Der Spiegel macht den Faktencheck
zu Behauptungen der Pegida
(„Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“), widerlegt
falsche Behauptungen und uralte Ressentiments. Sogar GMX fragt: „Was
ist dran an den Vorurteilen?“ So stellt man sich den neuen alten Ängsten
derjenigen, die von sich selbst behaupten, aus der Mitte der Gesellschaft zu
kommen. Die Zeitungen und Magazine schreiben angestrengt gegen jene Kräfte an,
die in Dresden kürzlich 19.000 „besorgte Bürger“ mobilisieren konnten, um gegen
die „Islamisierung des Abendlandes“ zu demonstrieren. Zumindest versuchen sie
es.
Doch wo schreiben hoffnungslos
erscheint, muss man fragen: Was treibt diese Menschen an? Woher kommt die Angst
– und wie kann man ihr begegnen?
Die immer gleichen Vorurteile
Die gängigsten Vorurteile und
Behauptungen lassen sich mittlerweile sogar mit Statistiken und in Stein
gemeißelten Zahlen widerlegen. Dass Zuwanderung den fleißigen Deutschen nur
Geld kosten würde, hat eine Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische
Wirtschaftsforschung (ZEW) als falsch erwiesen: Die 6,6 Millionen Menschen ohne
deutschen Pass haben im Jahr 2012 für einen Überschuss von rund 22 Milliarden
Euro gesorgt. Jeder Ausländer und jede Ausländerin zahlt pro Jahr etwa 3.300
Euro mehr Steuern und Sozialabgaben, als er oder sie an staatlichen Leistungen
erhält.
Nun gut, aber kriminell ist
der Ausländer an und für sich ja doch, oder? Wieder falsch. Die polizeiliche
Kriminalstatistik (ebenfalls 2012) offenbart, dass nur jeder vierte Tatverdächtige
keinen deutschen Pass hat – darin inbegriffen Touristen und aus dem Ausland
agierende Banden.
Das älteste aller Vorurteile müsste
heutzutage eigentlich gar nicht mehr thematisiert werden, gäbe es nicht einige Hetzer
und ihre ungebildeten Fußsoldaten, die immer noch an das Märchen von der
weggenommenen Arbeit glauben: Ausländer nehmen den fleißigen Deutschen die
Arbeitsplätze weg. – Die Zahlen sprechen auch hier eine andere Sprache, der
Mangel an Fachkräften und die Vielzahl unbesetzter Lehrstellen in vielen Regionen
Deutschlands untermauern die Statistik. Währenddessen arbeiten studierte Iraner
mitunter als Taxifahrer in Köln oder München, weil ihre Abschlüsse nicht
anerkannt werden.
Aber wenn wir ehrlich sind,
hat „der Ausländer“ immer nur die Drecksarbeit gemacht – und wurde genauso
behandelt wie das, was er wegputzen musste. Wer sich an die Achtziger und Günter
Wallraffs „Ganz unten“ (1985)
nicht mehr erinnern kann, der sei an dieser Stelle auf die entsprechenden Links
verwiesen.
„Sie sind überall“
Wer mit dem Jargon der
extremen Rechten vertraut ist, dem muss jedes Mal ein Schauer über den Rücken laufen,
wenn er Stimmen aus der Mitte der Gesellschaft mit dem Begriff „Überfremdung“ jonglieren
hört. Was bitte soll man darunter verstehen? Von Überfremdung singen „national
gesinnte“ Liedermacher mit weinerlicher Stimme, gegen die Überfremdung schreien
neubraune Führer in Bierzelten auf NPD-Kinderfesten an – aber in der
bürgerlichen Mitte hat diese Sprache nichts verloren, nicht zuletzt weil die
Aussage, die dahinter steht, grober Unfug ist. Wenn sich ein ganzes Land fremd
wird, dann hat es größere Probleme als die Zuwanderung.
Die Diskussion um Zuwanderung,
Integration und Migranten hält mittlerweile schon zu viele Jahre an, ohne wirklich
Ergebnisse zu liefern. Bei den zuvor genannten Vorurteilen und den
dazugehörigen Diskussionen am sprichwörtlichen Stammtisch geht es in
Wirklichkeit nicht um Tatsachen – auch nicht beim Thema Muslime. Es geht um
subjektives Empfinden. Denn Fakt ist: Muslime machen in Deutschlands gerade
einmal um die 5 Prozent der Bevölkerung aus. Eine verschwindend kleine
Minderheit, vor der das deutsche Abendland eigentlich keine Angst zu haben braucht.
Doch fragt man jenen Teil der Bevölkerung, der Angst vor „dem Islam“ hat, so
wird der Anteil der Muslime um ein Vielfaches höher eingeschätzt. Dieses
Phänomen gibt es nicht nur in Deutschland, sondern überall, wo Einwanderer
ankommen und sich ins alltägliche Stadtbild integrieren. So wird z.B. auch in
Großbritannien der prozentuale Anteil von Muslimen und Ausländern zu hoch
eingeschätzt.
Die Angst vor dem Fremden hat
die Tendenz, sich bisweilen in eine unkontrollierbare Hysterie zu steigern. Doch
wie kommt man gegen die neue Bewegung der Angstbürger an? Scheinbar nicht mit
Zahlen und Fakten, denn die Anhänger dieser selbsternannten Bürgerbewegungen glauben
nur der eigenen Statistik: Sie sehen einige überwiegend von Arabern bevölkerte
Stadtteile, eine größtenteils von fremdländisch aussehenden Kindern besuchte
Schule, ein morgenländisches Gebetshaus und können es angesichts dessen nicht
ertragen, dass in ihrer Heimat auch andere Menschen heimisch geworden sind.
Die Angst vor dem Unbekannten
– oder noch schlimmer: vor dem aus politically
incorrecten Gruselmärchen schon bekannt Erscheinenden – ist es, die neuerdings
Massen auf die Straße bringen kann. Seit dem Elften September ist das Kopftuch,
das unsere deutschen Großmütter vor vierzig oder fünfzig Jahren noch wie
selbstverständlich trugen, zu einem Symbol der „Überfremdung“ geworden. Die
Debatte über entweder unterdrückte oder fundamentalistische „Kopftuchmädchen“,
die in Wirklichkeit doch eigentlich nur ihren Glauben leben und in Ruhe
gelassen werden wollen, scheint erst jetzt abzuflauen, da man endlich ein
handfestes, brandgefährliches und noch bedrohlicheres Beispiel für die
Schattenseiten der islamischen Kultur gefunden hat: Während Terroristen und
Theokraten im Nahen Osten ein Kalifat des Schreckens zu errichten versuchen, fühlen
sich die rechten Hetzer und Breivik-Anhänger in der Echtheit des Konstrukts,
das sie „Islamisierung des christlich-jüdischen Abendlandes“ nennen, bestärkt.
Willkommenskultur – Auffanglagerkultur
Ressentiments gegen Ausländer
und Zuwanderungskritik gibt es seit der ersten Stunde deutscher Einwanderungsgeschichte.
Bis zum heutigen Tag hat sich die Stimmung zu einem neuen Höhepunkt seit den
1990er Jahren hochgeschaukelt, doch der Grund ist nicht etwa die aggressive
Missionierungskultur rheinländischer Salafisten. Entscheidend ist vielmehr die
Tatsache, dass immer mehr Menschen – und darunter auch viele Flüchtlinge aus
arabischen Ländern – in Deutschland Schutz vor Krieg, Vergewaltigung und Mord
suchen. Denn mehr noch als das geliebte Vaterland lieben der und die Deutsche das
Geld, das im Namen der deutschen Allgemeinheit ausgegeben wird. Und da kommt es
vielen gerade Recht, wenn ihnen jemand erzählt, dass hunderttausende
Asylbewerber_innen in Deutschland wie Gott in Frankreich leben. Bei Pegida-Demonstrationen
wetterte der Initiator Lutz Bachmann gegen „Heime mit Vollversorgung“ für
Flüchtlinge, während sich die deutschen Alten „manchmal noch nicht mal ein
Stück Stollen leisten können zu Weihnachten“. Wie groß muss der Hass eines
Volkes sein, wenn es seine Alten in miserable Heime steckt und dann
Bürgerkriegsflüchtlinge zu Schuldigen erklärt?
Die ZEIT (04.12.2014, Nr. 50)
berichtet über die aktuellen Zustände in vielen Lagern. Es wird auch der Kinderarzt
Andreas Schultz zitiert, der in einem Asylbewerberheim in München Kinder
behandelt.
Manchmal, sagt Schultz, erinnere ihn München an
den Sudan. […] An die hundert Kinder wohnen in der Notunterkunft, viele von
ihnen seien krank, sagt Schultz. Er hört ihren Brustkorb ab, untersucht ihre
Ohren und Atemwege. Er erzählt von Kindern, die eitrige Mandeln haben, weil sie
seit Tagen im Zelt schlafen. Von Jungen und Mädchen, die apathisch an die Decke
starren, weil es kein Spielzeug gibt. Von Jugendlichen, die nachts vor Kummer
schreien und tagsüber Bilder mit blutüberströmten Menschen malen. Von Babys,
die Durchfall bekommen, weil sie das Essen im Heim nicht vertragen. „Die
Kleinen bräuchten Brei“, sagt Schultz. „Stattdessen setzt man ihnen Hackfleisch
vor.“
Vollverpflegung sieht anders
aus. Das interessiert Leute wie Pegida-Bachmann aber nicht. Dabei geht es hier
nicht einmal um Zuwanderung an sich, denn Asylbewerber sind zunächst einmal
Schutzsuchende. (Oft wird dies auf beiden Seiten missverstanden: Asylgegner
argumentieren, das Boot sei voll. Deutschland könne nicht noch mehr Menschen
durchfüttern. Asylbefürworter argumentieren dagegen beim Thema Asyl, Deutschland
bräuchte doch Zuwanderung, allein schon um die Wirtschaft am Laufen zu halten.)
Doch Flüchtlinge in Deutschland wollen in
allererster Linie als Menschen behandelt werden und nicht als Zahlen, Nummern
und Objekte. Sie wollen ein Leben in Würde führen. Ein Recht, das ihnen das
Grundgesetz eigentlich zugesteht.
Dabei sind die meisten
Deutschen gastfreundlich – nur eben nicht im eigenen Wohngebiet:
Im wohlhabenden Hamburger Stadtteil
Harvestehude wird seit Oktober um ein Asylbewerberheim gestritten. Einige
Nachbarn sind gegen das Heim vor Gericht gezogen, sie sagen, sie hätten Angst
vor „Kinderlärm“. Harvestehude ist kein kinderfeindlicher Ort. Es gibt „Wohlfühlkindergärten“
mit Biofrühstück und Kinderyogakursen, es gibt Kochschulen für Zwölfjährige und
Kieferorthopäden speziell für Kinder. In manchen Flüchtlingsheimen gibt es
nicht einmal Zahnbürsten. In Würzburg zum Beispiel werden Zahnbürsten nur an
Asylbewerber verteilt, die älter als zwölf Jahre sind. Deutsche Kinder bekommen
Zahnputzkurse, sie haben kaum noch Karies. Viele Flüchtlingskinder kann man an
ihren schlechten Zähnen erkennen, sie sind oft braun und morsch. Wenn ein
deutsches Kind Karies hat, bohrt man ein Loch und füllt den Zahn. wenn ein Flüchtlingskind
Karies hat, wartet man, bis der Zahn verrottet ist, so will es das deutsche
Gesetz.
Das ist eigentlich zum
Heulen. Menschen leben in Baracken, bekommen nicht einmal Hartz-IV und
alleinstehende Männer versuchen häufiger als der umliegende deutsche
Durchschnitt, sich selbst das Leben zu nehmen. Doch der Mainstream will in den
Zeitungen lieber von ungerechtfertigter Vollverpflegung oder Drogenrazzien
lesen.
„Ich bin autochthoner Deutscher.“ – „Ist das
heilbar?“
„Bürgerbewegungen“ wie die
Pegida und viele andere sprechen das offen aus, was (zu) viele Deutsche mittlerweile
oder noch immer denken. Sie vertreten ein unvertretbares Deutschlandbild, in dem
unterschieden wird zwischen Einheimischen und „Gästen“, die oft seit
Generationen ihre Steuern in Deutschland zahlen, nie wirklich wie Gäste
aufgenommen wurden und auch so schnell wie möglich wieder verschwinden sollen. Sie
werfen diesen Gästen vor, undankbar zu sein. Dabei sind sie es selbst, die
undankbar sind. In einem Land, das aus jeder Krise nahezu unbeschadet hervorgeht
und sich dennoch bemitleidet, haben Zuwanderer oder Flüchtlinge dennoch keinen
Platz. Im Land der Dichter und Denker denkt man immer weniger und dichtet nur
noch selten – allerdings nicht deshalb, weil Zuwanderer, Asylanten oder
Salafisten einen davon abhalten würden, sondern weil es viel komfortabler ist, erst
einmal einen Schuldigen für ein aktuelles Schlamassel zu suchen. Doch
vielleicht ist es die Art des (und der) Deutschen an sich: Wir haben schon mit
uns selbst ein Problem, da brauchen wir nicht noch Andere, mit denen wir mehr
Probleme haben können.
Doch wann fangen wir endlich
an, uns um die wirklichen Probleme zu
kümmern – gemeinsam?