch ein unglaubliches Verbrechen am kulturellen Erbe des Irak: Aus Propagandavideos und Augenzeugenberichten geht hervor, dass die Gruppe damit begann, christliche Kirchen, aber auch schiitische Schreine und Moscheen sowie die Gräber von Heiligen oder islamischen Propheten zu sprengen. Im dogmatischen Islam ist die Verehrung von Heiligen und ihrer Gräber verpöhnt, für Dschihadisten ist sie inakzeptabel. Nun werden die eroberten Regionen nicht nur von Andersgläubigen, sondern auch von ihrem historischen Erbe „gesäubert“. Was einst die Taliban im afghanischen Bamian anrichteten, als sie die uralten Buddhastatuen sprengten, wiederholt der IS nun im Irak, einer der wichtigsten Wiegen der menschlichen Zivilisationsgeschichte.Innerhalb seines Machtbereich regiert der IS mit voller Härte. Die Gesetzgebung basiert dabei auf der individuellen Interpretation des islamischen Scharia-Gesetzeskorpus. Das „Kalifat“ soll eine Theokraie sein, die Gesetze werden auf der Straße von patroullierenden Aufsehern durchgesetzt. Im Fastenmonat Ramadan ist essen und trinken tagsüber streng verboten, Händler werden kontrolliert, Passanten im Falle eines Verstoßes gegen die Kleiderordnung gerügt. Angeblich verabschiedete der IS als erstes Regelwerk einen 16-Punkte-Katalog voller Einschränkungen, so ein Bericht des Merkur Online. Konsum und Verkauf alkoholischer Getränke oder Drogen sind verboten, gleiches gilt für das Rauchen. Das Tragen von Waffen ist untersagt, ebenso Versammlungen. Ausgenommen sind IS-Kämpfer. Frauen in den eroberten Gebieten müssen ihren gesamten Körper bedecken und optimalerweise zuhause bleiben. Das System des Islamischen Staates hat alles, was zur Aufrechterhaltung dieser neuen Ordnung notwendig ist: Gefängnisse und organisierte Gerichte mit Büros und Sprechstunden, wie sie in der VICE-Reportage zu sehen sind, existieren in jeder großen Stadt. Die Strafen für Verbrechen wie Mord oder Diebstahl sind drastisch: Dieben werden die Hände abgehackt, wegen unterschiedlichster Vergehen werden Menschen geköpft. Auch Abfall vom Glauben kann unmittelbar zum Tode führen. Es ist dabei aber nicht einmal sicher, ob sich der IS in der Durchsetzung dieser Urteile überhaupt an irgendwelchen Regeln orientiert oder ob die Scharia nur als Entschuldigung vorgeschoben wird, um Gegner gnadenlos niederzumetzeln. Laut WELT berichteten die UN unter Berufung auf Zeugenaussagen, dass im Juni in der Haftanstalt Badush ein Massaker verübt wurde. In dem Gefängnis in Mossul sollen 670 irakische Insassen hingerichtet worden sein. Es ist nur eine von vielen Meldungen über Massaker, Hinrichtungen und blutrünstige Massentötungen.
Wie finanziert sich der IS-Terror?
Wie konnte es so weit kommen? Wie wurde es möglich, dass der IS Mitte 2014 über ein eigenes Territorium von beachtlicher Größe verfügt? Dies ist neben einer politischen und militärischen auch eine finanzielle Frage, auf die es mehrere Antworten gibt: Der Islamische Staat handelt mit Rohöl und verkauft es an die verschiedensten Konfliktparteien. Große Ölfelder in Syrien, aber auch rund um die nordirakische Stadt Kirkuk gehören oder gehörten zum Machtgebiet der Terrorgruppe. Von hier aus wurden Tanklaster mit der wertvollen Ladung zum Export losgeschickt. Über die Empfänger gibt es unterschiedliche Meldungen: Das Öl werde an die iranische Grenze transportiert, hieß es. Doch vor allem der syrische Diktator Assad, der dem IS wie die meisten anderen politischen Akteure der Region als Feind gilt, soll laut taz zu den Hauptabnehmern des erbeuteten Öls gehören. Während andere bewaffnete Rebellengruppen den Rohstoff in Plastikflaschen und Kanistern über die Grenze in die Türkei schmuggeln, liefert IS im großen Stil an das benachbarte und offiziell verfeindete Regime. Aber schon vor der Eroberung dieser Ölfelder war der IS die reichste Terrorgruppe der Welt. Es ist zu vermuten, dass die Terroristen aus unterschiedlichen Richtungen große Spenden erhalten. Geld fließe vor allem aus den Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien, meldete die Tagesschau Ende Juli. Und auch Wegzölle entlang der Grenzen zwischen Irak und Syrien zählen zu den Einnahmequellen der Gruppe. Ein großer Coup gelang ihr außerdem im Juni 2014: Bei der Eroberung von Mossul fiel die Zentralbank in die Hände des IS - dabei wurden laut Washington Post ganze 425 Millionen US$ erbeutet. Die Welt hat es also nicht nur mit einer Bande von Terroristen zu tun, sondern mit einer gut organisierten Bewegung, die mittlerweile sowohl über Land als auch Geld verfügt.
Militärisch unterschätzt
Im Juni 2014 eroberte der IS - damals noch ISIS - die Metropole Mossul. Die zweitgrößte Stadt des Irak hat fast drei Millionen Einwohner und war schon 2006 Mittelpunkt der Terrorbewegung, als ISIS dort das „Islamische Emirat Irak“ ausrief und begann, die Bevölkerung zu terrorisieren. Seitdem war Mossul geplagt von Anschlägen, Entführungen und Morden an Journalisten, Frauen ohne Kopftuch oder Ladenbesitzern, die den Vorgaben der Terrorgruppe nicht Folge leisteten. Acht Jahre später ist die Stadt nun vollkommen in der Hand des IS und die Welt fragt sich: Wie konnte eine handvoll Terroristen diese große Stadt scheinbar im Handumdrehen einnehmen? Wie konnten 800 Kämpfer eine Metropole erobern, die von knapp 30.000 irakischen Soldaten verteidigt wurde? Militärexperten vermuten als Hauptursache die schlechte Ausbildung der irakischen Streitkräfte und vor allem die mangelnde Moral. Die Gründe liegen jedoch auch in der Strategie des IS, Furcht und Schrecken zu verbreiten und dafür zu sorgen, dass es sich herumspricht. Meldungen von exekutierten Gefangenen und Videos von Massenhinrichtungen untermauern die Brutalität des IS, deren Opfer jeder wird, der in ihre Hände gerät. Doch nicht nur die furchteinflößende Kriegspropaganda verhilft zum militärischen Sieg, es ist auch die Vorgehensweise an der Front: „Sturmattacken wie im siebten Jahrhundert“, titelt Spiegel Online. Modernste Kriegstaktik mischten die Dschihadisten mit apokalyptischen Angriffen, heißt es. Blitzschnell und skrupellos. „Sie kamen wie ein Schwarm, rasend, schießend, als ob nichts sie aufhalten könne“, berichtet ein kurdischer Kommandeur. Angriffe wie aus der Zeit der ersten islamischen Expansionen? Nur ohne Pferde: Auf 70 oder 80 Wagen seien sie angerast gekommen. „Sie rollten in breiter Linie durch die Wüste, Dutzende Fahrzeuge nebeneinander, und schossen dabei. Egal, ob wir einen Wagen ausschalten konnten, die anderen rasten einfach weiter“, erzählt ein weiterer kurdischer Soldat. „Sie schickten erst mehrere Selbstmordattentäter mit sprengstoffbeladenen Wagen, dann kam die Haupttruppe - und zwar so schnell nach den Explosionen, dass keiner reagieren konnte. Wer konnte, floh.“ Die IS-Kämpfer sind hoch motiviert und gnadenlos, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Dschihadisten fürchten den Tod nicht, sondern sehnen sich nach dem „Martyrium“. Und Berichte wie diese sorgen zudem dafür, dass die Moral derjenigen, die sich den Kämpfern entgegenstellen, noch weiter gegen Null geht. Die irakischen und kurdischen Soldaten fliehen vor heranbrausenden Jeeps und Pickups, auf denen Maschinengewehre installiert sind. Darunter sind dutzende Humvees: Vor ihrem Abzug hatten die US-Truppen der irakischen Armee viel Material überlassen, u. a. auch gepanzerte Fahrzeuge. Große Teile der militärischen Ausrüstung des IS stammen aus diesen Beständen, wurden schon andernorts von den fliehenden Irakern erobert. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte kämpfen nun Terroristen mit amerikanischen Waffen, rücken Woche für Woche ein Stück weiter vor und vergrößern ihr Territorium unaufhaltsam.
Kampf, Politik und aufgekündigte Bündnisse
Während in Deutschland und Europa diskutiert wird, ob man die kurdische Armee des Nordirak mit Waffen beliefern sollte, läuft den Menschen vor Ort die Zeit davon. Kurden, Jesiden, Christen - sie sind auf der Flucht. Und selbst gegen sunnitische Gruppen wendet sich der IS mittlerweile. Militärische Bündnisse sind nur so lange attraktiv, bis sie nicht mehr nützlich sind. Wer anfängt zu rebellieren, wird automatisch zum Feind und kommt unter die Räder des IS-Vormarsches. Mitte August soll der IS ganze 700 Mitglieder des asch-Scheitaat-Stammes getötet haben, nachdem es im Zuge der Besetzung mehrerer Ölfelder zu Konflikten gekommen war.
Bündnisse sind flüchtig beim Islamischen Staat. Von Beginn an war die Terrorgruppe eng mit Al-Qaida vernetzt. Als der IS noch kein Land und auch noch keinen bedeutenden Einfluss hatte, war das Terrornetzwerk um Osama Bin Laden ein wichtiger, ein unerlässlicher Verbündeter. Bis heute hat sich die Situation geändert: Erst machte sich der IS selbstständig, jetzt distanziert sich al-Qaida sogar von dieser Gruppe. Die Süddeutsche schrieb auch wieso: „Die dynamischen Emporkömmlinge lassen die einstigen Terror-Fürsten verkopft und entscheidungsschwach aussehen. Die Ausrufung des Kalifats ist für al-Qaida nicht nur eine Provokation - sie ist eine Kriegserklärung.“ Die Dschihadisten-Szene sei nicht weniger zerklüftet als andere arabische Gemeinschaften.Währenddessen macht sich in der gesamten islamischen Welt Widerstand breit: In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Erde, wurde jegliche Unterstützung der IS-Terroristen von höchster religiöser Instanz für illegal erklärt. Muslimische Gemeinden weltweit geben Erklärungen ab und distanzieren sich von diesem ungekannten Terror im Namen eines selbsternannten Kalifen.
Doch „außenpolitisch“ verunsichert der IS seine Gegner noch immer. Die USA beginnen zwar, Luftangriffe auf IS-Stellungen zu fliegen, um die kurdischen Peschmerga bei der Verteidigung der nordirakischen Städte zu unterstützen. Doch die Türkei erscheint still und passiv, fast schon eingeschüchtert. Mit gutem Grund: Im Laufe des Jahres nahmen die Terroristen 28 türkische Lastwagenfahrer als Geiseln. Und im Juni stürmten sie bei der Eroberung von Mossul auch das türkische Konsulat. Seitdem befinden sich fast 50 Mitarbeiter und Diplomaten in Geiselhaft, darunter der Generalkonsul der Türkei selbst. In den letzten Aufnahmen bei VICE gab es harte Worte vonseiten des IS an die türkischen Nachbarn. Man werde Istanbul erobern, hieß es. Ob dies eine Drohung sei? Ja, das sei eine Drohung.
(Reuters) |