„Die Kölner Polizei hat an Karneval wieder reichlich zu tun“, meldet der WDR. Die Polizei sei diesmal sehr konsequent eingeschritten, von 1.100 Einsätzen ist die Rede – das sind 200 mehr als letztes Jahr. „Die Zahl der Einsätze, Platzverweise und Festnahmen ist zum Teil stark gestiegen. Der Polizeipräsident und die Oberbürgermeisterin werten aber gerade das als Erfolg.“ – Natürlich finde ich es gut, dass man die Fehler von Silvester an Karneval verhindern wollte und auch verhindert hat. Wenn man allerdings als kleine Gruppe jordanischer Austauschstudenten auf der Fahrt von Aachen nach Hamm eine halbe Stunde Aufenthalt in Köln hat und einen Abstecher zum Dom wagt, dann kann es schnell passieren, dass man von der Polizei mit anderen Arabern, Türken und Afrikanern zusammengetrieben und kontrolliert wird. Es habe Beschwerden über arabisch aussehende Männer in dieser Gegend gegeben, heißt es dann. Austauschstudenten werden zwar ganz vorne in der Reihe platziert, aber dennoch werden alle ihre Personalien aufgenommen, sie werden von der Polizei nummeriert und sogar fotografiert. Die Handys werden untersucht und nebenbei erfasst man auch alle für eine Handy-Ortung notwendigen Daten. Dann darf man gehen – mit der Belehrung, dass man direkt ins Gefängnis wandern würde, sollte man Köln nicht innerhalb der nächsten halben Stunde verlassen haben. Die Kontrolle selbst kostet die Studenten 40 Minuten, einige Beamte sind freundlich, andere unheimlich respektlos. Deutsche Passanten, obgleich teilweise stark alkoholisiert, bleiben von den Kontrollen verschont, einer pinkelt sogar vor den Augen der Polizisten auf die Straße. Obwohl der erfolgreiche Polizeieinsatz ausschließlich arabisch aussehenden Männern gilt, bei der Polizeidienststelle reagiert man auf kritische Nachfragen wütend, von „racial profiling“ will man hier natürlich nichts wissen. Arabische Männer als potenzielle zukünftige Straftäter vorsorglich zu erfassen – sinnvoll, gerechtfertigt, notwendig? Vielleicht. Japaner, Dänen und US-Amerikaner geraten aber wegen ihres Aussehens auch nicht in Kontrollen. Es bleibt also unschön, diskussionswürdig und zumindest zur Kenntnis zu nehmen.
Herzlich Willkommen auf meinem Blog! Reiseberichte und Kommentare zu Politik und Gesellschaft.
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Mittwoch, 10. Februar 2016
Samstag, 23. Januar 2016
Solidarität - Ein vergessener Wert
Solidarität als Begriff ist bis
heute zunehmend in Vergessenheit geraten. Dabei sprach Richard von Weizsäcker,
der damalige Bundespräsident, schon 1986 diese Worte: „Nur eine solidarische
Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein.“ – Haben wir uns diesen Satz,
in dem auch eine klare Aufforderung steckt, zu Herzen genommen?
Im Jahre 1986 bestimmte noch der Kalte Krieg das politische Klima in Europa und Solidarität war – mit der oben zitierten Ausnahme – vor allem im Osten ein Begriff. Die Arbeiterbewegung beschreibt sie als „Tugend der Arbeiterklasse“, in der sozialistischen DDR war Solidarität daher ein wichtiges Schlagwort. Nach der Wiedervereinigung scheint mit dem Sozialismus auch das einschlägige Vokabular verschwunden zu sein. In unseren Tagen begrenzt sich Solidarität deshalb in erster Linie auf Finanzspritzen: Bankenrettung in Griechenland, „Solidaritätszuschlag“ an Ostdeutschland – dies alles geschieht stets unter lautem Protest, die Geber suhlen sich im Selbstmitleid der angeblich Betrogenen. Dabei muss Solidarität noch viel mehr sein als Geld und finanzielle Zuwendung. Günter Grass hat einmal so etwas Ähnliches gesagt wie: „Die Werte einer Solidargemeinschaft lassen sich nicht an der Börse handeln.“ – Und er hatte Recht.
Doch was ist Solidarität eigentlich? Als die Familie meines Vaters in den 1980er Jahren aus Rumänien nach Westdeutschland übersiedelte, war Europa durch den Eisernen Vorhang geteilt. Man bezahlte mit D-Mark und es gab auch noch die gelben Telefonzellen, die heute fast gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden sind. In einer solchen Telefonzelle fand einer meiner frisch in der Bundesrepublik angekommenen Verwandten drei Mark, die dort einfach so lagen, oben über der Telefonhalterung. Jemand hatte sie dort liegen gelassen. Ob es nun eine uneigennützige Gabe für bargeldlose Anrufer war, aus einer guten Laune heraus, oder ob der unbekannte Telefonbenutzer sie einfach dort vergessen hatte – eine winzige, nahezu unbedeutende Spende, die jedoch viel bewirkt hat: Diese kleine, stets als Akt der Solidarität interpretierte Tat ist bis heute im Gedächtnis meiner Familie geblieben, auch nach mehr als dreißig Jahren. Daraus wird deutlich, welch große Wirkung Solidarität haben kann, auch wenn sie im Kleinen beginnt. Etwas Ähnliches findet man in einigen Cafés, in denen man zwei Getränke kaufen kann, aber nur eines selbst trinkt. Bedürftige Personen können sich auf diese Weise einen heißen Drink abholen, für den eine gute Seele schon aufgekommen ist. „Nimm eins, zahl zwei“ – kein Sonderangebot in einer konsumgesteuerten Zeit, sondern der erste Schritt zu einer wärmeren Gesellschaft, deren Kraft auch frierende Obdachlose im Magen spüren können.
Doch was im Kleinen beginnt muss wachsen. Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein. Richard von Weizsäcker starb im Jahr 2015, als die Flüchtlingskrise ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte. Seit seiner Rede 1986 hat sich die Welt gewandelt. Sie ist nicht besser und nicht schlechter geworden, doch sie ist mit Sicherheit nicht solidarisch. Dass selbst die, die sich dieses Wort einst auf die Fahnen geschrieben haben, sein großes Gewicht vergessen zu haben scheinen, zeigt auch ein Blick nach Polen: Der Elektriker Lech Wałęsa hatte in den 1980ern aus einer Streikbewegung die Gewerkschaft Solidarność (dt. „Solidarität“) gegründet, die mit der Unterstützung von Intellektuellen und der Kirche einen Zusammenhalt über die Standesgrenzen hinweg schuf. Obwohl selbst aus dem Geiste des Kommunismus entsprungen, brachte diese Solidarität das ungerechte kommunistische Regime in Polen neun Jahre später zu Fall. Derselbe Lech Wałęsa, der einen Friedensnobelpreis trägt, sprach sich 2015 in erschütternder Deutlichkeit gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus. Aus seinen in einem Interview getätigten Aussagen, die einen an mehreren Stellen heftig schlucken lassen, lässt sich schließen, dass Solidarität selbst im sozialistischen Osten in erster Linie eine nationale Angelegenheit war und bis in unsere Tage eine solche geblieben ist.
Solidarität wird auch heute noch zu oft ausschließlich national begriffen, dabei sollte sie doch grenzüberschreitend sein. Sowohl Länder- und Staatsgrenzen als auch Barrieren innerhalb unserer eigenen Gesellschaft könnten durch eine Verbundenheit der Menschen auf der untersten, menschlichen Ebene überwunden werden. Denn Solidarität ist nichts, was von der Politik gesetzlich verordnet werden kann. Sie ist dennoch einer von den Werten, über die alle reden, an denen es uns aber mangelt.
Solidarität als Mutter des Mitgefühls, der Feinfühligkeit und des Respekts ist nicht nur in Notzeiten gefragt, nach Tsunamis oder Erdbeben. Feingefühl will den Verletzten, den Missbrauchten der Gesellschaft jeden Tag entgegengebracht werden. Mitgefühl und Verständnis benötigen heimatlose Flüchtlinge, genauso wie die Diskriminierten, die hierzulande noch immer leiden müssen, weil sie anders sind. Die Bedingung für ein solidarisches Miteinander ist der Respekt. Doch er fehlt so oft, wenn wir Debatten über die Köpfe derjenigen hinweg führen, die eigentlich am meisten betroffen sind und die dennoch kaum zu Wort kommen. Solidarität muss im Zentrum der Gesellschaft verwurzelt sein, doch hier verläuft jene Kluft, welche sich in diesen stürmischen Tagen immer weiter vor uns und zwischen uns auftut. Wir müssen heute dringender als irgendwann zuvor im kleinen Rahmen wieder lernen, was wir im Großen umsetzen sollten: Das „Wir“ entdecken, ohne das „Andere“ auszustoßen. Das Boot, in dem wir alle sitzen, beginnt nur dann zu sinken, wenn wir uns gegenseitig zerfleischen. Solidarität ist keine harte Arbeit und sie muss auch nicht teuer sein. Sie ist eine Frage des Willens und des Loslassens all der Einwände, die uns und anderen noch das Leben schwer machen. Und sie ist für jede Gesellschaft überlebenswichtig.
Im Jahre 1986 bestimmte noch der Kalte Krieg das politische Klima in Europa und Solidarität war – mit der oben zitierten Ausnahme – vor allem im Osten ein Begriff. Die Arbeiterbewegung beschreibt sie als „Tugend der Arbeiterklasse“, in der sozialistischen DDR war Solidarität daher ein wichtiges Schlagwort. Nach der Wiedervereinigung scheint mit dem Sozialismus auch das einschlägige Vokabular verschwunden zu sein. In unseren Tagen begrenzt sich Solidarität deshalb in erster Linie auf Finanzspritzen: Bankenrettung in Griechenland, „Solidaritätszuschlag“ an Ostdeutschland – dies alles geschieht stets unter lautem Protest, die Geber suhlen sich im Selbstmitleid der angeblich Betrogenen. Dabei muss Solidarität noch viel mehr sein als Geld und finanzielle Zuwendung. Günter Grass hat einmal so etwas Ähnliches gesagt wie: „Die Werte einer Solidargemeinschaft lassen sich nicht an der Börse handeln.“ – Und er hatte Recht.
Doch was ist Solidarität eigentlich? Als die Familie meines Vaters in den 1980er Jahren aus Rumänien nach Westdeutschland übersiedelte, war Europa durch den Eisernen Vorhang geteilt. Man bezahlte mit D-Mark und es gab auch noch die gelben Telefonzellen, die heute fast gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden sind. In einer solchen Telefonzelle fand einer meiner frisch in der Bundesrepublik angekommenen Verwandten drei Mark, die dort einfach so lagen, oben über der Telefonhalterung. Jemand hatte sie dort liegen gelassen. Ob es nun eine uneigennützige Gabe für bargeldlose Anrufer war, aus einer guten Laune heraus, oder ob der unbekannte Telefonbenutzer sie einfach dort vergessen hatte – eine winzige, nahezu unbedeutende Spende, die jedoch viel bewirkt hat: Diese kleine, stets als Akt der Solidarität interpretierte Tat ist bis heute im Gedächtnis meiner Familie geblieben, auch nach mehr als dreißig Jahren. Daraus wird deutlich, welch große Wirkung Solidarität haben kann, auch wenn sie im Kleinen beginnt. Etwas Ähnliches findet man in einigen Cafés, in denen man zwei Getränke kaufen kann, aber nur eines selbst trinkt. Bedürftige Personen können sich auf diese Weise einen heißen Drink abholen, für den eine gute Seele schon aufgekommen ist. „Nimm eins, zahl zwei“ – kein Sonderangebot in einer konsumgesteuerten Zeit, sondern der erste Schritt zu einer wärmeren Gesellschaft, deren Kraft auch frierende Obdachlose im Magen spüren können.
Doch was im Kleinen beginnt muss wachsen. Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein. Richard von Weizsäcker starb im Jahr 2015, als die Flüchtlingskrise ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte. Seit seiner Rede 1986 hat sich die Welt gewandelt. Sie ist nicht besser und nicht schlechter geworden, doch sie ist mit Sicherheit nicht solidarisch. Dass selbst die, die sich dieses Wort einst auf die Fahnen geschrieben haben, sein großes Gewicht vergessen zu haben scheinen, zeigt auch ein Blick nach Polen: Der Elektriker Lech Wałęsa hatte in den 1980ern aus einer Streikbewegung die Gewerkschaft Solidarność (dt. „Solidarität“) gegründet, die mit der Unterstützung von Intellektuellen und der Kirche einen Zusammenhalt über die Standesgrenzen hinweg schuf. Obwohl selbst aus dem Geiste des Kommunismus entsprungen, brachte diese Solidarität das ungerechte kommunistische Regime in Polen neun Jahre später zu Fall. Derselbe Lech Wałęsa, der einen Friedensnobelpreis trägt, sprach sich 2015 in erschütternder Deutlichkeit gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus. Aus seinen in einem Interview getätigten Aussagen, die einen an mehreren Stellen heftig schlucken lassen, lässt sich schließen, dass Solidarität selbst im sozialistischen Osten in erster Linie eine nationale Angelegenheit war und bis in unsere Tage eine solche geblieben ist.
Solidarität wird auch heute noch zu oft ausschließlich national begriffen, dabei sollte sie doch grenzüberschreitend sein. Sowohl Länder- und Staatsgrenzen als auch Barrieren innerhalb unserer eigenen Gesellschaft könnten durch eine Verbundenheit der Menschen auf der untersten, menschlichen Ebene überwunden werden. Denn Solidarität ist nichts, was von der Politik gesetzlich verordnet werden kann. Sie ist dennoch einer von den Werten, über die alle reden, an denen es uns aber mangelt.
Solidarität als Mutter des Mitgefühls, der Feinfühligkeit und des Respekts ist nicht nur in Notzeiten gefragt, nach Tsunamis oder Erdbeben. Feingefühl will den Verletzten, den Missbrauchten der Gesellschaft jeden Tag entgegengebracht werden. Mitgefühl und Verständnis benötigen heimatlose Flüchtlinge, genauso wie die Diskriminierten, die hierzulande noch immer leiden müssen, weil sie anders sind. Die Bedingung für ein solidarisches Miteinander ist der Respekt. Doch er fehlt so oft, wenn wir Debatten über die Köpfe derjenigen hinweg führen, die eigentlich am meisten betroffen sind und die dennoch kaum zu Wort kommen. Solidarität muss im Zentrum der Gesellschaft verwurzelt sein, doch hier verläuft jene Kluft, welche sich in diesen stürmischen Tagen immer weiter vor uns und zwischen uns auftut. Wir müssen heute dringender als irgendwann zuvor im kleinen Rahmen wieder lernen, was wir im Großen umsetzen sollten: Das „Wir“ entdecken, ohne das „Andere“ auszustoßen. Das Boot, in dem wir alle sitzen, beginnt nur dann zu sinken, wenn wir uns gegenseitig zerfleischen. Solidarität ist keine harte Arbeit und sie muss auch nicht teuer sein. Sie ist eine Frage des Willens und des Loslassens all der Einwände, die uns und anderen noch das Leben schwer machen. Und sie ist für jede Gesellschaft überlebenswichtig.
Samstag, 21. November 2015
Deutschland und die Einwanderung (Fundstück)
Ich bin auf
einen sehr interessanten Text gestoßen, der im Hinblick auf die Einwanderung
der türkischen Minderheit ganz gut erklärt, weshalb Deutschland beim Thema Migration
und Integration anderen Ländern hinterherhinkt. Der Text stammt aus einem
Länderporträt von Jürgen Gottschlich über die Türkei, doch im Kontext aktueller
Diskussionen, die seit Jahren anhalten und heute aktueller denn je sind, lohnt
sich die Lektüre einiger Auszüge:
[…] Die sogenannten Gastarbeiter der ersten
Stunde erzählen heute noch kopfschüttelnd, wie sich damals in den Dörfern
Anatoliens das Gerücht verbreitete, in diesem fernen Deutschland könne man
unendlich viel Geld verdienen.
Doch der Weg dorthin war lang und schwierig.
Es gab deutsche Anwerbekommissionen, die in den größeren Städten Stationen eingerichtet
hatten, in denen die Leute vorsortiert und einem ersten Gesundheitscheck
unterzogen wurden. Bevor jemand das Ticket zu einer Zugfahrt nach Norden bekam,
musste er sich dann zumeist noch zwei weiteren gründlichen Untersuchungen
stellen, um sicher zu gehen, dass die deutschen Firmen auch nur bestes „Material“
anwarben. Fast alle berichten, dass die Ankunft in Deutschland für sie ein
Schock war. Der Mangel an Verständigung, die völlig andere Umgebung und die
Unterbringung in tristen Baracken, die zum Teil schon als Unterbringung für die
Zwangsarbeiter im Dritten Reich gedient hatten, machten ein Ankommen in
Deutschland nicht leicht. Aber die Männer – es waren ja ganz überwiegend
Männer, die angeworben wurden – hatten den sozialen Zusammenhalt untereinander,
und sie hatten ihren Arbeitsplatz.
Ihre Arbeit gehörte durchgängig zu den
körperlich schwersten, am schlechtesten bezahlten und mit dem geringsten
Prestige verbundenen Tätigkeiten, die in Deutschland zu vergeben waren. Eine
besondere Ausbildung war zumeist unnötig, auch Sprachkenntnisse brauchte man
bis auf einige rudimentäre Brocken nicht. Es genügt, einige Befehle zu
verstehen und „jawohl, Meister“ sagen zu können. Mehr war auch gar nicht
gewollt, denn das Konzept der Anwerbung von Fremdarbeitern im südlichen Europa
basierte auf dem Rotationsprinzip. Die Arbeiter sollten nach ein paar Jahren,
die sie quasi wie auf Montage in Deutschland verbracht hatten, wieder
zurückkehren und neuen „Gastarbeitern“ Platz machen. Die Rückkehr sollte vor
allem so rechtzeitig geschehen, dass die Arbeiter nicht dem deutschen
Sozialsystem zur Last fielen, also krank wurden oder gar Rente beziehen
wollten.
Doch das Leben hält sich oft nicht an die
ausgeklügelten Pläne. Mit den Jahren begnügten sich die „Gastarbeiter“ nicht
mehr mit dem monotonen Wechsel zwischen Baracke und Schichtarbeit, sondern sie
begannen, ihre neuen Umgebungen zu erkunden. Zuerst die Innenstädte und
Bahnhöfe, dann kamen die ersten Kontakte zu Deutschen, die über den
unmittelbaren Arbeitsplatz hinausgingen. Bekanntschaften, Freundschaften, eine
eigene Wohnung folgten. Manchmal wurde aus Freundschaft Liebe, und die ersten
binationalen Ehen wurden geschlossen, andere begannen, ihre Frauen und Kinder
nachzuholen. Obwohl schon nach wenigen Jahren klar wurde, dass aus der
gedachten Rotation längst eine Einwanderung geworden war, wurde dies von der
bundesdeutschen Politik schlicht ignoriert.
Das Phänomen war in allen westeuropäischen
Industrienationen das Gleich, doch zwischen Deutschland auf der einen und
Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden auf der anderen Seite gab es
einen großen Unterschied. Dort holte man sich den Arbeitskräftenachschub aus
eigenen Kolonien oder ehemaligen Kolonien. Das hatte den Vorteil, dass man sich
bereits ein wenig kannte und die Leute, die kamen, in der Regel auch Englisch,
Französisch oder Niederländisch sprachen. Außerdem war man aufgrund seiner
imperialen Vergangenheit nicht ganz so provinziell wie in Deutschland. Die
Auslandserfahrungen der meisten deutschen Männer beschränkten sich in den 50er
Jahren auf die Eroberungszüge der Wehrmacht, bei den Frauen auf Bekanntschaften
mit Besatzungssoldaten. Die ersten schwarzen Gis wurden bestaunt wie Zirkusattraktionen.
Der Faschismus war zwar durch eine Demokratie ersetzt worden, aber die
Vorstellung vom deutschen Volk als ethnischer Einheit saß und sitzt oft bis
heute noch in vielen Köpfen.
Wenn heute in Deutschland die mangelnde
Integrationsbereitschaft der türkischen Einwanderer beklagt wird, unterschlägt
man in der Regel, dass dazu auf der anderen Seite auch die Bereitschaft
bestehen muss, vormals Fremde im eigenen Land aufnehmen zu wollen. Genau damit
aber taten sich die Deutschen besonders schwer. Zu den überall existierenden
Schwierigkeiten mit der Integration ethnischer Minderheiten kommt in
Deutschland, anders als in Großbritannien oder Frankreich, oft bis heute noch
ein völkisches Element hinzu.
Mit dieser Haltung sahen sich viele türkische
Familien konfrontiert, als sie aus den Wohnbaracken der Anwerberfirmen
auszogen, um sich selbst einen Platz in der Gesellschaft zu suchen. […]
(Text aus Jürgen GOTTSCHLICH: Türkei – Ein Land jenseits von Klischees,
Sonderausgabe für die Zentrale für politische Bildung in Deutschland, 2008, S.
79-85)
Viele dieser
Feststellungen lassen einen ersten Schluss zu, dass ein Großteil der Probleme,
die wir heute in Deutschland haben, nicht nur an der Einwanderung selbst
liegen, sondern am Umgang der deutschen Politik mit dem Zustrom von
Arbeitskräften sowie mitunter auch an den national(istisch?)en Eigenarten der
Deutschen. Mehr nachdenkliche (und teils erschreckende) Fakten und persönliche Beobachtungen
aus dieser Zeit hat z.B. Günter Wallraff in seinem Buch „Ganz unten“ (1985)
gesammelt.
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Gastarbeiter (Foto: dpa, gesehen bei Sueddeutsche Zeitung) |
Sonntag, 25. Oktober 2015
No Hogesa am Sonntag (25.10.2015)
Pünktlich
zum Jahrestag der berüchtigten Hogesa-Demonstration („Hooligans gegen Salafisten“)
vom Oktober 2014 haben sich auch heute wieder rechte Hooligans in Köln
versammelt. Die Polizei war dieses Jahr mit 3.500 Einsatzkräften zugegen und
somit bestens vorbereitet. Auch logistisch war der Große Demo-Sonntag eine
Meisterleistung: Hogesa war auf den Barmer Platz hinter dem Bahnhof
Köln-Messe/Deutz verbannt worden, eingekesselt und im Blick der Beamten,
während die größte der insgesamt sieben Gegenveranstaltungen auf der anderen
Seite stattfand, vor dem Bahnhof, auf dem Otto-Platz. Beide Lager waren
getrennt durch Bahnhofsgleise, Eisenbahnbrücken und eine doppelte Reihe
Polizei. Auf dem Bahnhof selbst wurden die S-Bahnen phasenweise so postiert,
dass möglichst wenig Sichtkontakt bestand.
Während auf
der Bühne des Aktionsbündnisses Birlikte („Zusammenstehen“) noch der
Soundcheck durchgeführt wurde und sich der Otto-Platz mit den ersten hundert
Menschen füllte, tröpfelten die Rechten nur sehr zäh auf dem ihnen zugeteilten
Gelände ein. Um kurz nach elf wurden dort ganze elf Hooligans gezählt. Doch
auch die schmaler Gebauten des neuerdings salonfähigen braunen Establishments
waren angereist und suchten nach dem passenden Übergang auf ihre Seite: „Malte,
ich glaube wir müssen da unten durch“ – unter dem Bahnhof traf ich zum ersten
Mal auf eine Gruppe von Nazi-Hipstern, von denen nur Malte das hellbraune Haar
brav gescheitelt hatte und ebenso ratlos wie seine Kameraden nach dem Weg
suchte. Größere Gruppen von Rechten wurden von der Polizei begleitet und an
grölenden Antifas vorbeigeleitet.
Direkt
aufeinander trafen Rechte und Gegendemonstranten nur am Bahnhof. Die Antifa
blockierte kurze Zeit den Zugang zu einem Gleis und verursachte damit die erste
aus einer Serie von Verspätungen dieses Sonntags. Unterdessen wurden anreisende
Dortmunder, Paderborner und Düsseldorfer Nazis mit Sprechchören oder (vonseiten
einiger Passanten) mit spontanen Stinkefingern begrüßt. Am Himmel zog der der Polizeihelikopter
eine Endlosschleife und beobachtete aufmerksam das Geschehen.
Auch dieses
Jahr befürchtete man umfangreiche Ausschreitungen und Gewaltausbrüche. Die
Versammlung rechter Hooligans war letztes Jahr gegen Ende ziemlich ausgeartet
und besonders ein Bild mit Randalierern, die ein Polizeiauto umstürzen, ging
durch die Presse. Die Erwartungen der Medien waren also auch heute sehr hoch –
zumindest konnte dieser Anschein durchaus entstehen: Der Focus betitelte seinen
Live-Ticker schon am Morgen mit der Frage „Köln in Aufruhr: Knallt es heute bei
der Hogesa-Demo?“ und lieferte ein paar Stunden später die Bestätigung: „Hogesa:
5 Verletzte in Köln – Es droht zu knallen“. Und tatsächlich kam es zu
Auseinandersetzungen zwischen linken Antifa-Aktivisten und der Polizei, die
auch ihren Wasserwerfer zum Einsatz brachte, und aus den Reihen der Rechtsextremen
wurden die Polizisten stellenweise mit Böllern beworfen. In den ersten Zeitungsberichten
(und natürlich auch im Focus-Newsticker) war deshalb von „linken und rechten
Demonstranten“ zu lesen, die von der Polizei getrennt und separat zur Abreise
begleitet werden mussten. Das alles kann aber nicht über die Tatsache
hinwegtäuschen, dass hier nicht nur rechte und linke Krawallmacher aufeinandertrafen:
Vielmehr standen sich auf der einen Seite eine eher mickrige Gruppe von knapp
1.000 Mann (und Frau) von Hogesa – denen zu Beginn sogar noch zehn (nüchterne
und nicht vorbestrafte) Ordner fehlten – und auf der anderen Seite über 10.000 Gegendemonstranten
aus allen politischen Lagern und aus einer Vielzahl von Initiativen gegenüber. Auf
dem Otto-Platz waren alle Altersklassen vertreten, „Köln stellt sich quer“ war wieder einmal das
Motto. Die Antifa und ihre Blockadeaktionen waren gewissermaßen lediglich das Sahnehäubchen
auf der Torte.
Die für den
Abend angemeldete Kögida-Demonstration wurde abgesagt, die einheimischen rechten
Abendspaziergänger schlossen sich stattdessen den Hooligans an. Die von einigen
Zeitungen prophezeite (und fast schon herbeigesehnte) Katastrophe blieb aber aus.
Eine Stadt hat gezeigt, dass sie keinen Bock auf Nazis hat. Nicht mehr und
nicht weniger.
Dienstag, 20. Oktober 2015
Die Dritte Intifada & das Dilemma der moralischen Überlegenheit
Vor einer ganzen Weile
hat mich ein israelischer Bekannter gefragt, ob ich wirklich der Meinung wäre,
Israel sei weniger aufgeschlossen, weniger open-minded
als Deutschland. Ich wollte ihm damals antworten und habe viel Zeit investiert
in die Formulierung meiner Gedanken, doch nach einer Weile haben sich die
Ereignisse in Deutschland und auch in Israel überschlagen, sodass ich bis heute
nicht dazu gekommen bin, diese Email zu schreiben. Gerade in diesen Tagen
erleben wir aber wieder einen neuen Ausbruch der Gewalt im Nahen Osten,
inmitten der vielen anderen Krisenherde, die seit Jahren die Nachrichten
dominieren: Zwischen Mittelmeer und Jordan bahnt sich etwas an, das viele schon
jetzt als Dritte Intifada bezeichnen. Die Zahlen der Toten steigen wieder, es
kommt zu Angriffen und Attentaten. Menschen fallen Messerstechern und
Polizeischüssen zum Opfer. Erst kürzlich erzählte mir ein Freund aus Israel,
dass er mit einem flauen Gefühl im Magen von Tel Aviv mit dem Bus nach Beersheva
fuhr. Dort hatte ein Palästinenser am Tag zuvor versucht, an der Central Bus
Station mit Messer und Schusswaffe ein Blutbad anzurichten. Der Freund erzählte
weiter, er habe sich aber besser gefühlt, als er am Busbahnhof eine große
Gruppe israelischer Jugendlicher mit der Nationalflagge habe tanzen sehen. Da
kam ich ins Grübeln. Was ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt, lässt mich
wiederum schlucken. Denn an genau jener Stelle hatten Passanten am Tag zuvor
auch einen Eritreer zu Tode geprügelt, nachdem sie ihn für einen zweiten
Attentäter gehalten hatten. Die Nerven liegen blank, und vor der Kulisse einer
weiteren Zeit des Terrors geht jede Menschlichkeit verloren.
Da fiel mir wieder die
Email ein, die ich schreiben wollte. Ist Israel weniger open-minded als andere Länder, als Deutschland? Ich denke, man kann
Gesellschaften nur schlecht vergleichen, wenn sie sich in einer komplett
anderen Ausgangssituation befinden. Und doch möchte ich den meisten Israelis sagen,
dass ich sie nicht mehr verstehe – wenn ich sie denn jemals auch nur ansatzweise
verstanden habe. Die israelische Gesellschaft ist entweder blind, oder sie
schaut weg. Eines ist sie jedenfalls nicht: Moralisch überlegen. Es ist nicht
nur ein Versäumnis der Regierung, wenn sich ultraorthodoxe Juden dazu ermutigt
fühlen, auf einer Gay Pride Parade in Jerusalem junge, andersdenkende und -fühlende
Menschen abzustechen. Es ist auch nicht die Schuld der Regierung, wenn
Polizisten einen äthiopischstämmigen IDF-Soldaten auf offener Straße
misshandeln oder einen Eritreer für einen Terroristen halten, nur weil er eine dunklere
Hautfarbe hat als der durchschnittliche aschkenasische israelische Jude. Die
Regierung trägt zwar die Verantwortung für die seit Jahrzehnten aufrecht
erhaltene Besatzung der palästinensischen Nachbarn, doch die Gesellschaft wiederum
toleriert sie. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird durch
diese Besatzung jedoch maßgeblich bedingt – doch die Gesellschaft sieht sie
nicht einmal, solange man sie nicht mit ihr konfrontiert.
Symbol der Freiheit?
Natürlich haben Israelis
in den letzten Jahrzehnten ihre eigenen persönlichen Erfahrungen mit dem
Konflikt gemacht. Familien haben Väter oder Onkels in einem der zahlreichen
Kriege mit den arabischen Nachbarn verloren, oder durch Scharfschützen bei der
Feldarbeit in einem Kibbuz. Andere können sich daran erinnern, wie zur Zeit der
Zweiten Intifada die Küchenfenster zum wiederholten Male wackelten, wenn sich der
Attentäter in einem Jerusalemer Bus in die Luft gesprengt hat. Diesen Menschen macht
es Mut, wenn die jugendlichen Massen am Unabhängigkeitstag bis in die Nacht in
den Straßen tanzen und sich in blau-weiße Fahnen einhüllen. Für die junge Generation
sind Blau und Weiß die Farben der Zuversicht, der Davidstern ein Symbol der
Freiheit. Genau diese Flagge bedeutet für die unterdrückten Nachbarn jedoch
etwas ganz anderes, wo immer sie über spontan vor Ortseingängen errichteten
Checkpoints weht, die von einem Tag auf den anderen willkürlich entscheiden
können, wer heute zur Schule oder zur Arbeit geht und wer nicht. An diesen
Checkpoints stehen keine gesichtslosen Soldaten, sondern nahezu jeder
israelische Mann und fast jede israelische Frau, die beide ihren Wehrdienst bei
der Armee ableisten, und das meist auch vollem ganzem Herzen tun. Den Schrecken
der Besatzung, an der sie teilhaben und bei der sie Zeuge alltäglicher
Ungerechtigkeiten werden, versuchen sie nach zwei oder drei Jahren des
Armeedienstes in Südamerika oder Indien zu vergessen, mit Marihuana und anderen
Drogen aus dem Gedächtnis zu löschen. Nur eine kleine Gruppe ehemaliger
Wehrdienstleistender berichtet von den Szenen in Hebron und anderen Orten, wo
israelische Einheiten zu Übungszwecken die Wohnzimmer palästinensischer Familien
in Kommandozentralen umfunktionieren und beim Abzug nach zwei, drei Tagen
bisweilen die komplette Inneneinrichtung kaputtschlagen, oder der Familie sogar
noch aufs zertrümmerte Sofa kacken. All dies ist man gezwungen, an der Grenze
zwischen Israel und dem Westjordanland abzulegen, denn die Gesellschaft möchte die
Berichte über die eigenen moralischen Makel nicht hören. Als „Linker“ sind jene
verschrien, die an der Besatzung zweifeln. Und so kommt es, dass der Konflikt nur
dann die israelische Öffentlichkeit berührt, wenn perspektivlose und
ideologisch vereinnahmte Palästinenser an Bushaltestellen in wartende Menschen rasen
oder mit Messern um sich stechen. Die israelische Politik, die mit dem Bau von
Siedlungen bestraft und durch die Aufrechterhaltung der Besatzung jede Chance
auf Frieden zubetoniert, erfährt in diesen Tag noch mehr Zuspruch. Mehr als
eine halbe Million oftmals extremistischer Siedler haben sich im Westjordanland
niedergelassen. Dort ist in den letzten Jahren mit ihnen nicht nur eine
entscheidende politische Größe herangewachsen, sondern auch eine radikalisierte
Jugend, die durch benachbarte palästinensische Dörfer zieht, um Autos anzuzünden
und Moscheen zu beschmieren. Und während diese Jugendlichen im besten Fall vor
ein ordentliches Gericht gestellt werden, steht jeder palästinensische
Steinewerfer unter israelischer Militärgerichtsbarkeit. Wie moralisch überlegen
kann eine Gesellschaft sein, die es toleriert, dass in ihren Gefängnissen minderjährige
Palästinenser auf unbestimmte Zeit festgehalten werden? Welche Werte vertritt
ein Staat, in dessen Machtbereich ein 15jähriger Angreifer auf offener Straße
verblutet, während dutzende Polizisten um ihn stehen und ein Siedler Nahaufnahmen
mit seinem Handy macht, laut rufend „Stirb, Du Hurensohn“? Man könnte sich fragen, ob die israelische Öffentlichkeit tatsächlich erkennt, in welchem moralischen Dilemma sie sich hier befindet.
Extremisten und
Terroristen gibt es auf beiden Seiten, das ist nicht Gegenstand der Diskussion.
Der palästinensische Terror entsteht jedoch auf dem Boden der
Perspektivlosigkeit, in einem von Zäunen und Mauern und Checkpoints
durchzogenen Land. Der israelische Terror auf der anderen Seite wähnt große
Teile der eigenen Politik hinter sich. Er entsteht in einem Staat, der seit
Jahrzehnten in jedem Konflikt Sieger geblieben ist und seit einer halben
Ewigkeit eine Besatzung aufrecht erhält, durch die sowohl die eine als auch die
andere Seite immer weiter abstumpft und irgendwann jedes Gefühl für ein menschliches
Miteinander verlieren wird. Ein anderer Bekannter schrieb mit auf Facebook, die Atmosphäre in Israel sei dermaßen vergiftet, dass er noch nie so ernstlich über Auswanderung nachgedacht habe wie heute. Und wenn die ersten Querdenker aus einem Staat auszuwandern beginnen, der sich noch immer die "einzige Demokratie im Nahen Osten" nennt, dann kann dieser Staat nicht sehr open-minded sein.
Montag, 19. Oktober 2015
Götterdämmerung oder Faschisten im Schafspelz
Wenn im Januar
wieder das Unwort des Jahres 2015 gekürt werden soll, wird man aus einer schier
unübersehbaren Masse von Vokabeln eine wählen, die das aktuelle Bild unserer
Gesellschaft in den Medien und im allgemeinen Sprachgebrauch auf ihre Art besonders
charakterisiert hat. Wird es der „Gutmensch“ sein oder doch eher der „Asylkritiker“?
Auch die „Überfremdung“ dürfte hoch im Kurs stehen. Mein aktueller Favorit stammt
aber von einem besorgten Bürger namens Engelbert M., der einstmals
Bürgermeister von Bautzen werden wollte und die abendlichen Spaziergänge der Rentner,
Lehrer und Doktoren aus der „Mitte des Volkes“ seit ihren Anfängen im letzten
Jahr treu begleitet. Kürzlich bezeichnete er die Merkel-Gabriel-Konstruktion, die
ein dumpfbackiger Patrioten auf einer Demonstration vor sich hergetragen hatte
und wegen der nun die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde, leicht
humoristisch – und vor allem beschwichtigend – als „Ziergalgen“.
Der
Untergang des Abendlandes hat viele Gesichter. Ein besonders hässliches, aber
zugleich ungemein bürgerliches ist das von Pegida. Welches könnte also Unwort
des Jahres werden wenn nicht das unschuldige Wörtchen „Ziergalgen“, dessen Silhouette
über dem vom Sonnenuntergang eingerahmten Abendspaziergang der tapferen
Patrioten thront, die grölend und schimpfend schon seit einem Jahr unsere
christlichen Werte zu verteidigen vorgeben – denn Pegida feiert heute Geburtstag,
und nach nur einem Jahr müssen wir bekennen, dass die Faschisten im
bürgerlichen Schafspelz ihre Sicht der Dinge schon lange salonfähig gemacht
haben – und dass sie überdies noch zu ganz Anderem fähig sind. Die Errungenschaften
der selbsternannten Volksbewegung sind bemerkenswert: Wurden doch im ganzen
Jahr 2014 „nur“ 198 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte registriert, gab
es bis Mitte Oktober 2015 schon 522 Übergriffe. Mit dem Messerangriff auf die
inzwischen zur Oberbürgermeisterin von Köln gewählten parteilosen Henriette
Reker gab es nun auch einen ersten Gewaltakt gegen eine Politikerin auf höherem
Niveau. Zu verdanken ist dies dem Klima, das von Pegida und ihrer
parlamentarischen Verbündeten, der „Alternative für Deutschland“ (AfD),
geschaffen wurde. Kein Nazi braucht sich mehr hinter dem Stammtisch und seiner zünftigen
Bierfahne zu verstecken, im Jahr 2015 sagt man frei raus was man denkt. Und den
Rücken bekommt man gestärkt von den neuen Führern, den Bachmännern und Höckers,
die vor ihrem versammelten Volk wirre Reden schwingen, von der Islamisierung
des Abendlandes phantasieren und Asylbewerberheime als Luxussanatorien beschreiben.
Diese Menschen beginnen, keinen Hehl mehr daraus zu machen was sie denken und
was sie wollen. Der Journalist Klaus Hillenbrand hat in seinem Kommentar für
die taz
eine ganz entscheidende Feststellung getroffen: „Wer glaubt, ein paar weniger
Asylsuchende in Pirna, Heidenau oder Dresden würden deeskalierend wirken,
verkennt, dass es den Fremdenfeinden nicht um Kompromisse geht. Weder wollen
diese einen Kompromiss noch sind deren Ansichten kompromissfähig. Sie wollen
den autoritären Staat.“ Traurigerweise können wir die, die von sich behaupten aus
der „Mitte des Volkes“ zu kommen, nicht einfach in die rechte Ecke verbannen. Vielleicht
wäre es darum besser einzugestehen, dass mit Pegida tatsächlich Menschen aus
allen Schichten durch die Straßen Dresdens marschieren. Vielleicht sollten wir
nüchtern feststellen, dass auch 1933 nicht nur die Verzweifelten, Arbeitslosen
und sozial Schwachen der NSDAP und Adolf Hitler mit 43,9% der Stimmen zur Macht
verholfen haben, sondern – Menschen aus dem Bürgertum.
Wie wirken
wir dieser bedrohlichen Entwicklung entgegen? Wenn unsere Kinder, Enkel oder
Urenkel in 30 Jahren mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ nur noch das Jahr 2015
verbinden können, dann haben wir alle jämmerlich versagt. Lassen wir das nicht
zu. Eine wehrhafte, lebendige und dynamische demokratische Gesellschaft muss
dem aufkeimenden Fremdenhass und der rechten Systemfeindschaft alles entgegensetzen
was sie aufzubieten hat: Hetzer wie Björn Höcke, der zuletzt bei Günther Jauch
seine Hitparade der unbelegten Behauptungen und Gerüchte zum Besten geben durfte,
können leicht durch Argumente und Fakten widerlegt werden, doch das „Volk“
lässt sich nur durch eine Instanz belehren: durch das Volk selbst. Wir müssen
denen, die es einfach nicht besser wissen, die andere Wirklichkeit vor Augen
führen und sie aus ihrer starren Weltsicht befreien. Das ist unsere Aufgabe,
die sich am sinnvollsten nicht durch die Medien (a.k.a. „Lügenpresse“), sondern
vielleicht besser von Mann zu Mann oder von Frau zu Frau bewältigen lässt. Doch
es wird immer einen harten Kern der Unbelehrbaren geben, mit denen es nicht
lohnt in Dialog zu treten. Ab einem gewissen Grad hilft gegen „besorgte Bürger“
deshalb nur noch eins: In der Gegendemo stehen und die Faschisten niederbrüllen,
Aufmärsche blockieren und die Abendspaziergänger am Ende des Tages frustriert nach
Hause schicken.
Montag, 29. Juni 2015
Selbstverständnis & Selbstkritik - Deutschland und die EU im Spiegel der Ukraine-Krise
Ich möchte
die Demokratie gegen nichts auf der Welt eintauschen. Doch zu einem gesunden
Selbstverständnis gehört auch Selbstkritik, besonders in Tagen des
Schwarz-und-Weiß-Denkens. Seit dem Beginn der Ukraine-Krise sind die Positionen
westlich und östlich der Front klar aufgeteilt, doch macht uns dies nicht alle
gleich. Und es täuscht nur kurzfristig über die Probleme hinweg, die wir in
Zukunft noch bekommen werden oder schon längst haben. Es besteht Nachholbedarf,
an allen Ecken und Enden – und nicht nur in Deutschland. Wenn es um die
Aufarbeitung der eigenen Geschichte geht oder um den Umgang mit Menschen
ausländischer Herkunft. Dass Lettland noch immer Gedenkmärsche für seine
Kriegsteilnehmer aus den Reihen der Waffen-SS abhält, an denen im März 2015
noch 1.500 Männer teilnahmen, kann man als alternative Interpretation
europäischer Geschichte deuten. Doch dass der ungarische Präsident auf
Wahlkampfplakaten fremdenfeindliche Sprüche gegen Flüchtlinge klopfte, ist ein
akutes Problem. Natürlich, die Plakat-Botschaften waren in ungarischer Sprache abgefasst
und richteten sich an das ungarische Wahlvolk, doch Fremdenhass (und
wahrscheinlich auch schlichtweg Angst vor der Einwanderung) ist ein Problem,
dem in vielen Ländern mit Nachsicht und allzu großem Verständnis begegnet wird.
Doch abseits der Flüchtlingsproblematik gibt es andere beunruhigende Tendenzen,
die sich vor allem im Kontext des Konflikts mit Russland manifestieren. In
Litauen wird das Schulfach „patriotische Erziehung“ eingeführt, in Polen
formiert sich angesichts der russischen Bedrohung die Federacja Organizacji Proobronnych (FOP, Föderation der
Pro-Verteidigungsorganisationen). Dieser Verband soll Freiwillige bündeln und bis
in drei Jahren mit 100.000 Mitgliedern in jedem Kreis präsent sein. Eine
Aufgabe der Organisation – neben der Verteidigung gegen „den Russen“ – ist die
Erziehung der Jugend zum Patriotismus. Ähnliche Bürgerwehren bilden sich auch
in den baltischen Staaten. Hilft Vaterlandsliebe gegen Faschismus? Eine
Legende, an die noch allzu viele glauben mögen.
Ich liebe die
Demokratie. Aber ich zweifle so langsam an unserer. Deutschland profitiert an
einem Konflikt, zu dessen Entschärfung auch von europäischer Seite nichts beigetragen
wird: Polen hat Ende 2013 einen Kaufvertrag zur Lieferung von 119 deutschen Leopard-Panzern,
18 Bergepanzern und 200 Militär-LKWs unterschrieben. Ende Mai hat Rheinmetall bekannt
gegeben, mit einem polnischen Joint Venture einen neuen Radpanzer zu bauen. Die
polnische Regierung will 200 Stück kaufen, Umsatz: 300 Millionen Euro. Litauen
wird demnächst mit deutschen Panzerhaubitzen und Feuerleitsystemen
ausgestattet. Natürlich ist Deutschland nicht der einzige Lieferant. Doch
bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, dass man viel mehr Mühe in die
militärische Hochrüstung zu legen scheint als in diplomatische
Friedensbemühungen. Während der Diplomatie die Ausdauer schwindet, beginnt die Wirtschaft
zu frohlocken. Ich will Pazifismus...
Ich glaube
an die Demokratie und bin der Meinung, dass man ein paar Macken in unserem
System durchaus kurieren kann. Aber vielleicht sollten wir erst einmal offen
bekennen, dass auch wir einen Propaganda-Apparat betreiben, bevor wir die
Medien unserer Kontrahenten verurteilen. Die Deutsche Welle hat seit Mitte Mai
ein Abkommen mit den baltischen Staaten und liefert russischsprachige
Fernsehbeiträge. Ein Zitat des DW-Intendanten Peter Limbourg: „Mit unseren
Programmlieferungen in russischer Sprache tragen wir dazu bei, dass die
Menschen Informationen russischer Medien besser einordnen können.“ – Was ist
das, wenn nicht Propaganda? Von Deutschland an Russen. Das gleiche macht
Russland mit seinem Russia-Today-Büro
in Berlin. Und das finde ich nicht gut.
Derweil wird
unterbunden, dass Russland seine Minderheiten im Baltikum medientechnisch
versorgt. Doch wieso ist es überhaupt nötig, dass sich der russische Staat um
Bürger in europäischen Ländern kümmern muss? Vielleicht weil diese gar keine
Bürger sind: Nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten bekam die russische
Minderheit nur unzureichend die Möglichkeit, die jeweilige neue
Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden diese
(meist russischsprachigen) Einwohner staatenlos. Heute leben 91.000 Staatenlose
in Estland (laut Amnesty International),
in Lettland sind es 300.000 und damit knapp 15 % der Bevölkerung. Wenn wir es
als falsch empfinden, dass sich Russland um Russen kümmert, wie stehen wir dann
dazu, dass sich das deutsche Innenministerium um deutsche Minderheiten im
Ausland kümmert? Eine absurde Frage, oder nicht?
Aufgrund der
alltäglichen Diskriminierung in Form von unzureichendem Zugang zu staatlichen
Leistungen, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und vor allem dem fehlenden Wahlrecht
ist die russische Minderheit in diesen Ländern Putin gegenüber zum großen Teil
freundlich eingestellt. Doch das können wir nicht verstehen: „Im Nato-Land
Estland […] sehen nur rund 30 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung das
Verteidigungsbündnis [NATO] positiv – obwohl Nato-Jets den Luftraum schützen
und inzwischen ständig US-Truppen im Land sind“, schreibt Spiegel Online und
wundert sich. Seit April 2014 sind in Lettland, Litauen und Estland jeweils 150
US-Soldaten stationiert, von denen einige an der Militärparade zum estnischen
Unabhängigkeitstag teilnahmen – aus mainstreameuropäischer Sicht kann das nur
positiv sein.
Wenn wir
kein Verständnis für Russland aufbringen können und wollen, dann sollten wir
wenigstens einmal ein wenig Unverständnis gegen unsere eigene Politik und ihre
unverhohlene Falschheit offenbar werden lassen. Und Empörung. Während unsere
Währungsunion am Euro und der Griechenland-Politik scheitert und unsere Werte
vor Italien und Spanien zusammen mit 25.000 Flüchtlingen ertrinken, bringen wir
es immer noch nicht übers Herz, die erste faulige Tomate zu werfen, die ein
erster Anstoß zur Heilung des Systems sein könnte.
Sonntag, 28. Dezember 2014
Friedrich, Deutschland und Pegida
Es freut
mich ja, wenn unsere eiserne, unbeugsame und alternativlose Kanzlerin auch aus
den eigenen Reihen mal Kritik zu hören bekommt – allerdings nicht unbedingt von
Peter Friedrich! Dieser macht nämlich den scheinbar zu linken Kurs der CDU
mitverantwortlich für den aktuellen Pegida-Höhenflug und meint: „Ich glaube,
dass wir in der Vergangenheit mit der Frage nach der Identität unseres Volkes
und unserer Nation zu leichtfertig umgegangen sind.“ Zur doppelten
Staatsbürgerschaft (für Türken in Deutschland) hat er zu sagen: „Natürlich war
die Zustimmung zur doppelten Staatsangehörigkeit ein Fehler. Gerade in einer
Zeit, in der die Menschen wieder nach kultureller Identität, Heimat und
Zusammenhalt fragen, ist der leichtfertige Umgang mit der Staatsbürgerschaft
falsch.“
Fragen die
Menschen wirklich wieder nach kultureller Identität, Heimat und Zusammenhalt?
Und wenn ja, warum?! Die Deutschen gehen wie Jahre und Jahrzehnte zuvor auf
Weihnachtsmärkte, die in keiner einzigen deutschen Stadt in
„Jahresabschlussmärkte“ umbenannt wurden. Ob Christ/-in oder nicht, gefühlt hat
jede/-r zweite Facebook-Nutzer/-in mindestens ein kitschiges Foto gepostet, auf
dem irgendwelche Weihnachtsaccessoires zu sehen sind. Die Deutschen sind
Weltmeister und haben im Sommer eine riesige Party in Schwarz-Rot-Gold auf den
Straßen gefeiert. Deutschland ist seit November offiziell das beliebteste Land der
Welt. Natürlich geht es in diesem Land auch einigen Menschen ziemlich sche*ße,
aber alles in allem haben wir eine souveräne Grundlage, auf die wir aufbauen
können. Wieso um alles in der Welt sucht der/die durchschnittliche Deutsche
plötzlich nach mehr Identität, mehr Heimat, mehr Zusammenhalt? Ist das, was wir
haben, nicht schon eine ganze Menge?
Vielleicht
stellt sich heute gar nicht die Frage, wie viel „Fremdes“ eine Gesellschaft
verträgt, sondern wie viel „Nation“ eine Gesellschaft ertragen kann, bevor es
zu bleibende Schäden kommt. Doch in unseren Tagen gehen immer mehr „besorgte
Deutsche“, die angeblich der „bürgerlichen Mitte“ entstammen, auf die Straße
und vertreten Thesen wie „Für mich ist es völlig unerheblich, ob es denHolocaust gegeben hat. Das ist 70 Jahre her!“ – Zur Erinnerung: Im März 1933
wurde die NSDAP von 43,9% des Volkes demokratisch an die Macht gewählt. Damals
waren (nur) etwas mehr als 9% der Bevölkerung arbeitslos. Dies offenbart, was
oft übersehen wird: Hitlers Wahlsieg wurde von großen Teilen der „bürgerlichen
Mitte“ getragen. – Vielleicht ist das auch der Grund, wieso uns unser deutsches
Schulsystem und die von Pegida & Co. als „Lügenpresse“ bezeichneten Medien
zu Recht immer wieder daran erinnern, was zwischen 1933 und 1945 passiert ist.
Freitag, 12. Dezember 2014
"Sie sind überall!" - Faktencheck und nachdenkliches Kopfschütteln
Der Spiegel macht den Faktencheck
zu Behauptungen der Pegida
(„Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“), widerlegt
falsche Behauptungen und uralte Ressentiments. Sogar GMX fragt: „Was
ist dran an den Vorurteilen?“ So stellt man sich den neuen alten Ängsten
derjenigen, die von sich selbst behaupten, aus der Mitte der Gesellschaft zu
kommen. Die Zeitungen und Magazine schreiben angestrengt gegen jene Kräfte an,
die in Dresden kürzlich 19.000 „besorgte Bürger“ mobilisieren konnten, um gegen
die „Islamisierung des Abendlandes“ zu demonstrieren. Zumindest versuchen sie
es.
Doch wo schreiben hoffnungslos
erscheint, muss man fragen: Was treibt diese Menschen an? Woher kommt die Angst
– und wie kann man ihr begegnen?
Die immer gleichen Vorurteile
Die gängigsten Vorurteile und
Behauptungen lassen sich mittlerweile sogar mit Statistiken und in Stein
gemeißelten Zahlen widerlegen. Dass Zuwanderung den fleißigen Deutschen nur
Geld kosten würde, hat eine Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische
Wirtschaftsforschung (ZEW) als falsch erwiesen: Die 6,6 Millionen Menschen ohne
deutschen Pass haben im Jahr 2012 für einen Überschuss von rund 22 Milliarden
Euro gesorgt. Jeder Ausländer und jede Ausländerin zahlt pro Jahr etwa 3.300
Euro mehr Steuern und Sozialabgaben, als er oder sie an staatlichen Leistungen
erhält.
Nun gut, aber kriminell ist
der Ausländer an und für sich ja doch, oder? Wieder falsch. Die polizeiliche
Kriminalstatistik (ebenfalls 2012) offenbart, dass nur jeder vierte Tatverdächtige
keinen deutschen Pass hat – darin inbegriffen Touristen und aus dem Ausland
agierende Banden.
Das älteste aller Vorurteile müsste
heutzutage eigentlich gar nicht mehr thematisiert werden, gäbe es nicht einige Hetzer
und ihre ungebildeten Fußsoldaten, die immer noch an das Märchen von der
weggenommenen Arbeit glauben: Ausländer nehmen den fleißigen Deutschen die
Arbeitsplätze weg. – Die Zahlen sprechen auch hier eine andere Sprache, der
Mangel an Fachkräften und die Vielzahl unbesetzter Lehrstellen in vielen Regionen
Deutschlands untermauern die Statistik. Währenddessen arbeiten studierte Iraner
mitunter als Taxifahrer in Köln oder München, weil ihre Abschlüsse nicht
anerkannt werden.
Aber wenn wir ehrlich sind,
hat „der Ausländer“ immer nur die Drecksarbeit gemacht – und wurde genauso
behandelt wie das, was er wegputzen musste. Wer sich an die Achtziger und Günter
Wallraffs „Ganz unten“ (1985)
nicht mehr erinnern kann, der sei an dieser Stelle auf die entsprechenden Links
verwiesen.
„Sie sind überall“
Wer mit dem Jargon der
extremen Rechten vertraut ist, dem muss jedes Mal ein Schauer über den Rücken laufen,
wenn er Stimmen aus der Mitte der Gesellschaft mit dem Begriff „Überfremdung“ jonglieren
hört. Was bitte soll man darunter verstehen? Von Überfremdung singen „national
gesinnte“ Liedermacher mit weinerlicher Stimme, gegen die Überfremdung schreien
neubraune Führer in Bierzelten auf NPD-Kinderfesten an – aber in der
bürgerlichen Mitte hat diese Sprache nichts verloren, nicht zuletzt weil die
Aussage, die dahinter steht, grober Unfug ist. Wenn sich ein ganzes Land fremd
wird, dann hat es größere Probleme als die Zuwanderung.
Die Diskussion um Zuwanderung,
Integration und Migranten hält mittlerweile schon zu viele Jahre an, ohne wirklich
Ergebnisse zu liefern. Bei den zuvor genannten Vorurteilen und den
dazugehörigen Diskussionen am sprichwörtlichen Stammtisch geht es in
Wirklichkeit nicht um Tatsachen – auch nicht beim Thema Muslime. Es geht um
subjektives Empfinden. Denn Fakt ist: Muslime machen in Deutschlands gerade
einmal um die 5 Prozent der Bevölkerung aus. Eine verschwindend kleine
Minderheit, vor der das deutsche Abendland eigentlich keine Angst zu haben braucht.
Doch fragt man jenen Teil der Bevölkerung, der Angst vor „dem Islam“ hat, so
wird der Anteil der Muslime um ein Vielfaches höher eingeschätzt. Dieses
Phänomen gibt es nicht nur in Deutschland, sondern überall, wo Einwanderer
ankommen und sich ins alltägliche Stadtbild integrieren. So wird z.B. auch in
Großbritannien der prozentuale Anteil von Muslimen und Ausländern zu hoch
eingeschätzt.
Die Angst vor dem Fremden hat
die Tendenz, sich bisweilen in eine unkontrollierbare Hysterie zu steigern. Doch
wie kommt man gegen die neue Bewegung der Angstbürger an? Scheinbar nicht mit
Zahlen und Fakten, denn die Anhänger dieser selbsternannten Bürgerbewegungen glauben
nur der eigenen Statistik: Sie sehen einige überwiegend von Arabern bevölkerte
Stadtteile, eine größtenteils von fremdländisch aussehenden Kindern besuchte
Schule, ein morgenländisches Gebetshaus und können es angesichts dessen nicht
ertragen, dass in ihrer Heimat auch andere Menschen heimisch geworden sind.
Die Angst vor dem Unbekannten
– oder noch schlimmer: vor dem aus politically
incorrecten Gruselmärchen schon bekannt Erscheinenden – ist es, die neuerdings
Massen auf die Straße bringen kann. Seit dem Elften September ist das Kopftuch,
das unsere deutschen Großmütter vor vierzig oder fünfzig Jahren noch wie
selbstverständlich trugen, zu einem Symbol der „Überfremdung“ geworden. Die
Debatte über entweder unterdrückte oder fundamentalistische „Kopftuchmädchen“,
die in Wirklichkeit doch eigentlich nur ihren Glauben leben und in Ruhe
gelassen werden wollen, scheint erst jetzt abzuflauen, da man endlich ein
handfestes, brandgefährliches und noch bedrohlicheres Beispiel für die
Schattenseiten der islamischen Kultur gefunden hat: Während Terroristen und
Theokraten im Nahen Osten ein Kalifat des Schreckens zu errichten versuchen, fühlen
sich die rechten Hetzer und Breivik-Anhänger in der Echtheit des Konstrukts,
das sie „Islamisierung des christlich-jüdischen Abendlandes“ nennen, bestärkt.
Willkommenskultur – Auffanglagerkultur
Ressentiments gegen Ausländer
und Zuwanderungskritik gibt es seit der ersten Stunde deutscher Einwanderungsgeschichte.
Bis zum heutigen Tag hat sich die Stimmung zu einem neuen Höhepunkt seit den
1990er Jahren hochgeschaukelt, doch der Grund ist nicht etwa die aggressive
Missionierungskultur rheinländischer Salafisten. Entscheidend ist vielmehr die
Tatsache, dass immer mehr Menschen – und darunter auch viele Flüchtlinge aus
arabischen Ländern – in Deutschland Schutz vor Krieg, Vergewaltigung und Mord
suchen. Denn mehr noch als das geliebte Vaterland lieben der und die Deutsche das
Geld, das im Namen der deutschen Allgemeinheit ausgegeben wird. Und da kommt es
vielen gerade Recht, wenn ihnen jemand erzählt, dass hunderttausende
Asylbewerber_innen in Deutschland wie Gott in Frankreich leben. Bei Pegida-Demonstrationen
wetterte der Initiator Lutz Bachmann gegen „Heime mit Vollversorgung“ für
Flüchtlinge, während sich die deutschen Alten „manchmal noch nicht mal ein
Stück Stollen leisten können zu Weihnachten“. Wie groß muss der Hass eines
Volkes sein, wenn es seine Alten in miserable Heime steckt und dann
Bürgerkriegsflüchtlinge zu Schuldigen erklärt?
Die ZEIT (04.12.2014, Nr. 50)
berichtet über die aktuellen Zustände in vielen Lagern. Es wird auch der Kinderarzt
Andreas Schultz zitiert, der in einem Asylbewerberheim in München Kinder
behandelt.
Manchmal, sagt Schultz, erinnere ihn München an
den Sudan. […] An die hundert Kinder wohnen in der Notunterkunft, viele von
ihnen seien krank, sagt Schultz. Er hört ihren Brustkorb ab, untersucht ihre
Ohren und Atemwege. Er erzählt von Kindern, die eitrige Mandeln haben, weil sie
seit Tagen im Zelt schlafen. Von Jungen und Mädchen, die apathisch an die Decke
starren, weil es kein Spielzeug gibt. Von Jugendlichen, die nachts vor Kummer
schreien und tagsüber Bilder mit blutüberströmten Menschen malen. Von Babys,
die Durchfall bekommen, weil sie das Essen im Heim nicht vertragen. „Die
Kleinen bräuchten Brei“, sagt Schultz. „Stattdessen setzt man ihnen Hackfleisch
vor.“
Vollverpflegung sieht anders
aus. Das interessiert Leute wie Pegida-Bachmann aber nicht. Dabei geht es hier
nicht einmal um Zuwanderung an sich, denn Asylbewerber sind zunächst einmal
Schutzsuchende. (Oft wird dies auf beiden Seiten missverstanden: Asylgegner
argumentieren, das Boot sei voll. Deutschland könne nicht noch mehr Menschen
durchfüttern. Asylbefürworter argumentieren dagegen beim Thema Asyl, Deutschland
bräuchte doch Zuwanderung, allein schon um die Wirtschaft am Laufen zu halten.)
Doch Flüchtlinge in Deutschland wollen in
allererster Linie als Menschen behandelt werden und nicht als Zahlen, Nummern
und Objekte. Sie wollen ein Leben in Würde führen. Ein Recht, das ihnen das
Grundgesetz eigentlich zugesteht.
Dabei sind die meisten
Deutschen gastfreundlich – nur eben nicht im eigenen Wohngebiet:
Im wohlhabenden Hamburger Stadtteil
Harvestehude wird seit Oktober um ein Asylbewerberheim gestritten. Einige
Nachbarn sind gegen das Heim vor Gericht gezogen, sie sagen, sie hätten Angst
vor „Kinderlärm“. Harvestehude ist kein kinderfeindlicher Ort. Es gibt „Wohlfühlkindergärten“
mit Biofrühstück und Kinderyogakursen, es gibt Kochschulen für Zwölfjährige und
Kieferorthopäden speziell für Kinder. In manchen Flüchtlingsheimen gibt es
nicht einmal Zahnbürsten. In Würzburg zum Beispiel werden Zahnbürsten nur an
Asylbewerber verteilt, die älter als zwölf Jahre sind. Deutsche Kinder bekommen
Zahnputzkurse, sie haben kaum noch Karies. Viele Flüchtlingskinder kann man an
ihren schlechten Zähnen erkennen, sie sind oft braun und morsch. Wenn ein
deutsches Kind Karies hat, bohrt man ein Loch und füllt den Zahn. wenn ein Flüchtlingskind
Karies hat, wartet man, bis der Zahn verrottet ist, so will es das deutsche
Gesetz.
Das ist eigentlich zum
Heulen. Menschen leben in Baracken, bekommen nicht einmal Hartz-IV und
alleinstehende Männer versuchen häufiger als der umliegende deutsche
Durchschnitt, sich selbst das Leben zu nehmen. Doch der Mainstream will in den
Zeitungen lieber von ungerechtfertigter Vollverpflegung oder Drogenrazzien
lesen.
„Ich bin autochthoner Deutscher.“ – „Ist das
heilbar?“
„Bürgerbewegungen“ wie die
Pegida und viele andere sprechen das offen aus, was (zu) viele Deutsche mittlerweile
oder noch immer denken. Sie vertreten ein unvertretbares Deutschlandbild, in dem
unterschieden wird zwischen Einheimischen und „Gästen“, die oft seit
Generationen ihre Steuern in Deutschland zahlen, nie wirklich wie Gäste
aufgenommen wurden und auch so schnell wie möglich wieder verschwinden sollen. Sie
werfen diesen Gästen vor, undankbar zu sein. Dabei sind sie es selbst, die
undankbar sind. In einem Land, das aus jeder Krise nahezu unbeschadet hervorgeht
und sich dennoch bemitleidet, haben Zuwanderer oder Flüchtlinge dennoch keinen
Platz. Im Land der Dichter und Denker denkt man immer weniger und dichtet nur
noch selten – allerdings nicht deshalb, weil Zuwanderer, Asylanten oder
Salafisten einen davon abhalten würden, sondern weil es viel komfortabler ist, erst
einmal einen Schuldigen für ein aktuelles Schlamassel zu suchen. Doch
vielleicht ist es die Art des (und der) Deutschen an sich: Wir haben schon mit
uns selbst ein Problem, da brauchen wir nicht noch Andere, mit denen wir mehr
Probleme haben können.
Doch wann fangen wir endlich
an, uns um die wirklichen Probleme zu
kümmern – gemeinsam?
Samstag, 8. November 2014
Makel der Einheit - Kritik an einem Erfolgsmodell
Ich wollte diesen Artikel
schon lange schreiben, doch nie ergab sich der finale Motivationsschub oder gar
die Notwendigkeit. Vielleicht ist er auch etwas provokant, was durchaus etwas Gutes
sein kann. Angesichts des 25. Jahrestages des Mauerfalls scheint mir nun jedenfalls
die passende Zeit dazu gekommen. An so einem denkwürdigen Tag neigen die Großen
der Politik nämlich zu überschwänglichen Reden und vor allem dazu, sich selbst
für etwas zu feiern, das auch nur deshalb so gut und makellos scheint, weil
sich niemand das Gegenteil für möglich zu halten erdreistet. Denn was ist die
deutsche Einheit? Und wieso neigt der politische Duktus dazu, sie als
Erfolgsmodell zu verkaufen? Doch eins nach dem anderen.
Was ist Einheit. Nirgendwo
ist die deutsche Un-Einheit so sichtbar wie auf der demografischen Landkarte,
wo sich die Grenzen zwischen den beiden Staaten von damals noch heute abzeichnen.
Helmut Kohl hatte vor zwei Jahrzehnten blühende Landschaften versprochen und ein
Vierteljahrhundert später haben wir diese blühenden Landschaften tatsächlich:
Nirgendwo ist der demografische Wandel deutlicher zu sehen als in der
ostdeutschen Provinz, wo es seit einigen Jahren wieder Wolfsrudel gibt, wo Kleinstädte
langsam aussterben und wo der Mensch wieder der Natur das Feld zu überlassen
scheint. Zwar hat Dortmund vor kurzem Leipzig als „Armutshauptstadt“ der
Republik abgelöst – was man vielleicht als innerdeutsche Annäherung bezeichnen
könnte –, doch das Bild ist immer noch verheerend: Stellt man Ost und West in den
direkten Vergleich, so sind in den neuen Bundesländern die Arbeitslosenzahlen höher,
die Menschen älter, die Neugeborenen weniger und die Perspektivlosigkeit größer.
Auch wenn bereits eine ganze Generation kein geteiltes Deutschland mehr kennt –
die Teilung auf der statistischen Karte kann schwerlich ignoriert werden. Angesichts
dieser Tatsache drängt sich nahezu die Vermutung auf: Es müssen Fehler gemacht
worden sein.
Und Fehler wurden eine ganze
Menge gemacht im Zuge der Wiedervereinigung. Das Grundgesetz sah ursprünglich
zum Beispiel vor, dass als Folge der Einheit eine gemeinsame deutsche
Verfassung per Volksabstimmung angenommen werden sollte. Doch Helmut Kohl und
die CDU befürchteten, dass sozialistische Elemente Eingang in die Struktur der
Bundesrepublik finden könnten – und schoben das Thema so lange auf, bis es
vergessen und irrelevant geworden war. Sowohl der Koalitionspartner FDP als
auch SPD und Grüne forderten eine Verfassungsdebatte, aber der entscheidende
Artikel des Grundgesetzes wurde dennoch übergangen (beziehungsweise
uminterpretiert). Das GG wurde Verfassung. Und Günter Grass äußerte sich noch
1998 über die auf diese Weise verpassten Chancen: „[Eine neue Verfassung]
schafft zwar keine Arbeitsplätze, [sie] hilft uns auch ökologisch kein Stück
weiter, aber die damit verbundene Verfassungsdiskussion, die natürlich von
allen Gruppen der Gesellschaft getragen werden müsste, wäre eine nachzuholende
Chance, die Deutschen in Ost und West wieder in grundsätzlichen Sachen ins
Gespräch miteinander zu bringen.“ – Eine verpasste Chance, die man kreativ
hätte nutzen können und wie man sie in der Gunst der Stunde schlicht hätte
ergreifen müssen, denn die Bereitschaft zu neuen, gemeinsamen Veränderungen war
durchaus da.
Die Frage der deutschen
Verfassung ist nach 25 Jahren wohl tatsächlich unbedeutend geworden. Sie hat in
einem vom Nationalstaat gelösten, europäischen Bewusstsein an Stellenwert und
auch an Relevanz verloren. Es sind deshalb vielmehr die wirtschaftlichen
Aspekte der Wende, die bis heute ihre Wirkung zeigen. Denn anstatt einer Verfassungsdiskussion
bekamen die Ostdeutschen das, was sie neben politischer Teilhabe noch viel mehr
begehrten: Mit der D-Mark kam die persönliche Freiheit – und vor allem neue
Kaufkraft. Mit den neuen Einkaufsmöglichkeiten verschwand dann alsbald auch das
Verlangen nach politischer Partizipation. Doch hier wird auf traurige Weise
deutlich: Nicht Westen und Osten haben sich vereinigt, sondern Ost wurde von
West aufgekauft. Alles Bestehende – ob schlecht oder gut – wurde ausradiert und
ersetzt. Die Treuhandanstalt (THA), eine „bundesunmittelbare Anstalt des
öffentlichen Rechts“, schlachtete ostdeutsche Betriebe der Reihe nach aus,
einen nach dem anderen. Angeschlagene Westfirmen kauften mit ihrer Hilfe teilweise
makellos arbeitende Werke im Osten und strichen staatliche Subventionen ein,
mit denen sie zuhause die gefährdeten Arbeitsplätze sicherten. Gleichzeitig
schalteten sie effektiv die mögliche Konkurrenz auf dem nunmehr gemeinsamen Markt
aus. Millionen von D-Mark versickerten in zweifelhaften Kanälen, während viele
Firmen im Osten zunächst günstig aufgekauft und schließlich aufgelöst wurden. Tausende
Menschen in der ehemaligen DDR fielen aus diesem Grund der Arbeitslosigkeit zum
Opfer und – abstrakt gesprochen – dem unbarmherzigen Kapitalismus, den sie
eigentlich begrüßt hatten. Die Talfahrt ging noch weiter: Ungeklärte
Eigentumsverhältnisse führten dazu, dass Familien sich ihre Wohnungen nicht
mehr leisten konnten. Noch heute gibt es in ostdeutschen Großstädten ganze Stadtteile,
in denen dutzende von Mehrfamilienhäusern leer stehen und dem Verfall ins Auge
blicken. – Unterdessen hatte man auf westdeutscher Seite im Grunde nur Arroganz
übrig für die neuen Mitbürger. Das System der Bundesrepublik hatte sich in der
Vergangenheit bewährt, es lief und läuft bis heute – ein Modell, das seine
eigenen Makel durch die Vielzahl seiner Vorzüge übertüncht und den Regierten
das Regiertwerden annehmlicher macht. Und so stülpte man einer Gesellschaft,
die neben all den heute oft betonten Mängeln, Ungerechtigkeiten und Verbrechen
auch 40 Jahre lang eine eigene Daseinsberechtigung entwickelt hatte, einfach
ein neues (altes) Modell über – auf allen Ebenen. Dabei wurde die gesamte ostdeutsche
Kultur zusammen mit dem SED-Regime in einen Sack gesteckt und im Mülleimer der
Geschichte entsorgt. Journalisten bekamen keinen Arbeitsplatz, sogar normale
Schriftsteller hatten es in den ersten Jahren schwer, in einer neuen Welt Gehör
zu finden. Fußballvereine aus dem Westen kauften den DDR-Mannschaften die
Spieler weg; bis heute spielt nur selten eine Ost-Mannschaft in der Bundesliga.
NVA-Generäle dürfen den Namenszusatz „a. D.“ nicht tragen – eine Ehre, die nicht
einmal ehemaligen Wehrmachtsoffizieren im westlichen Nachkriegsdeutschland versagt
war.
Diese Tatsachen, die man sich
angesichts der in diesen Tagen gefeierten schillernden Facetten der deutschen „Erfolgsstory
Wiedervereinigung“ gar nicht zu erwähnen traut, könnten durchaus als
Ungerechtigkeit bezeichnet werden. Doch die Missachtung eines Artikels des
Grundgesetzes, die Abwicklung eines Systems mitsamt seiner Menschen und die
Entsorgung einer Gesellschaft – an alledem kann man heute nicht viel mehr
ändern als sich einfach einzugestehen, dass der Anfang der gesamtdeutschen
Geschichte nicht ganz gerecht vollzogen worden ist. Als ersten von zwei wichtigen
und großen Fehlern der Einheit sollte man vielmehr anerkennen, dass Millionen
von nach Veränderung strebende Menschen einfach in ein neues, nur aus dem
Westfernsehen bekanntes System gesetzt wurden, ihre Wünsche und Erwartungen hingegen
wurden oft übergangen. Die Folgen kommen heute in Form der tiefsitzenden
Politikverdrossenheit ans Tageslicht, die sich in Sachsen und Thüringen in
Gestalt einer schockierend niedrigen Wahlbeteiligung niederschlägt. Eigentlich
gehört zum Gedenken an die Widervereinigung mehr Tadel als Lob: Man hat den
Menschen den Willen zur Demokratie madig gemacht. Die Bürgerinnen und Bürger
der DDR bekamen 1990 einen neuen Pass und wurden zwischen den vollen Regalen
der Supermärkte stehen gelassen. Dabei waren sie es doch, die damals den Anfang
machten. Der SPD-Politiker Egon Bahr, der unter Willy Brandt die bundesdeutsche
Ost-Politik nach dem Gedanken Wandel
durch Annäherung entscheidend gestaltete, bekannte sieben Jahre nach der Wiedervereinigung:
„Wir verdanken […] den DDR-Bewohnern die Einheit. Das ganze deutsche Volk hat
nach Westen geguckt. Die Westdeutschen haben nach Westen geguckt, und die
Ostdeutschen haben auch nach Westen geguckt. Die Ostdeutschen wollten die Einheit.
Die Westdeutschen wollten die Einheit gar nicht. Niemand hat gedrängt.“ So kam
es auch, dass man sich für die neuen Bürgerinnen und Bürger nicht einmal genug interessierte,
um ihnen zu erklären, wie „Deutschland“ eigentlich funktioniert. Dass man mit
dem Begriff „Solidarität“ hierzulande nichts anfangen kann, dass hier jeder für
sich selbst verantwortlich ist und dass sogar das Selbstverständnis von „Deutschland“
im Westen eben ein anderes ist. Vielleicht hätte man der breiten Masse auch
erklären müssen, dass Deutschland schon lange multikulturell ist. Und dass
diese Tatsache nicht negativ sein muss. Die Ignoranz, die man von westdeutscher
Seite den Erwartungen der Ostdeutschen – und dazu gehörte auch ein gewisser
unter der Oberfläche brodelnder und von der SED-Führung verleugneter
Nationalismus – entgegenbrachte, ist einer der Gründe für die Mischung aus orientierungsloser
Unsicherheit, Enttäuschung und Hass, die tausende Menschen zum Beispiel in
Rostock-Lichtenhagen dazu trieb, in einer pogromähnlichen Jagd ein Wohnheim für
vietnamesische Asylbewerber anzugreifen. Naive Arglosigkeit und beschämendes Desinteresse
von westdeutscher Seite könnten indirekt auch förderlich gewesen sein für den
Nährboden, auf dem Jahre später Unkraut wie der NSU gedieh.
Der zweite der zwei großen
Fehler, die im Zuge der Einheit begangen wurden, ist der fehlende Wille, sich in
Konfrontation mit einem anderen System auch mit dem eigenen
auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt durch die pauschale Ablehnung alles Ostdeutschen
war man unfähig, von den neuen Bundesbürgern zu lernen und zu profitieren – vor
allem von deren Erfahrungen, die ja andere waren als im Westen, aber auch von den
(aktuellen) Errungenschaften. Die aktuellste der ostdeutschen Tugenden war der
Wille zur Teilhabe an der gelebten Demokratie. Im Osten herrschte eine Aufbruchsstimmung,
die den Westdeutschen eher fremd war. Während die Freiheitshungrigen begannen,
sich auf dem Boden der sterbenden DDR in neuen politischen Gruppierungen zu
organisieren und an Runden Tischen zusammenzukommen, scheint der Westen verglichen
zur neuen ostdeutschen Dynamik überfordert und ihr gegenüber gleichgültig
gewesen zu sein. Es lässt sich also zusammenfassend sagen: Das größte
Versäumnis der Wende ist wohl das Unvermögen von Politik und Gesellschaft, die
dynamische Bewegung im demokratisierten Ostdeutschland in die verkrusteten
westdeutschen Strukturen hineinzutragen. Diese neue Dynamik hätte den Mächtigen
wahrscheinlich sogar gefährlich werden können. Das an vielen Enden krankende System
hat sich selbst geschützt, indem es aller anfänglicher Euphorie einen Dämpfer
vorsetzte und die Bevölkerung schnell wieder an die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten
erinnerte. Doch als Trost wird bis heute jenes Minimum an Errungenschaften, das
aus gemeinsamer Regierung, Währung, Fußballmannschaft und bundesdeutscher
Routine besteht, als erfolgreich vollzogene Einheit gefeiert – in einem
derartigen Pomp und Glanz, dass die begangenen Fehler, Versäumnisse und
verpassten Chancen genau dieser Einheit in den Schatten gestellt werden und
ihre Berechtigung, erwähnt zu werden, verlieren. Zurück bleiben jene, die
damals mehr verändern wollten als sie letztlich imstande waren und sich mit der
breiten Masse in die Politikverdrossenheit zurückgezogen haben.
Doch das ist nur (m)eine
Lesart. Natürlich ist der 9. November 2014 ein Tag zum Feiern. Vielleicht ist
es aber nicht die Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit, die wir mit
Champagner begießen sollten, sondern lediglich jener erste Schritt, der 1989
getan wurde, und auf den zu viele Schritte schlussendlich nicht mehr folgten
und auch nie mehr folgen werden. Wir sollten den heutigen Tag zum Anlass
nehmen, uns der doch so nötigen, aber in Vergessenheit geratenen Dynamik der
Ostdeutschen zu erinnern – auch im europäischen Kontext. Denn Europa ist nicht
geeint. Europa ist nicht einmal gerecht. Europa gleicht vielmehr einer riesigen
bürokratischen Baustelle mit perspektivlosen jungen Menschen im Süden, stolzen Verweigerern
auf den Britischen Inseln und ertrinkenden Bürgerkriegsflüchtlingen an den
Außengrenzen. Männer und Frauen auf der Flucht, die vor Hunger nach
persönlicher Freiheit und aus Sehnsucht nach einem besseren Leben genau dieses
verlieren. Wird in 25 Jahren irgendjemand auch diesen Menschen so gedenken, wie
man es heute für die Mauertoten in Berlin tut? Auch Europa hat dichte Grenzen. Demokratie
ist nur ein Wort, solang man sie nicht lebt. Viel weniger noch als ein Wort.
Ein Schein, eine Farce.
Heute wollen wir niemandem die Feierstunde verderben. Aber vielleicht fangen wir morgen endlich an, uns diese Gedanken zu machen. In diese Sinne: Happy Mauerfall...!
Heute wollen wir niemandem die Feierstunde verderben. Aber vielleicht fangen wir morgen endlich an, uns diese Gedanken zu machen. In diese Sinne: Happy Mauerfall...!
Freitag, 5. September 2014
Kriegspostkarten
Vor hundert Jahren begann der
Erste Weltkrieg. Ich habe in meiner Antiquitätensammlung gestöbert und bin auf
eine interessante Postkarte gestoßen. Sie stammt aus dem Jahre 1915 und wurde
von einem jungen Soldaten an der russischen Front in die unterfränkische Heimat
geschickt. Die Bildseite zeigt zwei Motive: Deutsche Soldaten, die mit
abgenommenem Helm und abgestellten Gewehren andächtig zum Gebet verharren. Ein
Gebet voll „Donner des Todes“ und geöffneten Adern. Die Szene der betenden
Männer steht im Gegensatz zu dem zweiten Teil des Bildes: Vorrückende Preußen,
die Bajonette auf ihre Gewehre aufgepflanzt. Zwei Armeen stehen sich gegenüber,
ein flaggentragender Franzose greift sich mit der Hand ans Herz, getroffen von
einer deutschen Kugel.
Der Erste Weltkrieg war nur
der Anfang einer katastrophalen Entwicklung, die das 20. Jahrhundert schon in
seinen ersten 45 Jahren zu einem blutigen Säkulum werden lassen sollte. Können
wir heute noch nachvollziehen, wie sich Deutsche und Franzosen so entschieden entgegentreten
konnten, voller Begeisterung und kampfentschlossen bis in den Tod? Vor hundert
Jahren zogen die Massen jubelnd in die Schlachten, Rudel frischer Abiturienten
warfen ihre Hüte vor Freude über die neue Herausforderung „Krieg“ in die Luft.
Diese Karte aus meiner Sammlung ist ein anschauliches Beispiel. Eindrücklich
ist der Text, den ein gewisser Joseph an seine Cousine Elise schrieb:
Liebe Elise! Hat Wilhelm Euch schon besucht? Wie
sieht er nur aus? Ist seine Wunde gut geheilt? Schade für den armen Kerl, dass
er nicht mehr mit spielen kann. Es wird alle Tage interessanter. Die
herzlichsten Grüsse an Deine lieben Eltern. Gruss Joseph.
Der Krieg, ein Spiel? Wie
groß muss die Begeisterung bei diesem Joseph, einem deutschen Frontsoldaten, im
April 1915 gewesen sein? Krieg ist nur dann, wenn alle hingehen und mitmachen.
Und vor hundert Jahren waren die Völker geradezu erpicht darauf, an diesem
großen „Spiel“ teilzunehmen.
Das erste große Schlachten
des 20. Jahrhunderts forderte knapp 17 Millionen Opfer. Die Nationen lernten
kaum etwas dazu. Es dauerte kaum mehr als zwanzig Jahre, bis die nächste – noch
größere – Katastrophe ihre Opfer forderte.
Und das Schlimme ist, dass es
Kriege auch heute noch gibt. Sie sind etwas Menschliches – und unmenschlich
zugleich. Doch Menschen finden immer wieder neue Begründungen, um ihre Macht zu
demonstrieren, und neue gerechte Verkleidungen, in die sie das Unrecht des
Krieges hüllen. Wo stehen wir heute, hundert Jahre nach Kriegsbeginn? Das Jahr
2014 scheint leider ein besonders blutiges Jahr zu werden. Warum?
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