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Sonntag, 20. September 2015

Lech Wałęsa und die Flüchtlinge

Während in Europa die große Schlacht um die Quote tobt, traf eine Gruppe israelischer Journalisten kürzlich den großen Lech Wałęsa. Der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Staatspräsident Polens organisierte den politischen Wandel seines Landes nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, er verkörpert mit seiner Gewerkschaft Solidarność den demokratischen Aufbruch des Ostens. Was er aber über die aktuelle Situation Europas sagt, könnte die Zuhörenden wahrhaft ins Grübeln bringen.
Wałęsa äußert Verständnis für die ablehnende Haltung seiner Mitbürger gegen syrische Flüchtlinge: „Ich verstehe, weshalb Polen und Europa ihren Zustrom fürchten. Sie kommen von Orten, an denen Menschen enthauptet werden. Wir machen uns Sorgen, dass dasselbe auch uns zustoßen wird“, sagte er der Jerusalem Post. Der ehemalige Präsident hat Angst davor, dass Muslime anfangen könnten, Europäer zu köpfen. Genau davor hatte uns schon Pegida gewarnt, wenn wir uns an die aufreibenden Tage des letzten Dezember und Januar erinnern. Wałęsa hat eine sehr plausible Erklärung: „Wir in Polen haben kleine Wohnungen, niedrige Löhne und magere Renten. Als ich die Flüchtlinge im Fernsehen sah habe ich bemerkt, dass sie besser aussehen als wir. Sie sind gut genährt, gut angezogen und vielleicht sind sie sogar reicher als wir.“

(Reuters, 2015)

Was Wałęsa da sagt, erinnert ziemlich arg an die Facebook-Propaganda der „besorgten Bürger“, die sich regelmäßig auch davon entsetzt zeigen, dass syrische Flüchtlinge durchaus mit Smartphones umzugehen wissen. Doch natürlich zeigt er sich an manchen Stellen auch verständnisvoll für die Flüchtlinge, vor allem in Hinblick auf die Geschichte seines eigenen Volkes: „Ich verstehe sie. Wir Polen waren auch Immigranten und Flüchtlinge während des Kommunismus.“ Aber irgendwie war das dann doch etwas ganz anderes: „Wo immer wir hinkamen, haben wir die örtliche Kultur und die Gesetze geachtet. Diese Einwanderer sind anders. Sogar in der zweiten oder dritten Generation – schauen Sie sich z.B. Frankreich an – wenden sich jene, die gute Bildung genossen und Geld verdient haben, dennoch gegen ihre Gastländer.“
Mit Aussagen wie diesen dürfte Wałęsa den meisten Pegida-Sympathisanten – und eigentlich dem ganzen Osten Europas – aus dem Herzen sprechen. Dabei heroisiert er den osteuropäischen Freiheitskampf auch ein wenig: „Das kommunistische Regime hatte mir angeboten Polen zu verlassen und ein Flüchtling zu werden. Ich habe abgelehnt. Ich bin geblieben um für das zu kämpfen, an was ich geglaubt habe.“ Es ist immer richtig und ehrenhaft, für seine Überzeugungen einzustehen. Doch trotzdem dürfte es schwierig werden, das Polen der 1980er Jahre mit Syrien 2015 zu vergleichen. In Polen gab es – ebenso wie in der DDR – keinen Bürgerkrieg, Aleppo und Damaskus lassen sich heute eher mit dem Warschau von 1945 vergleichen als mit jenem des Jahres 1989. Außerdem dürfte es den meisten Syrern schwer fallen, in diesem unübersichtlichen Bürgerkrieg, in der Realität von heute, auf der richtigen Seite wiederzufinden. In Deutschland wagen es nur die Pegida-Spaziergänger und die NPD, die Frage zu stellen, wieso diese ganzen jungen Männer nicht in ihrer Heimat geblieben sind und kämpfen. Doch anders als der Gewerkschafter Wałęsa wissen die jungen Syrer eben nicht, in welcher Armee oder Miliz sie für ein demokratisches Syrien kämpfen sollen. Während die Welt größtenteils nur zusieht, geraten diese Menschen – egal ob sie vor dem Krieg an der Universität in Damaskus studierten oder in einem kleinen Laden auf dem Basar von Aleppo arbeiteten – zwischen die Fronten. Währenddessen strömen Marokkaner, Saudis und europäische Islamisten zum IS, versorgen Quellen aus der Türkei die Terroristen mit Waffen. Währenddessen unterstützt der Iran die Hizbollah und Deutschland die Peschmerga. Die Russen haben ihre Soldaten rund um Assad platziert, zielen aber in die falsche Richtung, und die Amerikaner sind nach ihrem Irak-Debakel meilenweit davon entfernt, noch aktiver als bisher in dieses Chaos einzugreifen. Erdoğan bombardiert PKK und Peschmerga gleichermaßen, nur will das keiner so wirklich laut sagen. Israel beobachtet, der Libanon schweigt und nimmt Millionen Flüchtlinge auf, die ganze Welt aber schaut im besten Fall zu – im schlechtesten hat sie ihre Finger mit im Spiel. Nein, Herr Wałęsa, diese Menschen könnten nicht für ihre Überzeugungen kämpfen, selbst wenn sie es wollten. Und deswegen kommen sie zu uns.


Das weiß der polnische Politiker selbst. „Es ist wahr, dass ein Teil der neuen Flüchtlinge und Immigranten flieht, weil sie um ihr Leben fürchten.“ Als Nachsatz fügt er natürlich hinzu: „Aber viele wandern auch ein um ihren Lebensstandard und ihre Lebensqualität zu verbessern.“ Okay, aber was machen eigentlich die Millionen Polen, die seit über 100 Jahren in die USA (v.a. 1870-1914), nach Deutschland (ab 1880) und nach Großbritannien (seit 2004) ausgewandert sind? Waren diese Menschen etwa nicht auf der Suche nach einer Verbesserung ihrer Lebensqualität? Und haben diese Menschen etwa nicht auch ihr Brauchtum gepflegt? Polnische Hochzeiten in Chicago waren vor einigen Jahrzehnten auch noch laut und haben den ganzen Tag in Anspruch genommen, Polen haben auch Kirchen gebaut, wenn sie wo hinkamen wo es für sie noch keine Kirche gab. Auch die Polen haben Amerika mit einem ethnischen Volksfest bereichert und so manche Straßenzeile um einen oder zwei oder auch zehn Metzgereien. Auch die Polen haben ihre Identität nicht bei der Einreise abgegeben.
Doch Wałęsa erklärt die Welt simpel und einfach, in wenigen Worten. „Es ist ein Problem. Wenn Europa seine Tore öffnet, werden bald Millionen durchkommen und anfangen, unter uns ihre eigenen Bräuche zu praktizieren, inklusive Enthauptungen.“ Was hat er nur mit diesen Enthauptungen? Sind die nicht eigentlich auch ein Grund, weshalb so viele Syrer fliehen? Leider scheint der polnische Altpräsident nicht zu erkennen, dass es für die Probleme unserer Zeit keine einfachen Lösungen, keine einfachen Antworten gibt. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß, nicht gut oder böse. Und es gibt nicht nur das christliche Abendland und die unzivilisierten Muslime. Es gibt nur eine einzige, riesige Grauzone, aus der man irgendwie seinen Weg heraus bahnen muss. Und Abschottung ist der Weg für all die, die gerne eine einfache Welt hätten, in der man nicht mehr kämpfen, sondern nur noch am lautesten schreien muss.

Freitag, 5. September 2014

Kriegspostkarten

Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Ich habe in meiner Antiquitätensammlung gestöbert und bin auf eine interessante Postkarte gestoßen. Sie stammt aus dem Jahre 1915 und wurde von einem jungen Soldaten an der russischen Front in die unterfränkische Heimat geschickt. Die Bildseite zeigt zwei Motive: Deutsche Soldaten, die mit abgenommenem Helm und abgestellten Gewehren andächtig zum Gebet verharren. Ein Gebet voll „Donner des Todes“ und geöffneten Adern. Die Szene der betenden Männer steht im Gegensatz zu dem zweiten Teil des Bildes: Vorrückende Preußen, die Bajonette auf ihre Gewehre aufgepflanzt. Zwei Armeen stehen sich gegenüber, ein flaggentragender Franzose greift sich mit der Hand ans Herz, getroffen von einer deutschen Kugel.


Der Erste Weltkrieg war nur der Anfang einer katastrophalen Entwicklung, die das 20. Jahrhundert schon in seinen ersten 45 Jahren zu einem blutigen Säkulum werden lassen sollte. Können wir heute noch nachvollziehen, wie sich Deutsche und Franzosen so entschieden entgegentreten konnten, voller Begeisterung und kampfentschlossen bis in den Tod? Vor hundert Jahren zogen die Massen jubelnd in die Schlachten, Rudel frischer Abiturienten warfen ihre Hüte vor Freude über die neue Herausforderung „Krieg“ in die Luft. Diese Karte aus meiner Sammlung ist ein anschauliches Beispiel. Eindrücklich ist der Text, den ein gewisser Joseph an seine Cousine Elise schrieb:

Liebe Elise! Hat Wilhelm Euch schon besucht? Wie sieht er nur aus? Ist seine Wunde gut geheilt? Schade für den armen Kerl, dass er nicht mehr mit spielen kann. Es wird alle Tage interessanter. Die herzlichsten Grüsse an Deine lieben Eltern. Gruss Joseph.

Der Krieg, ein Spiel? Wie groß muss die Begeisterung bei diesem Joseph, einem deutschen Frontsoldaten, im April 1915 gewesen sein? Krieg ist nur dann, wenn alle hingehen und mitmachen. Und vor hundert Jahren waren die Völker geradezu erpicht darauf, an diesem großen „Spiel“ teilzunehmen.


Das erste große Schlachten des 20. Jahrhunderts forderte knapp 17 Millionen Opfer. Die Nationen lernten kaum etwas dazu. Es dauerte kaum mehr als zwanzig Jahre, bis die nächste – noch größere – Katastrophe ihre Opfer forderte.

Und das Schlimme ist, dass es Kriege auch heute noch gibt. Sie sind etwas Menschliches – und unmenschlich zugleich. Doch Menschen finden immer wieder neue Begründungen, um ihre Macht zu demonstrieren, und neue gerechte Verkleidungen, in die sie das Unrecht des Krieges hüllen. Wo stehen wir heute, hundert Jahre nach Kriegsbeginn? Das Jahr 2014 scheint leider ein besonders blutiges Jahr zu werden. Warum?

Donnerstag, 21. August 2014

Das jüdische Prag

Vor einer Woche war ich in der tschechischen Hauptstadt Prag, wo das Bier günstig ist und die Touristen zahlreich sind. In der „Goldenen Stadt“ verbrachte ich einige sonnige und auch verregnete Tage. Meiner Meinung nach ist Prag eine der schönsten Metropolen Europas, die sich nicht nur durch eindrucksvolle epochenübergreifende Architektur auszeichnet, sondern auch durch kulturelle Vielfalt. Jahrhundertelang war Prag ein Zentrum der tschechischen, deutschen und jüdischen Kultur. Komponisten wie Smetana, Schriftsteller wie Kafka und Politiker wie Václav Havel verbindet man mit Prag. Wer mich kennt, der kennt aber auch mein frühes Interesse für das Judentum und seine kulturellen und historischen Aspekte. Es ist daher fast schon eine Schande, dass ich dieser hochinteressanten Stadt nun im Jahr 2014 zum ersten Mal einen Besuch abstattete, denn Prag und das europäische Judentum gehören zusammen. Mit ein paar Bildern möchte ich Euch auf einen „jüdischen Stadtrundgang“ mitnehmen.

Nordwestlich der Altstadt liegt das Viertel Josefov, die Josefstadt. Per Königserlass wurde dieser Stadtteil im 13. Jahrhundert zum jüdischen Viertel ernannt. Von dieser Zeit an bis zur Assimilierung der jüdischen Bevölkerung am Ende des 18. Jahrhunderts war dies der Ort, an dem sich der Alltag und das ganze Leben der Prager Juden abspielten. Kaiser Joseph II. erließ im Jahre 1781 das Toleranzpatent, um 1850 wurde den Juden dann das Bürgerrecht gewährt. Den Ghettozwang war damit aufgehoben und viele Familien zogen aus der Josefstadt fort. Die meisten Synagogen und der gewaltige jüdische Friedhof aber blieben bis heute erhalten. Ebenso kann man bis heute das Jüdische Rathaus sehen, heute Sitz der tschechischen jüdischen Gemeinde.


Das wohl bedeutendste Gebäude des Viertels ist aber die Altneusynagoge. Sie ist einer der frühesten gotischen Bauten Prags und eine der ältesten noch erhaltenen Synagogen Europas. Jahrhundertelang war sie von Legenden und Mythen umwoben. Ein Tunnel sollte von hier direkt nach Jerusalem führen.


Am bekanntesten ist jedoch die Geschichte des Golems: Der Gelehrte Rabbi Löw (Jehuda ben Bezalel Löw) soll im 16. Jahrhundert einen Koloss aus Lehm gebildet und ihm Leben eingehaucht haben. Dieser Golem sollte dem Schutz der jüdischen Gemeinde dienen und war angeblich auf dem Dachboden der Altneusynagoge versteckt. Die Neugier eines Journalisten machte diese Legende im 19. Jahrhundert zunichte, als er heimlich den Dachboden erklomm und keinen Golem vorfand.

In nächster Nähe zur Altneusynagoge und dem Rathaus befindet sich der alte jüdische Friedhof der Prager Gemeinde. Auf nur einem Hektar stehen hier 12.000 Grabsteine. Da der Platz auf dieser letzten Ruhestätte begrenzt war, wurde im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Erde aufgeschüttet, sodass die Toten stellenweise in bis zu neun Lagen übereinander bestattet sind. Heute bietet der (von Touristen überlaufene) Friedhof mit seinen mystisch und exotisch anmutenden Grabsteinen dutzende spannende Fotomotive.

  
Auch Rabbi Löw, der Erschaffer des Golem, fand hier seine letzte Ruhe. Heute ist sein Grab ein Anlaufpunkt für einige der Gläubigen unter den Touristen.


Direkt an den alten Friedhof grenzt die Klausensynagoge an, in der sich heute ein recht gut ausgestattetes Museum über die jüdische Kultur befindet. Hier kann man Artefakte aus dem religiösen Leben der jüdischen Gemeinde betrachten.
Auf der anderen Seite des Friedhofs steht die Pinkas-Synagoge. Hier stehen die Namen der 78.000 tschechoslowakischen Juden, die während des Holocaust umgekommen sind.


Eines der schönsten jüdischen Gotteshäuser in Prag ist die Spanische Synagoge. Vor ihr steht eine kafkaeske plastische Figur, die den Herrn Kafka abbilden soll. Das Innere der Synagoge ist jedoch (für den Moment) viel interessanter.


In einem anderen Stadtteil, nahe dem Wenzelplatz, findet man die Jerusalem-Synagoge. Ihr maurischer Stil mutet sehr orientalisch. Sie wurde erst 1906 gebaut und ist somit eine der jüngeren Synagogen der Stadt.


Wer das Grab Franz Kafkas sucht, muss zum Neuen Jüdischen Friedhof gehen. Dort entdeckt man ein Zeugnis der Komplexität und Vielfalt der Prager Bevölkerung, die sich sogar innerhalb der jüdischen Gemeinde wiederspiegelte. Friedhöfe sind wunderbar aufschlussreiche Orte, die man nicht unterschätzen sollte. Sie dokumentieren durch ihre verschiedensprachigen Grabsteininschriften ein breites kulturelles Spektrum: Hier liegen assimilierte tschechisch-jüdische Familien neben assimilierten deutsch-jüdischen Familien begraben. Weltkriegssoldaten, gefallen in Diensten des österreichischen Kaisers. Grabdenkmäler nennen die Namen derer, die in Auschwitz, Treblinka oder Theresienstadt verscharrt wurden. Deutsche Namen, tschechische Namen, hebräische Namen. Vereinzelt russische Gräber.


Die Grabsteinsymbolik gibt Auskunft über den Stamm oder die historische Abkunft der Verstorbenen: Zum Segen erhobene Hände stehen für ein Mitglied des Priestergeschlechts, der Kohanim. Und wer die hebräischen Schriftzeichen lesen kann, der findet Aufschluss darüber, ob die hier bestattete Person ein Abkömmling der Leviten, der Priester oder gar der Hohepriester des Jerusalemer Tempels war. Fehlt die hebräische Inschrift, war der verstorbene königliche Kommerzienrat wahrscheinlich sehr tief in die nichtjüdische Gesellschaft der Stadt integriert. Friedhöfe sind ein offenes Buch und eine historische Dokumentensammlung. Und inmitten dieses Waldes aus steinernen Grabstelen, relativ am Anfang und in der ersten Reihe, stößt man auf Herrn Dr. jur. Franz Kafka, dessen letzte Ruhestätte mit Zettelchen, Steinchen und geschriebenen Nachrichten auf Englisch, Deutsch und Japanisch übersät ist.


Zum jüdischen Prag gehören viele Aspekte: Das alte Viertel Josefov, die Synagogen, der alte und der neue Friedhof, Kafka, der Holocaust. Diese Bilder waren nur ein kleiner Einblick in ein spannendes, vielseitiges, doch von Touristen überlaufenes Kapitel der Prager Geschichte.

Mittwoch, 7. Mai 2014

Nachrichten - nur mit Wodka und Krimsekt zu ertragen

Ab und zu beobachte ich die Medien. Dabei mache ich das volle Programm durch: Ich glaube alles, was man mir sagt. Ich bezweifle auch alles, was ich nicht hören will. Ich schimpfe lautstark oder protestiere gegen das, was ich an Dummheit in den Ansichten Anderer identifizieren zu können glaube. Und wenn extreme Meinungen aufeinander prallen und sich benachteiligt fühlen, werde ich irgendwie sauer. Irgendwie wissen immer zwei gegensätzliche Gruppen genau, wie der Hase läuft und niemand bemerkt, wo er im Pfeffer liegt.
Jedenfalls, das Thema „Russland und die Ukraine“ steckt voller Irrtümer. Der erste Irrtum beherrscht die Meinung aufseiten vieler eher links eingestellter Menschen: „Europa und die NATO betreiben Kriegshetze und wollen den Krieg!“, heißt es da. Ein Irrtum? Ja, denn einmarschiert auf die Krim sind die Russen. Putin hat sogar zugegeben, dass russische Soldaten hinter ihren Landsleuten auf der Krim standen, als diese die Kontrolle an sich nahmen. Und was sich jetzt in der Ostukraine abspielt, ist zu einem großen Teil dem Einfluss des übermächtigen Nachbarlandes zu verdanken. Niemand zweifelt mehr ernsthaft daran, dass Russland seine Schäfchen auf der grünen ostukrainischen Weide in jeder Hinsicht unterstützt. Doch in den Augen vieler vor allem linker Friedensaktivisten ist es die EU, die einen Krieg auf jeden Fall provozieren will. Vielleicht wurzelt diese Überzeugung noch aus dem Glauben an den sozialistischen Grundsatz der Friedenspolitik: Der „Osten“ wollte immer den Frieden und trug zum Frieden in der Welt bei, während der amerikanisch-kapitalistische Imperialismus um sich griff. Bis heute, sagen sie.
Und da sind wir schon beim zweiten Irrtum, der sich sowohl auf Seiten der linken Aktivisten als auch in der westlichen Politik wiederfindet: Es wird angenommen, dass Russland in irgendeiner Weise noch immer die Sowjetunion und den Sozialismus verkörpert, sozusagen als Gegenpart zur westlichen Hemisphäre, als Gegenpol des hiesigen Lebensstils. Dabei wird grob übersehen, dass Russland zwar noch immer den Kontrahenten der USA zu stellen versucht, das System als solches jedoch näher am rechten als am linken Rand steht. Putins Präsentation als starker Bärenjäger und freier Oberkörper der Nation erinnert zwar an die einstigen Führungspersönlichkeiten der Sowjetunion, doch Führer hat es schon immer in jeder politischen Extremen gegeben. Und Putins Partei „Einiges Russland“ hat mitnichten den Sozialismus auf dem Programm…
Wie man es dreht und wendet, es wird viel übereinander geredet, gegeneinander und aneinander vorbei. Die einen sehen mit offensichtlicher Bestürzung – und mit innerlicher Genugtuung –, dass die klaren Grenzen von damals nun endlich wieder Gestalt annehmen. Gut und Böse, klar definiert in West und Ost. Die anderen sehen das System, in dem sie leben und von dem sie profitieren, und seine Verbündeten als eigentliches Übel an und stellen sich (wie so oft) provokant auf die Gegenseite. Und beide Seiten fühlen sich in den Medien unterrepräsentiert – ein klares Zeichen dafür, dass sich beide als Advokaten derjenigen sehen, die hier gern die Opferrolle einnehmen. Für die Linken wird Putin zum Heiligen, für die Konservativen ist er der Gestalt des Teufels ähnlich. Und Obama? Kriegstreiber oder guter Samariter? Ansichtssache. Die Revolutionsregierung in Kiew – Demokraten oder Nationalisten? Man könnte endlos darüber streiten, was Frau Timoschenko in Wirklichkeit damit gemeint hat als sie sagte, sie wäre bereit, Herrn Putin mit einer Kalaschnikow in den Kopf schießen. Ein Gleichnis – oder eine Kriegserklärung?

Das Fazit der letzten Tage, Wochen und Monate fällt einigermaßen deprimierend aus: Politische Lösungen in Form von Sanktionen sind nutzlos. Illegitime Volksbefragungen führen zu Annexionen von ganzen Landesteilen. Sturköpfe auf allen Seiten noch dazu. Man findet sie in Washington, Paris und Berlin, in Moskau und in Peking, am Persischen Golf und auch in Brüssel. Und die Opfer? Die sterben in Syrien, massakrieren sich gegenseitig in Slawjansk oder ertrinken auf dem Weg in ein besseres, aber dennoch beschissenes Leben im Mittelmeer.

Und das alles genau hundert Jahre nach 1914.

In aller Welt rennen Außenminister wie z.B. Dr. Frank-Walter Steinmeier von einem Kongress zum nächsten, um sich mit Historikern über das Pulverfass Europa zu unterhalten, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts explodiert ist. Doch Menschen scheinen nichts aus der Geschichte zu lernen – oder zu wenig.
Oder das Falsche.
Es nimmt kein Ende, bis alle Passagiere in den oberen Decks des gleichen Bootes, in dem wir ja bekanntlich alle sitzen, gelangweilt und jene auf den unteren Decks entweder ausgeschifft haben oder ertrunken sind.
Je mehr man darüber nachdenkt, desto weniger Lust hat man, sich die Nachrichten anzuschauen. Wer sich dieser Tage als hoffnungsvoller Pazifist outet, muss sehr naiv sein. Dann lasst uns doch mal alle zusammen naiv sein. Ich bin dabei.


Montag, 4. November 2013

Stimmen zur NSA-Affäre (aus dem FOCUS)

(Presseschau)

In seiner aktuellen Ausgabe hat der FOCUS (44/2013, S. 34f) einige unterschiedliche Stimmen zur NSA-Ausspähaffäre aufgefangen, die von Empörung, Vertrauensbruch, aber auch von Naivität sprechen.

Viviane Reding, EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, spricht von einem Weckruf: „Muss denn erst Frau Merkels Handy angezapft werden, damit sich führende Politiker in Europa darüber klar werden, dass solche Datenskandale jeden Tag, jede Minute geschehen können?
Wolfgang Ischinger, ehemaliger deutscher Botschafter in den USA, prangert jedoch die Blauäugigkeit der Europäer an. Schon während seiner Zeit in den USA war ihm bewusst, dass Telefone von Geheimdiensten abgehört werden. Zur Schwere der aktuellen Affäre sagt er dennoch: „Der Vorgang ist eine enorme Belastung und der größte Stresstest für die transatlantischen Beziehungen. Es ist ein großer Vertrauensbruch, und es wird nicht ganz einfach sein, das in Ordnung zu bringen. Die US-Geheimdienste sind offenbar außer Rand und Band geraten, haben Maß und Mitte verloren.
Auch Jack Janes geht auf das undurchsichtige Vorgehen der Geheimdienste ein und meint: „Wenn der Präsident tatsächlich von nichts wusste, dann frage ich mich, wer in Washington eigentlich die Hosen anhat.“ Janes, der Präsident des American Institute for Contemporary German Studies an der John Hopkins University in Washington ist, bezeichnet die Aufdeckungen als ein „Schlag in die Magengrube“ der Pro-Atlantiker.
Weniger naiv zeigt sich Charles Kupchan, ein ehemaliger Berater von Bill Clinton und Mitglied des Council on Foreign Relations. Er sagte dem FOCUS: „Dass Freunde auch Freunde ausspionieren, ist gängiges Geschäft. Auch Frau Merkel betritt morgens das Kanzleramt und bekommt erst einmal ein Geheimdienstbriefing vorgelegt, das genau aus solchen Spionageaktivitäten in Großbritannien, Frankreich oder Polen zusammengestellt wird.
Der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Eberhard Sandschneider, schließt sich in dieser Hinsicht an: „Wenn sich jemand wundert über die Abhöraktionen, dann wundert das wiederum mich.“ Er stellt in Hinblick auf die Beziehung zwischen Deutschland und den USA fest: „Wir sollten die deutsch-amerikanischen Beziehungen nüchterner betrachten und die USA als das sehen, was sie sind: ein Land mit eigenen Interessen. Da bleiben auch strategische Partner manchmal auf der Strecke.
Doch nicht nur die USA sind in der aktuellen Diskussion zu beschuldigen. David Hamilton, ehemaliger Europa-Experte im US-Außenministerium, gibt eine Erklärung dafür, warum US-Spione nicht alle Erkenntnisse mit ihren deutschen Kollegen teilen: „Die deutschen Geheimdienste sind so sehr von Spionen anderer Länder infiltriert, dass sich die USA nie sicher sein können, ob die ausgetauschten Informationen nicht gegen sie verwendet werden.“ Dies sei aber keine Entschuldigung dafür, das Handy der Kanzlerin anzuzapfen.
So wie Hamilton die deutschen Geheimdienste in ein eher schlechtes Licht erscheinen lässt, so stellt auch Günter Blobel, deutsch-amerikanischer Medizinnobelpreisträger, der deutschen Informationstechnologie ein Armutszeugnis aus. „Es ist nicht sehr vertrauenserweckend, dass die Merkel-Regierung nicht in der Lage ist, Firewalls in ihre Kommunikationssysteme einzubauen.

Verschiedene Stimmen, verschiedene Erkenntnisse. Doch fest steht auf jeden Fall, was auch schon vorher nie bezweifelt worden ist: Das Geschäft der Geheimdienste ist ein schmutziges. Und davon sind sowohl die der USA als auch alle anderen betroffen. Um uns zu schützen, brauchen wir neue Gesetze und Richtlinien aus Berlin und Brüssel, deren Umsetzung irgendwie garantiert werden muss. „Nur wenn Bürger und Unternehmen fest darauf vertrauen, dass Regeln eingehalten werden, wird in Europa ein echter digitaler Binnenmarkt entstehen“, sagt Viviane Reding dazu.

Freitag, 25. Oktober 2013

Gedanken zu Europa

„Es gibt in Deutschland keine millionenfache Grundrechtsverletzung.“ – Das waren die Worte von Kanzleramtsminister Ronald Pofalla am 12. August, mit denen er die NSA-Affäre für beendet erklärte. Die damals bestehenden Vorwürfe waren es scheinbar nicht wert, dass man groß über sie diskutieren wollte. Außerdem war Wahlkampf und das Thema war schneller vom Tisch als die NSA „Snowden“ buchstabieren kann. Da wirkt es irgendwie befremdlich, dass nun eine einzige Grundrechtsverletzung für so viel Wirbel sorgt. Gut, zuvor waren ja „nur“ die Bürger ausgespäht worden, jetzt allerdings geht es um die Verletzung unserer Souveränität in Gestalt von Angela Merkel. Der US-Geheimdienst soll sich virtuell auf dem Handy der Kanzlerin umgesehen haben und erntet nun Kritik, strenge Worte und heftige, aber irgendwie hilflose Bestürzung. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel stehen die Politiker Europas mit der starken Frau aus Deutschland Schulter an Schulter. Merkel verkündet, dass es nicht mehr nur um gute Worte ginge, sondern um wirkliche Veränderungen. Auch in den USA regt sich mittlerweile Widerstand gegen die neugierigen Augen der Obrigkeit. Es ginge nicht an, dass ein Staat seine Bürger ausspioniere, heißt es auf einem von Hollywood-Stars veröffentlichten Video. „In einem Überwachungsstaat ist die Demokratie tot“, sagt Schauspieler John Cusack warnend in die Kamera. Allerdings ist in den US-amerikanischen Widerstandsnestern meist nur die Rede von den eigenen citizens. Auf der anderen Seite des Großen Teichs sorgt sich kaum jemand um das Wohl der europäischen Verbündeten. Die Geheimdienste der USA verteidigen die Souveränität Amerikas – politisch, militärisch und auch wirtschaftlich. Wenn sie dabei sogar die Rechte ihrer eigenen Schützlinge übergehen, wie egal müssen ihnen dann die unseren sein?

War die Bundesregierung die ganze Zeit zu naiv? Auf jeden Fall. Hätte man von Anfang an aus der Wartehaltung herausrücken und Klartext reden sollen? Sicherlich. Doch wahrscheinlich war die Bundesregierung – wie die meisten Regierungen – zu verunsichert, zu überfordert und möglicherweise zu schwach.
Doch was würde es ändern, wenn wir Obama nur aufforderten, seine NSA endlich unter Kontrolle zu bekommen, und auf irgendwelche Abkommen drängten, die in der Welt der Geheimdienste lediglich beschriebenes Papier ohne nennenswerten Inhalt darstellten? Am Ende wäre der durchschnittliche Europäer, ob er jetzt Leichen im Keller oder Bomben in der Garage hat, genauso transparent einsehbar wie im Moment. Um die Wahrung unserer Rechte zu garantieren, müssen wir anders reagieren – nicht nur als einzelne Nationalstaaten, sondern als starkes, geeintes Europa.

Europa braucht eine transnationale Souveränität – heute mehr denn je

Heute Morgen hat der SPD-Politiker Martin Schulz bei Beckmann einen interessanten Aspekt angesprochen, den ich aufgreifen und gegebenenfalls erweitern möchte: Ein Land wie Malta hätte heute keine Chance, den USA auf Augenhöhe begegnen zu können. Selbst ein größerer Staat wie Deutschland hat diese Chance nur noch scheinbar, meinte er. Was Europa brauche, sei eine transnationale Souveränität.
Und damit hat er Recht. In der Realität müssen auch wir kuschen, wenn es hart auf hart kommt. Mit unseren amerikanischen Freunden verbindet uns zwar vieles, aber kaum jemand kann ihnen bei politischen Streitthemen auf gleicher Höhe begegnen. Angelegenheiten wie die aktuelle Ausspäh-Affäre sind nur ein weiterer ein Beweis dafür. Solange die europäischen Staaten sich eher voneinander entfernen als sich anzunähern, haben wir keinen sicheren Stand auf dem Weg in die Zukunft. Ob Malta, Rumänien, Deutschland oder Frankreich – wir schaffen es nur gemeinsam. Einzeln betrachtet sind wir ein Flickenteppich von Nationalstaaten, von denen alle einer oft widersprüchlichen Politik folgen. Dies hat es den USA in der Vergangenheit zu oft ermöglicht, sich seine Verbündeten gezielt herauszupicken. Als es beispielsweise 2003 gegen den Irak ging, wurden Deutschland und Frankreich kurzerhand als das „alte Europa“ deklariert. Das „neue Europa“ (Polen) hingegen bekam das Oberkommando über eine der Besatzungszonen südlich von Bagdad.

Mehr denn je befindet sich Europa heute in einer Krise. Der Euro wackelt bedenklich, die Skeptiker scheitern selbst in Deutschland nur noch knapp an der 5-Prozent-Hürde. Nach der totalen Zerstörung 1945 hatten Adenauer und De Gaulle eine Vision, heute dagegen ziehen die ersten wieder den Schwanz ein. Doch ist uns überhaupt klar, was wir mit unserer Skepsis aufs Spiel setzen? Wir sind nur als geeintes Europa überlebensfähig – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Wenn wir auch nur anfangen mit dem Gedanken zu spielen, das Projekt Europa für gescheitert zu erklären, dann haben wir bereits verloren. Wenn wir uns wieder zersplittern, um danach innerhalb der eigenen, dichten Grenzen – geografisch wie kulturell – vor uns hin zu vegetieren, finden wir uns dort wieder, wo wir am Beginn des 20. Jahrhunderts schon waren, während die Konkurrenz schon darauf wartet, uns aufzukaufen. Aus Angst vor zu viel Europa suchen wir uns verzweifelt die letzten deutschen Werte zusammen, mit denen wir uns identifizieren können, und pflegen sie dann, ohne sie zu leben, ausgestellt und ausgestopft wie in einem Museum. Und dieses Museum schützen wir vor jungen, arbeitswilligen und überdies schutzbedürftigen Asylsuchenden, aus Angst vor Überfremdung und vor allem aus Angst um unser Geld.
Doch wie kann man von einem Bürger oder einer Bürgerin erwarten, Asylbewerber als gleichwertige Individuen zu betrachten, wenn er oder sie doch sogar gegen diejenigen noch Vorurteile hegt, die schon seit vierzig Jahren hier leben? Oder gar gegen europäische Nachbarn wie Franzosen oder Italiener? Während die einen über Europa fantasieren und den Blick für den Alltag verloren haben, denken die anderen immer noch, Deutschland sei ein autarker Organismus, der ohne Zuwanderung auskommt oder sich gegen diese gar zu schützen hätte. Beide Gruppen reden aneinander vorbei und entfernen sich voneinander. Und irgendwann blockiert der eine den anderen. Europa droht immer wieder an unserer eigenen Engstirnigkeit zu scheitern, in Berlin genauso wie in London oder Brüssel. Dabei bietet der Gedanke Europa jedem die Chance, sich einzubringen und Dinge zum besseren zu verändern. Da diese Chance jedoch zu selten eingefordert und gelebt wird, gerät sie immer mehr in Vergessenheit und wird mit der Zeit so irrelevant, dass sie als Möglichkeit zu bestehen aufhört.

Einheit in Vielfalt

Wir sind nicht die USA, heißt es. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ seien eine Illusion. Viel zu vielseitig seien die europäischen Länder, viel zu verschieden. – Doch wollen wir so werden wie die USA? Der Große Bruder sollte seine Vorbildfunktion schon lange verloren haben. Wir wollen nicht so oberflächlich und blind vor Patriotismus sein wie unsere westlichen Nachbarn. Trotzdem ist ein vereintes Europa möglich. Unterschiede und Differenzen sind nur faule Ausreden, um sich der Herausforderung zu entziehen.
Es gibt ein Land im Süden Asiens, das sich den Grundsatz „Einheit in Vielfalt“ seit jeher zur Devise gemacht hat. Indien ist die bevölkerungsreichste Demokratie dieser Erde und ein Land, das 28 Bundesstaaten und 23 offizielle Sprachen in sich vereint. Obwohl Hindi die Amtssprache ist, wird es von kaum jemandem im Süden des Landes verstanden. Indien ist so groß, dass es von London bis Moskau reichen würde und vom Süden Norwegens bis nach Tunesien. Die Menschen sind topmotiviert und erfüllt von einem uns ungewohnten Nationalstolz, der auch vom gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre herrührt.
Dieses Land hat noch sehr große Probleme, viele Menschen leben in Armut, die Slums sind überfüllt. Wahrscheinlich findet man dutzende Gründe, weshalb man Indien nicht mit Europa vergleichen kann. Und doch ist es ein Land, das genauso viele Staaten in sich vereint wie die EU, in denen sich Menschen in fast genauso vielen verschiedenen Sprachen unterhalten, unter einer gemeinsamen Flagge.

Europa steckt in einer Krise, die mit dem Euro begann und bei Bürgerrechtsverletzungen noch nicht zu Ende ist. Oft mangelt es am gemeinsamen Kurs, der an großen Meinungsverschiedenheiten scheitert. Doch das Projekt Europa ist noch nicht zu Ende, es steht vielmehr am Anfang einer Erneuerung. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis sich jeder Deutsche mit dem Gedanken einer europäischen Einheit anfreunden kann oder bis ein Ungar seine Vorurteile gegen einen Rumänen abbaut. Doch wir haben keine andere Wahl als flexibel, offen und nachhaltig zu agieren, wenn wir unser Ansehen, unsere Werte, unseren Frieden und vor allem unseren Wohlstand auf lange Dauer wahren wollen. Um unsere europäische Freiheit zu sichern, müssen wir einen Teil unserer nationalen Souveränität aufgeben und der Verantwortung der europäischen Allgemeinheit anvertrauen. Erst eine transnationale europäische Souveränität bringt uns mit den Großen der Welt endgültig auf Augenhöhe. Zusammen bilden wir mit knapp 507 Millionen Einwohnern den größten Binnenmarkt der Erde und einen verlässlichen Partner. Nur geschlossen könnten wir uns dauerhaft behaupten gegen aufstrebende Wirtschaftsriesen wie China oder Indien – und gegen Menschenrechtsverletzungen auf eigenem Territorium, durch die eigenen, übermächtig erscheinenden Freunde in Washington.


Dienstag, 11. Juni 2013

Genmais für Europa

Gestern, am 10. Juni 2013, haben die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten über die Legalisierung der genetisch veränderten Maissorte SmartStax beraten und abgestimmt. Bei der Abstimmung kam keine Mehrheit zustande - weder für die Befürworter noch für die Gegner. Nun wird man in einigen Wochen erneut darüber abstimmen, ob der von Monsanto und Dow AgroSciences entwickelte Mais als Futter- und  Lebensmittel innerhalb der EU zugelassen werden soll.

Gegner der Gentechnik sind alarmiert. Zunächst hieß es, dass Monsanto sich aus Europa zurückziehen wolle, weil die Gentechnik hierzulande auf wenig Zustimmung stoße. Allerdings wurden Aussagen fehlinterpretiert: Von einem Rückzug kann de facto keine Rede sein, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Der Antrag vor der EU-Kommission ist ein deutliches Zeichen. Monsanto will sich den europäischen Markt bewahren.

Welche Gefahren birgt SmartStax? Diese Maissorte wurde durch die Kreuzung mehrerer genetisch veränderter Sorten entwickelt. Insgesamt sind hier acht fremde Gene verpflanzt. Der Mais produziert eigenständig einen Mix aus verschiedenen Insektengiften und ist zudem resistent gegen zwei Unkrautgifte, darunter das für den Menschen schädliche Glyphosat. Der Mais ist mit Rückständen dieser Herbizide belastet.
Zwar hat die EFSA, die europäische Lebensmittelbehörde, in der Vergangenheit eine positive Risikobewertung zu SmartStax abgegeben, doch diese stützte sich im Wesentlichen auf die Dossiers des Herstellers - also Monsanto.

Wieso wurde in Brüssel über die Erstzulassung von SmartStax abgestimmt? Christoph Then von der Organisation TestBiotech interpretierte diesen Schritt der EU-Kommission als "Flucht nach vorne". Im letzten Jahr gab es nämlich Hinweise darauf, dass der bislang verbotene Genmais auf illegalem Wege auf den europäischen Markt gelangt sei. Es scheint so, als wolle man jetzt nachträglich eine Legalisierung einleiten.

Die Kritik an der Grünen Gentechnik, d.h. an der Anwendung von Gentechnik in der Pflanzenzucht, hat vor allem ideologische Gründe. So kann man Gentechnik aus religiösen oder ethischen Gründen ablehnen. Andere ethische Aspekte fordern jedoch geradezu, dass man auf gentechnisch verändertes Saatgut zurückgreift, um z.B. den Welthunger zu bekämpfen. Kritiker verweisen jedoch hauptsächlich auf die gesundheitlichen Folgen, die eventuell durch verwendete Pestizide auftreten könnten, oder auf Genprodukte als Träger von Allergenen. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen jedoch nicht eindeutig, dass genetisch veränderte Pflanzen ein tatsächliches Gesundheitsrisiko für den Menschen bergen.
Ein Grund, der Gentechnik kritisch und ablehnend gegenüberzustehen, ist jedoch das Unternehmen Monsanto selbst, dass weltweit den Markt dominiert und sogar politische eine gewisse Macht besitzt. Durch Hybridsaatgut, das sich nur zur einmaligen Aussaat eignet, werden Kleinbauern in die Abhängigkeit getrieben. Auch kommt das immer stärker werdenden Verändern von Pflanzen-DNA einem "Wettrüsten auf den Äckern" gleich, so Christoph Then von TestBiotech.

Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner steht der Gentechnik selbst kritisch gegenüber und hatte nicht vor, für den Antrag vor der EU-Kommission zu stimmen. Sollte die Abstimmung jedoch auch beim zweiten Mal ohne Ergebnis bleiben, könnte die EU-Kommission selbst entscheiden - über einen von ihr selbst eingereichten Antrag. Eine Enthaltung von Aigner kommt einer Ja-Stimme zugunsten des Genmaises - und auch zugunsten Monsantos - gleich. Deshalb fordern Organisationen wie TestBiotech dazu auf, sich selbst an die Ministerin zu wenden und eine Nein-Stimme zu fordern. (Protest-Emails finden Sie hier.)