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Mittwoch, 25. März 2015

Die Killing Fields von Choeung Ek (Teil 10)

In der Geschichte des 20. Jahrhunderts stößt man in nahezu jedem Jahrzehnt auf von Menschen an Menschen verübte Verbrechen, im Krieg und zu Friedenszeiten. Es ist schlimm genug, wenn der Wert eines Menschenlebens nur auf dem Papier Relevanz besitzt. Schlimmer ist es aber, wenn sie offiziell von einer Ideologie als lebensunwert oder gar als Feinde der Gesellschaft in die Händen der Henker überliefert werden. Massenhaftes Morden und systematisches Totarbeiten gab es in britischen und belgischen Kolonien, zu Millionen in nationalsozialistischen Vernichtungslagern und auch in stalinistischen Gulags. Jahrzehnte nach dem Töten beginnt die Aufarbeitung jener Gleichgültigkeit, die diese Verbrechen oftmals hat geschehen lassen. Ein Ort des Gedenkens bei Phnom Penh sind die Killing Fields von Choeung Ek, denn auch Kambodscha war einst trauriger Schauplatz von zahllosen Massakern. Die Zäsur im nationalen Gedächtnis liegt noch keine siebzig Jahre zurück, viele Kambodschaner erinnern sich noch schmerzlich an die Tage des Vietnamkriegs und die Vorkommnisse dieser unübersichtlichen Zeit. Abseits der Schlagzeilen und unzugänglich für die meisten Journalisten errichteten die Roten Khmer ihr Terrorregime und gaben ihm den Titel Demokratisches Kampuchea. Unter der Führung von Pol Pot, einem gelernten Zimmermann und Privatschullehrer, ergriff die maoistisch-nationalistische Gruppe Mitte der Siebzigerjahre die Macht. Zahllose politische Gegner und jene, die das Regime als Feinde ausgemacht hatte, wurden in Lager deportiert und nicht selten umgebracht. Kambodscha hatte 1975 etwa acht Millionen Einwohner, von denen bis zu drei Millionen an den Strapazen und am Hunger während groß angelegter Umsiedlungsaktionen starben, oder in den kommunistischen Hinrichtungslagern.

Wir nehmen uns ein Tuk Tuk vom Hostel aus und brausen durch die belebten Straßen von PhnomPenh, zu den etwas außerhalb der Stadt gelegenen Killing Fields. Es geht vorbei an Autowerkstätten und durch ärmlichere Siedlungen, die sich jeweils dicht an die Hauptstraße drängen. Ab und zu führen dicke Abwasserrohre unter der Asphaltdecke hinunter zum Tonle Sap, um ihre giftige und bestialisch stinkende Mischung zuerst über die saftig grünen Reisfelder und schließlich in den Fluss zu entladen. Um unsere Motorradrikscha schwirren Mopeds und Lastwagen, irgendwann geht es aus der Stadt heraus auf eine staubige Straße in Richtung Süden und nach kurzer Fahrt kommen wir in Choeung Ek an.


Am Eingang werden wir mit einem Audio-Guide ausgestattet. Das Areal erkundet man schweigend zu Fuß, die deutsche Stimme im Ohr erzählt die Geschichte der Hinrichtungsstätte und der vielen Menschen, die in ihr umkamen. Alles ist sorgfältig aufgearbeitet. Man erfährt auch von den Anfängen der Roten Khmer und ihrem Führer, der unter der durch den Vietnamkrieg geschundenen Bevölkerung im östlichen Grenzgebiet großen Zuspruch fand. Pol Pot versprach den Menschen, die zum größten Teil in Armut lebten, vor allem Nahrung und Arbeit. In seiner Ideologie wurden die Städte als Wurzeln des Hungers ausgemacht, ihre Bewohner bezeichnete er als Parasiten. Privatbesitz wurde unter den Roten Khmer verboten und Geld abgeschafft, Religion wurde mit allen Mitteln bekämpft und Schulen wurden geschlossen. Pol Pot setzte seine Armee aus ungebildeten Bauern zusammen, unter denen er den Hass auf die Städter schüren konnte. Grausame Parolen versuchten schon am Anfang zu rechtfertigen, was später bittere Wahrheit werden sollte. Am 17. April 1975 eroberten die Roten Khmer die Hauptstadt und verschleppten daraufhin fast die gesamte Stadtbevölkerung aufs Land. Millionen Menschen in ganz Kambodscha wurden von den Machthabern entwurzelt und neuen Arbeitsbereichen im ganzen Land zugeteilt, wo sie auf den Reisfeldern arbeiten sollten. Durch die Vertreibung, das Chaos und den Hunger auf dem Land kamen Hunderttausende um. Die Getreideproduktion sollte verdreifacht werden, doch ein Großteil der Ernte wurde exportiert. Im Gegenzug erhielt die Führung Waffen und Vorräte von den Chinesen, während selbst die Arbeiter auf den Reisfeldern verhungerten. In den Internierungslagern, die übers ganze Land verteilt waren, wurden Millionen ermordet. Pol Pot war paranoid, Lehrer und Intellektuelle wurden kollektiv zum Tode verurteilt. Wer Fremdsprachenkenntnisse besaß war als Angehöriger der Bourgeoisie von vornherein verdächtig. Auch Menschen mit Brille und mit weichen Händen wurden zusammen mit politischen Gegnern zuerst in Gefängnissen interniert und dann in Lager wie Choeung Ek gebracht.


Choeung Ek war früher ein Obstgarten, auf dem Gebiet der Killing Fields befand sich ein Friedhof der örtlichen chinesischen Bevölkerung. Nach der Einrichtung des Hinrichtungslagers wurden die Ermordeten in Erdlöchern rund um die chinesischen Gräber verscharrt. An einer Stelle des Rundgangs wird an das Massengrab von 166 desertierten Soldaten der Roten Khmer erinnert. „Kambodschanischer Körper, vietnamesischer Kopf“, hieß es in der Staatspropaganda. In den Vietnamesen sahen die gleichfalls kommunistischen Roten Khmer den Feind der Stunde.


Über die Killing Fields verteilt gibt es auf 2,4 Hektar Land ganze 129 Massengräber, von denen nicht alle geöffnet wurden. Doch selbst dort, wo nur noch leere grasbewachsene Gruben den Grund durchlöchern, kommen auf den Wegen nach jedem Regenfall neue Knochen und Kleiderfetzen der Opfer ans Tageslicht. Die Stimme im Guide erklärt, man solle auf die Fragmente nicht treten und sie auch nicht aufheben. Alle paar Monate geht ein Team der Gedenkstätte über das Areal und sammelt die Überreste ein, um sie in zwei große Glaskästen zu legen.


Der Audio-Guide gibt Zeitzeugenberichte wieder von Menschen, die in Choeung Ek oder im Tuol-Sleng-Gefängnis (auch als S-21 bekannt) in Phnom Penh inhaftiert waren. Man erfährt, wie Häftlinge eigene Geschichten von nie verübten Taten erfinden und danach um Vergebung bitten mussten. „Wenn einem die Geschichten ausgingen, war die Zeit der Hinrichtung gekommen“, erzählt die Stimme eines Mannes namens Yuk. Nachts übertönten Lautsprecher mit Revolutionsliedern und das Rattern des Dieselgenerators die Schreie der Sterbenden. Zuletzt wurden auf den Killing Fields bis zu 300 Gefangene pro Tag hingerichtet.
Am Rande der Besichtigungstour steht ein alter Baum. Es ist der sogenannte Killing Tree, an den Aufseher die kleinen Kinder der weiblichen Häftlinge geschlagen hatten, bis sie tot waren. Taten, die an Grausamkeit kaum zu überbieten sind. Das Massengrab der Opfer liegt direkt daneben. An diesem Ort war der ehemalige Gefängnisleiter, bekannt unter dem Namen Duch, zusammengebrochen und hatte unter Tränen seine Taten gestanden, als er Jahrzehnte nach den Verbrechen selbst als Gefangener im Rahmen einer Tatortsichtung des Gerichts hierher gebracht wurde.


Noch im Jahre 1979 kam wenige Monate nach der Vertreibung der Roten Khmer durch die vietnamesischen Truppen die schreckliche Wahrheit ans Licht. Die Befreier fanden Grabhügel, die sich durch die Verwesungsgase gewölbt hatten. Bis heute wurden etwa 20.000 Massengräber in Kambodscha freigelegt, die meisten davon über das ganze Land verteilt in etwa 300 Hinrichtungsstätten. Es gibt auf den Killing Fields noch 40 ungeöffnete Gräber, doch der Gedenkstupa ist voll. Die Hüter von Choeung Ek, wie die Mitarbeiter der Gedenkstätte im Audio-Guide heißen, wollen die restlichen Opfer in Frieden ruhen lassen. Doch fast 9.000 Tote wurden noch 1980 der Erde entnommen und obduziert. Die Todesursachen wurden festgestellt. Was auf den Informationstafeln abstrakt dargestellt wird, kann und will man sich nicht vorstellen. Einschusslöcher im Kopf, mit Spitzhacken zertrümmerte Schädel. In der Gedenkpagode sind die Überreste der exhumierten Opfer gestapelt, auf 17 Stockwerken und sorgfältig nach Alter der Opfer angeordnet.


Aus europäischer Sicht eine etwas bizarre Art und Weise, den Ermordeten zu gedenken. Doch die Symbolik, die in der traditionellen Architektur der Pagode steckt und auch die Tatsache, dass man beim Betreten wie bei jeder heiligen Stätte in Südostasien die Schuhe auszieht, verleihen dem Ort den zu erwartenden Respekt.


Choeung Ek ist vielleicht einer der Orte wie Dachau und Auschwitz, die tatsächlich zum Nachdenken anregen. Doch wie die Stimme im Audio-Guide schon sagt: Die Verbrechen der Roten Khmer waren nicht die ersten Massenmorde der Welt und – wie uns die Geschichte zum Beispiel 1994 in Ruanda lehrte – auch nicht die letzten. In der Gedenkstätte von der Killing Fields drängt sich weniger die Frage nach dem Warum auf als vielmehr die Erkenntnis, dass es auch hier passiert ist. Während man nachdenklich zurück in die Stadt gefahren wird realisiert man, dass in Phnom Penh fast jeder Mensch über 40 in irgendeiner Weise von den Vertreibungen oder Morden durch die Roten Khmer betroffen gewesen sein musste. Die Täter von damals und ihre Taten sind bis heute in den Zeitungen des Landes präsent. Die Führungsriege der Roten Khmer wurde mit der Zeit von internationalen Gerichten unter kambodschanischem Vorsitz zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die Nachfolgeprozesse laufen bis heute. Die Anführer der Roten Khmer lebten teilweise bis in die 1990er Jahre im Grenzgebiet zu Thailand, erst 1997 wurde Pol Pot von ehemaligen Mitstreitern aus seiner Führungsposition als „Bruder Nr. 1“ verdrängt. Kurz darauf beging er vermutlich Selbstmord, ohne dass er jemals für seine Taten zur Verantwortung gezogen worden wäre.


Dienstag, 24. März 2015

Phnom Penh, seine Straßen und Märkte (Teil 9)

Mein erster Eindruck von Phnom Penh, einer Stadt, der ich allein wegen des Namens schon immer einen Besuch abstatten wollte, war ein recht ernüchternder: Staubige Vororte, auffallend viel Müll und Dreck auf den Wegen, und je nach Stadtteil eine eigene penetrante Duftmarke, erbarmungsloses Manifest der Luft- und Umweltverschmutzung. Doch bei genauerem Hinsehen verspürt man ein gewisses Flair zwischen den nummerierten und rasterförmig angelegten Straßen, wo sich alle paar Meter entweder ein Restaurant mit westlichen Preisen findet oder aber ein Imbiss unter freiem Himmel. In einer gewöhnlichen Seitenstraße finden sich Reiseagenturen und Gästehäuser, kleine Ecksupermärkte und Gardinenläden, gleich neben zwielichtigen Bars und farbig ausgeleuchteten Bordellen. Auch gibt es in Phnom Penh mehr Obdachlose und Bettler als auf den bisherigen Stationen unserer Reise, doch man geht in der Regel respektvoll miteinander um: Der Wachmann, der auf seinem Plastikstuhl vor einer Bank den Nachtdienst antritt, hat Zeit für einen Plausch mit der obdachlosen Mutter, die an der Straßenecke gerade ihre drei Kinder in einem Verschlag aus Pappkartons und Moskitonetzen zur Ruhe gebettet hat. Da erscheint es noch surrealer, in einer amerikanischen Bar den Abend mit einem kühlen Bier ausklingen zu lassen, obwohl man sich auf eine sonderbare Art und Weise dennoch nicht fehl am Platze fühlt.

Wie überall ist man auch in Phnom Penh auf gnädige Tuk-Tuk-Fahrer oder zumindest gutes Schuhwerk angewiesen. Mopeds brausen umher und auch die eine oder andere Luxuskarosse, die sich wohl nur ein Staatsbediensteter leisten kann, parkt auf dem Bordstein.


In den 1970er Jahren litt Phnom Penh von alle Städten am meisten unter dem verheerenden Regiment der Roten Khmer (oder Khmer Rouge), der kommunistischen Bewegung unter ihrem Führer Pol Pot. Fast die gesamte Stadtbevölkerung wurde aufs Land verschleppt, tausende Menschen wurden in Internierungslagern ermordet. In Phnom Penh selbst litt neben den Menschen auch die Architektur unter den Kommunisten. Einer blutigen Kulturrevolution fielen vor allem Gebäude im französischen Kolonialstil und Tempel, aber auch Moscheen und Kirchen zum Opfer. Doch viele Relikte des Bauhaus und des Art déco sind erhalten geblieben, und manchmal lässt sich noch eine Ruine als verfallendes Erbe der Kolonialzeit identifizieren.


Die kambodschanische Hauptstadt liegt am Tonle Sap, einem aus dem gleichnamigen See gespeisten Fluss, in den heute aber viele Abwässer aus den Fabriken, die in Phnom Penh angesiedelt sind, geleitet werden. Die großen Textilproduktionen liegen nördlich und südlich des Stadtzentrums, am Flussufer im eigentlichen Stadtkern ermöglicht eine Promenade abendliche Spaziergänge, tagsüber bietet sie jedoch wenig Schatten.


Zur Tageszeit kann man den Königspalast gegenüber der Promenade besuchen, denn auch Kambodscha ist wie Thailand eine Monarchie. Auf der Suche nach den spärlichen (offen sichtbaren) Sehenswürdigkeiten der Stadt kommen sogar ganze Reisebusse hierher.


Nebenan steht das Wat Ounalom, ein durchschnittliches buddhistisches Kloster mit sorgfältig renovierten Gebäuden. Die Architektur ist nicht unbedingt außergewöhnlich, aber interessanterweise scheint die Tempelmauer ein ganzes Viertel einzuschließen. Dieses städtische Kloster muss einer Vielzahl von Mönchen und Novizen als Zuhause dienen.


Märkte gehören auf der ganzen Welt zu den wahren Attraktionen einer Stadt oder eines Dorfes, denn hier spielt sich das örtliche Leben für die Beobachtenden offensichtlich ab. Auf einem Markt wird normalerweise auch jede/-r Reisende fündig, sei er oder sie nun auf der Suche nach Souvenirs, reifen Mangos oder einfach nur einem Hauch exotischen Flairs. Und es gibt überall etwas zu essen…


An verschiedenen Orten der Stadt kann man auf Marktstraßen stoßen. Angrenzend an ein ostasiatisch geprägtes Viertel und umrahmt von chinesischen Goldhändlern liegt jedoch der große Zentralmarkt von Phnom Penh. Das riesige gelbe Art-déco-Gebäude wurde 1937 von den Franzosen auf einem trockengelegten Sumpf errichtet und beherbergt bis heute die unterschiedlichsten Geschäfte.


Direkt unter der großen Kuppel, die ein wenig an das Pantheon in Rom erinnert, werden Uhren, Schmuck und Silberwaren gehandelt. In den äußeren Bezirken des Gebäudes gibt es Textilien und billige Shirts, Räucherstäbchen und Porzellan, Gemüse und frischen Fisch. Sogar Hai kann man unter den Auslagen entdecken.


Kambodscha hat ein beachtliches Stück Küste und wird auch durch die Flüsse mit Fisch versorgt. Es ist also nicht verwunderlich, dass alle Arten von Seafood die Speisekarte um ein ordentliches Fischsortiment ergänzen. Auf dem Markt bekommt man das Abendessen noch lebend zu Gesicht.


Die Hygienestandards mögen andere sein als bei uns – was jedes Mal deutlich wird, wenn Fleisch ungekühlt an Haken unter der Decke hängt oder der einzige Widerstand gegen Keime und Insekten aus einem schwachen Ventilator mit Fliegenstreifen besteht. Doch auf dem Hauptmarkt bleibt nichts dem Zufall überlassen: Das kühlende Eis wird frisch angeliefert und rutscht als großer Block über eine Schiene zum Eisverkäufer, der es dann in handliche Stücke zerhackt und in Plastiktüten verpackt.


Man sollte Phnom Penh nicht unrechttun, indem man nur einen einzigen Tag bleibt und sich dann unbeeindruckt oder gar naserümpfend abwendet. Die Stadt bietet einen sicheren Hafen für Gourmets (so lange sie ausreichend Dollars in der Tasche haben) und stimmt nachdenklich, vor allem wenn man sich näher mit der Geschichte des Landes und seiner Leute beschäftigt. Eine Station auf unserer Rundreise waren auch die sogenannten Killing Fields außerhalb der Stadt, wo sich eines der Todeslager der Roten Khmer befand. Dorthin wollten wir einen Ausflug unternehmen, von dem ich in meinem nächstenBeitrag berichten werde.


Montag, 23. März 2015

Die Ruinen von Angkor (Teil 8)

Morgens um halb sechs wartete unser Tuk-Tuk-Fahrer unten in der Guesthouse-Lobby, um uns pünktlich zum Sonnenaufgang nach Angkor Wat zu bringen. Um diese Uhrzeit war es noch kühl und der Fahrtwind wehte uns um die Ohren, als wir der größten religiösen Tempelanlage der Welt entgegenfuhren. Zu früher Stunde sollten angeblich noch nicht so viele Menschen unterwegs sein, die chinesischen Neujahrsurlauber schliefen noch in den großen Hotels am Rand von Siem Reap, der bescheidenen Provinzhauptstadt, und wurden erst zu einer menschlicheren Uhrzeit zu den Sehenswürdigkeiten gekarrt. Die Tempel von Angkor liegen etwas nördlich von Siem Reap. Das Areal ist so riesig, dass man sich ein Tuk Tuk mieten muss. Um die Arbeit der Fahrer zu erhalten wurde Ausländern sogar das Mieten von Mopeds verboten. So sind die Plätze vor den Eingangstoren der Tempel durchgehend von hunderten Motorradrikschas besiedelt, die auf die Rückkehr ihrer Kunden warten.
Der Sonnenaufgang war etwas enttäuschend, denn anders als anderswo geht die Sonne in den Tropen recht schnell auf und verzichtet dabei auf großartige Farbeinlagen. Dafür kann man der weißgelben Kugel förmlich dabei zusehen, wie sie vom Horizont aufsteigt.


Angkor Wat ist nur eine der zahlreichen Tempelanlagen auf dem Gebiet der mittelalterlichen Stadt Angkor, die vom 9. Jahrhundert an sechshundert Jahre lang das Zentrum des historischen Khmer-Reiches Kambuja bildete. Durch Kriege und die Verschiebung wirtschaftlicher Interessen kam eine glanzvolle Geschichte im 15. Jahrhundert zu ihrem Ende. Die Entdeckung der Ruinen durch den französischen Forscher Henri Mouhot im 19. Jahrhundert ist allerdings ein Mythos – oder vielmehr die falsche Auffassung eurozentrischer Wissenschaftler der damaligen Zeit. Angkor war nie verschwunden. Die Gebäude wurden auch nach dem Untergang der Metropole stellenweise weiter genutzt und ausgebaut. Auch als Angkor vom Dschungel überwuchert wurde, blieben die monumentalen Tempel im Gedächtnis der Khmer und wurden sogar lange Zeit noch in ihrer ursprünglichen Funktion als Orte des Gebets genutzt.


Der heute so berühmte buddhistische Tempel Angkor Wat wurde im 12. Jahrhundert von König Suryavarman II. gebaut und war ursprünglich dem Hindu-Gott Vishnu geweiht. Der Grundriss der Anlage folgt einem mandala, einer symbolhaften Darstellung des hinduistischen Kosmos. Und für aufmerksame Beobachter offenbaren sich durchaus noch mehr Indizien darauf, dass hier vor dem Aufstieg des Buddhismus eine andere Religion die Vormachtstellung hatte.


Das zentrale Heiligtum ist eingeschlossen von einem inneren und einem äußeren Viereck. Innerhalb der steinernen Galerien rund um das Innere des Areals sind Reliefs zu sehen, die Kampfszenen aus dem indischen Nationalepos Mahabharata zeigen. Der untere Teil der äußeren Säulen gegenüber dem Relief war ursprünglich mit einer Abbildung Vishnus verziert, jede einzelne der Säulen zeigte sein Antlitz. Bei den meisten von ihnen wurde jedoch die steinerne Gravur der Gottesabbildung herausgemeißelt, nur an manchen Stellen findet man sie noch im Originalzustand. Doch an einem recht zentralen Punkt geht noch eine Vishnu-Statue ihrem Schicksal als Fotomotiv nach.


Unter den Khmer-Tempeln stellt Angkor Wat eine Besonderheit dar, da die Tempelanlage ungewöhnlicherweise nach Westen ausgerichtet ist, zur untergehenden Sonne hin, dem Symbol des Todes. Abseits dieser Symbolik sorgen aber die gut gebauten Tänzerinnen (Apsara) auf dem 600 Meter langen Flachrelief für Unterhaltung.


Etwas nördlich des großen Tempels liegt Angkor Thom, wo sich einst der profane Teil der Stadt Angkor mitsamt einer großen Festung befand. Den Mittelpunkt bildet der Bayon, ein pyramidenförmiger Tempelberg, der vor allem wegen seiner monumentalen Steingesichter bekannt ist.


Teile des Tempels werden zurzeit restauriert, was jedoch die Touristenströme nicht fern hält. Chinesen, Deutsche, Amerikaner und Spanier machen Selfies und klettern auf den Felsen herum. Es lässt sich nicht leugnen, dass die alten Stätten Angkors durchaus unter dem Massentourismus zu leiden haben. Allein 2011 ließen 1,6 Millionen Besucher ihre Rucksäcke an den Eingangstoren vorbeischrammen, untersuchten neugierig mit den Fingern die sandsteinernen Figuren der Reliefs oder erklommen die Haufen rätselhafter Steinblöcke. Doch die Besucherströme tragen andererseits natürlich auch zum Erhalt des UNESCO-Weltkulturerbes bei, denn jede Person bezahlt am Eintritt ganze 20 Dollar.
Viele Besucher werden besonders vom exotisch-abenteuerlichen Ruinentempel Ta Prohm angezogen, in dem einige Filmszenen des Computerspiels Tomb Raider (mit Angelina Jolie als Lara Croft) entstanden waren. Heute kann man in Ta Prohm vor allem gute Fotos machen.


Banyan-Bäume wachsen quer über die Reste der Gebäude und bringen mit ungeheurer Geduld Mauern zu Fall. Das Dschungeldickicht darf wuchern, denn man will die Ruinen so authentisch wie möglich belassen. Auf diese Weise wird das Bild bewahrt, das schon die französischen Erforscher im 19. Jahrhundert vor Augen hatten, als sie über die Steine des antiken Angkor kletterten.


Die Zahl der Ruinen ist unendlich und alle ihre Namen sind für touristische Eintagsfliegen wie uns, die wir nur einen Tag in Angkor verbringen wollten, schwer zu behalten. Doch es lässt sich vermerken, dass es am ehesten die unscheinbaren Tempel und Ruinen am Wegesrand sind, welche ein wenig jene Magie wieder aufleben lassen, die man als kleiner Junge spüren wollte, als man noch plante, eines Tages Dschungeltempel im tropischen Urwald zu entdecken.


Um vierzehn Uhr kamen wir zurück, erschöpft und übermüdet, aber mit vielen guten Fotos in der Tasche. Am Abend gab es dann einen Stromausfall, das ganze Viertel war ohne Licht. Gerade als wir nach einer letzten nachmittäglichen Erkundungstour in die Lobby des Hauses eintraten, erloschen überall die Lampen. Vom Balkon des ersten Stocks aus konnte man die Menschen mit Taschenlampen umherirren sehen, in einigen Häusern wurden (wahrscheinlich routiniert und in völliger Gelassenheit) die Kerzen angezündet. Irgendwann setzte ich mich zwischen Balkontür und Treppe in den Korridor und wartete ab. Marian war unten an der Rezeption, als zwei Japaner direkt neben mir die Treppe hinunter kamen und sich vorsichtig vorantasteten. Der eine hatte ein schwaches Licht dabei und törichterweise nahm ich an, die beiden würden mich genauso gut sehen können wie ich sie. Dass dies nicht der Fall war merkte ich erst, als Marian von unten „Was für eine Zimmernummer haben wir…?“ rief und ich aus dem Dunkel meiner Ecke mit „Waaas…?!“ antwortet, woraufhin die beiden Japaner den Schreck ihres Lebens erleiden mussten und verstört fast die Stufen hinunterfielen. Ich entschuldigte mich tausendmal, konnte mir das Lachen aber kaum verkneifen.

Am nächsten Tag ging es weiter. Die Wochen wurden länger und der Drang nach ein paar Tagen Ruhe wurde größer. Am Horizont winkte eine abschließende Woche Strand und Sonne, aber so weit war es noch nicht. Vom Siem Reap aus ging es direkt nach Phnom Penh, in die Hauptstadt Kambodschas.

Donnerstag, 19. März 2015

Die Königsstädte Ayutthaya und Sukhothai (Teil 2)

Die nächsten Stationen unserer Reise waren Ayutthaya und Sukhothai, die alten Hauptstädte des siamesischen Königreichs. Nach einigen Tagen in Bangkok kann man es normalerweise kaum erwarten, einmal andere Luft zu atmen. Da kam uns der Fahrtwind des Zuges gerade recht. Die Fahrt von Bangkok nach Ayutthaya dauert nur einige Stunden.


Wir waren wie immer spontan und wollten uns ohne Reservierung im Grand Palace Hostel einchecken. Bis heute weiß ich nicht, ob ein solches Hostel in Ayutthaya tatsächlich existiert, denn der Fahrer des gepäckbeladenen Tuk Tuk brachte uns aufgrund einiger Verständigungsschwierigkeiten zum Grandparent‘s Home. Dort fühlten wir uns ganz wohl, denn der Fahrradverleih war gleich nebenan. Ayutthaya erkundet man am besten auf zwei Rädern.


Ayutthaya war von 1351 bis 1767 nicht nur Hauptstadt des gleichnamigen siamesischen Königreichs, sondern auch die wichtigste Metropole des südostasiatischen Festlands im 18. Jahrhundert. Erst der Siamesisch-Birmanische Krieg brachte sie zu Fall. Eine ruhmreiche vierhundertjährige Geschichte nahm so ein jähes Ende und der damalige König Ekathat verschwand im Nichts, einige Quellen sprechen von einer spektakulären Flucht, andere berichten von seinem Tod in der entscheidenden Schlacht um seine Hauptstadt. Der Regierungssitz wurde fünf Jahre später von General Taksin nach Bangkok verlegt, wo unter König Rama I. eine neue Dynastie siamesischer Könige den Thron bestieg. Von Ayutthaya blieben nur Ruinen.
Der Geschichtspark Ayutthaya ist heute ein Anziehungspunkt für Touristen. Seit 1991 ist er Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Die verschiedenen Wats liegen über die ganze Stadt verteilt. Das Wat Phra Si Sanphet gehört mit seinen drei Chedis zu den sehenswertesten der Tempel. Seine Geschichte geht bis ins 15. Jahrhundert zurück.


Ein weiteres bedeutendes Wat ist der Tempel Chai Watthanaram, der 1630 von König Prasat Thong erbaut wurde. Die inneren Mauern sind gesäumt von Buddha-Statuen, einige der größeren wurde sogar in orangene Umhänge gekleidet. Es ist interessant, dass viele der buddhistischen Besucher manchmal Blumen, Kerzen und kleine Figuren mitbringen, um sie zu Füßen der Statuen abzustellen. Die Tempelanlagen sind nicht nur Ruinen, sondern haben für Buddhisten noch heute eine wichtige Bedeutung.


Am Abend merkten wir, dass wir pünktlich zu den Feierlichkeiten des chinesischen Neujahrsfestes angekommen waren. Die ganze Innenstadt von Ayutthaya war ein einziger Markt voller Bühnen und Essensstände. Auf einer Kreuzung tanzten zwei riesige Drachen, ein Stück weiter gab es Schattentheater und vor dem Rathaus gab es Thai-Pop. Verhungern konnte an diesem Abend niemand, denn es gab von gebratenen Tintenfischen über Fleischspieße und Nudeln bis hin zu enorm pappigen Süßigkeiten und Halal-Grills einfach alles. Leider hatte ich meine Kamera nicht mit dabei und muss mich auf einige wenige Bilder beschränken.


Am nächsten Tag ging es über Pitsanulok, eine recht unspektakuläre Provinzstadt, weiter nach Sukhothai. Wir bewegten uns nach Norden, doch in der Geschichte gingen wir ein Stück weiter zurück: Sukhothai war im 13. Jahrhundert Hauptstadt des unabhängigen gleichnamigen Königreichs und bietet heute neben einer lebendigen Neustadt auch den Geschichtspark mit seinen Ruinen.


Auch hier bewegt man sich bevorzugt per Fahrrad fort, auch diese Stadt ist ein Weltkulturerbe. Doch anders als Ayutthaya bekommt diese Ruinenstadt durch ihre zahlreichen Wasserreservoirs ein besonderes Flair, vor allem wenn man frühmorgens auf einen Besuch vorbeikommt. Da wir am Abend gleich weiterreisen wollten nach Chiang Mai waren wir schon früh auf und genossen die Abwesenheit der Hitze, die uns schon in Ayutthaya den Kopf verbrannt hatte.


Versteckt in einem Tempel außerhalb der ehemaligen Stadtmauern saß ein überdimensionaler Buddha und wartete auf Pilger, die gutgelaunt ihre Selfies schossen und die vergoldeten Hand der Statue begutachteten.


Nach zwei intensiven und geschichtsbeladenen Tagen hatten wir (zumindest die meisten von uns) genug Ruinen gesehen und traten die Weiterreise in Richtung Trekking und Elefanten an: Auf nach Norden…

Sonntag, 28. Dezember 2014

Friedrich, Deutschland und Pegida

Es freut mich ja, wenn unsere eiserne, unbeugsame und alternativlose Kanzlerin auch aus den eigenen Reihen mal Kritik zu hören bekommt – allerdings nicht unbedingt von Peter Friedrich! Dieser macht nämlich den scheinbar zu linken Kurs der CDU mitverantwortlich für den aktuellen Pegida-Höhenflug und meint: „Ich glaube, dass wir in der Vergangenheit mit der Frage nach der Identität unseres Volkes und unserer Nation zu leichtfertig umgegangen sind.“ Zur doppelten Staatsbürgerschaft (für Türken in Deutschland) hat er zu sagen: „Natürlich war die Zustimmung zur doppelten Staatsangehörigkeit ein Fehler. Gerade in einer Zeit, in der die Menschen wieder nach kultureller Identität, Heimat und Zusammenhalt fragen, ist der leichtfertige Umgang mit der Staatsbürgerschaft falsch.
Fragen die Menschen wirklich wieder nach kultureller Identität, Heimat und Zusammenhalt? Und wenn ja, warum?! Die Deutschen gehen wie Jahre und Jahrzehnte zuvor auf Weihnachtsmärkte, die in keiner einzigen deutschen Stadt in „Jahresabschlussmärkte“ umbenannt wurden. Ob Christ/-in oder nicht, gefühlt hat jede/-r zweite Facebook-Nutzer/-in mindestens ein kitschiges Foto gepostet, auf dem irgendwelche Weihnachtsaccessoires zu sehen sind. Die Deutschen sind Weltmeister und haben im Sommer eine riesige Party in Schwarz-Rot-Gold auf den Straßen gefeiert. Deutschland ist seit November offiziell das beliebteste Land der Welt. Natürlich geht es in diesem Land auch einigen Menschen ziemlich sche*ße, aber alles in allem haben wir eine souveräne Grundlage, auf die wir aufbauen können. Wieso um alles in der Welt sucht der/die durchschnittliche Deutsche plötzlich nach mehr Identität, mehr Heimat, mehr Zusammenhalt? Ist das, was wir haben, nicht schon eine ganze Menge?
Vielleicht stellt sich heute gar nicht die Frage, wie viel „Fremdes“ eine Gesellschaft verträgt, sondern wie viel „Nation“ eine Gesellschaft ertragen kann, bevor es zu bleibende Schäden kommt. Doch in unseren Tagen gehen immer mehr „besorgte Deutsche“, die angeblich der „bürgerlichen Mitte“ entstammen, auf die Straße und vertreten Thesen wie „Für mich ist es völlig unerheblich, ob es denHolocaust gegeben hat. Das ist 70 Jahre her!“ – Zur Erinnerung: Im März 1933 wurde die NSDAP von 43,9% des Volkes demokratisch an die Macht gewählt. Damals waren (nur) etwas mehr als 9% der Bevölkerung arbeitslos. Dies offenbart, was oft übersehen wird: Hitlers Wahlsieg wurde von großen Teilen der „bürgerlichen Mitte“ getragen. – Vielleicht ist das auch der Grund, wieso uns unser deutsches Schulsystem und die von Pegida & Co. als „Lügenpresse“ bezeichneten Medien zu Recht immer wieder daran erinnern, was zwischen 1933 und 1945 passiert ist.

Freitag, 5. September 2014

Kriegspostkarten

Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Ich habe in meiner Antiquitätensammlung gestöbert und bin auf eine interessante Postkarte gestoßen. Sie stammt aus dem Jahre 1915 und wurde von einem jungen Soldaten an der russischen Front in die unterfränkische Heimat geschickt. Die Bildseite zeigt zwei Motive: Deutsche Soldaten, die mit abgenommenem Helm und abgestellten Gewehren andächtig zum Gebet verharren. Ein Gebet voll „Donner des Todes“ und geöffneten Adern. Die Szene der betenden Männer steht im Gegensatz zu dem zweiten Teil des Bildes: Vorrückende Preußen, die Bajonette auf ihre Gewehre aufgepflanzt. Zwei Armeen stehen sich gegenüber, ein flaggentragender Franzose greift sich mit der Hand ans Herz, getroffen von einer deutschen Kugel.


Der Erste Weltkrieg war nur der Anfang einer katastrophalen Entwicklung, die das 20. Jahrhundert schon in seinen ersten 45 Jahren zu einem blutigen Säkulum werden lassen sollte. Können wir heute noch nachvollziehen, wie sich Deutsche und Franzosen so entschieden entgegentreten konnten, voller Begeisterung und kampfentschlossen bis in den Tod? Vor hundert Jahren zogen die Massen jubelnd in die Schlachten, Rudel frischer Abiturienten warfen ihre Hüte vor Freude über die neue Herausforderung „Krieg“ in die Luft. Diese Karte aus meiner Sammlung ist ein anschauliches Beispiel. Eindrücklich ist der Text, den ein gewisser Joseph an seine Cousine Elise schrieb:

Liebe Elise! Hat Wilhelm Euch schon besucht? Wie sieht er nur aus? Ist seine Wunde gut geheilt? Schade für den armen Kerl, dass er nicht mehr mit spielen kann. Es wird alle Tage interessanter. Die herzlichsten Grüsse an Deine lieben Eltern. Gruss Joseph.

Der Krieg, ein Spiel? Wie groß muss die Begeisterung bei diesem Joseph, einem deutschen Frontsoldaten, im April 1915 gewesen sein? Krieg ist nur dann, wenn alle hingehen und mitmachen. Und vor hundert Jahren waren die Völker geradezu erpicht darauf, an diesem großen „Spiel“ teilzunehmen.


Das erste große Schlachten des 20. Jahrhunderts forderte knapp 17 Millionen Opfer. Die Nationen lernten kaum etwas dazu. Es dauerte kaum mehr als zwanzig Jahre, bis die nächste – noch größere – Katastrophe ihre Opfer forderte.

Und das Schlimme ist, dass es Kriege auch heute noch gibt. Sie sind etwas Menschliches – und unmenschlich zugleich. Doch Menschen finden immer wieder neue Begründungen, um ihre Macht zu demonstrieren, und neue gerechte Verkleidungen, in die sie das Unrecht des Krieges hüllen. Wo stehen wir heute, hundert Jahre nach Kriegsbeginn? Das Jahr 2014 scheint leider ein besonders blutiges Jahr zu werden. Warum?

Samstag, 9. November 2013

Gedanken zum 9. November

Der 9. November ist ein geschichtsträchtiges Datum für Deutschland und auch für Europa. Eigentlich ist er das schon immer gewesen. Am 9. November 1848 wurde der Publizist und demokratische Politiker Robert Blum in Wien hingerichtet. Die Märzrevolutionen, die bis nach Österreich übergeschwappt waren, brachten noch keinen Durchbruch der Demokratie. Den historischen 9. November kennen wir aber spätestens seit dem Jahr 1918, als die Demokratie den ersten Etappensieg einfuhr: Am 9. November rief Philipp Scheidemann vom Westbalkon des Reichstages in Berlin die Republik aus. Der Krieg war zu Ende, Deutschland schaffte seine Monarchie ab. Diese erste Republik konnte sich jedoch nicht etablieren und mündete in das Dritte Reich. Zwanzig Jahre nach Einführung der Demokratie brannten im ganzen Land die Synagogen. Inszenierter Volkszorn, SA-Männer in Zivil und Uniform – und ein Volk, das zuschaute. Ein Jahr später gab es Krieg. Deutschland versetzte Europa um Jahrzehnte zurück, Armeen hinterließen verbrannte Erde, Elend und Massengräber. Der Neuanfang teilte das Land, oder vielmehr die Welt in Ost und West. Grenzzäune und Mauern hatten vierzig Jahre lang Bestand. Heute ist es nun 24 Jahre her, dass man eine Regelung beschlossen hatte, welche DDR-Bürgern den Grenzübertritt ermöglichte. Nachdem Kohl und Gorbatschow schon Hammer und Meißel an den bröckelnden Beton angelegt hatten, brachte Günter Schabowski vom SED-Politbüro die Mauer vollends zum Einsturz. Er musste dem Druck der Straße weichen – und wahrscheinlich auch dem Druck der Diplomaten, der Wirtschaft – oder dem Druck der Geschichte. Seitdem hat der 9. November ein wenig sein negatives Image aufpoliert, das ihm die Schande der Reichspogromnacht auferlegt hatte. Heute ist er gleichermaßen ein Mahnmal für die dunklen und die fröhlichen Tage der Geschichte. Übrigens, der 9. November 1993 war der Tag, an dem die alte Brücke von Mostar im Bosnienkrieg zum Einsturz gebracht wurde. Dieser Tag im Herbst, der sich alle Jahre wiederholt, mahnt, wenn man so will, für die Zukunft. Brücken und Mauern sind starke Symbole. Denn auch heute noch werden Völker von Mauern getrennt, denken wir nur einmal an Israel und die Palästinenser. Mauern und Trennzäune sind selten etwas Gutes, auch wenn sie zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich bewertet werden.
Eigentlich sollten wir Brücken bauen und Mauern einreißen, nicht andersrum.