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Mittwoch, 10. Februar 2016

Racial Profiling an Karneval (Kommentar)

„Die Kölner Polizei hat an ‪Karneval wieder reichlich zu tun“, meldet der WDR. Die Polizei sei diesmal sehr konsequent eingeschritten, von 1.100 Einsätzen ist die Rede – das sind 200 mehr als letztes Jahr. „Die Zahl der Einsätze, Platzverweise und Festnahmen ist zum Teil stark gestiegen. Der Polizeipräsident und die Oberbürgermeisterin werten aber gerade das als Erfolg.“ – Natürlich finde ich es gut, dass man die Fehler von Silvester an Karneval verhindern wollte und auch verhindert hat. Wenn man allerdings als kleine Gruppe jordanischer Austauschstudenten auf der Fahrt von Aachen nach Hamm eine halbe Stunde Aufenthalt in ‪‎Köln hat und einen Abstecher zum Dom wagt, dann kann es schnell passieren, dass man von der Polizei mit anderen Arabern, Türken und Afrikanern zusammengetrieben und kontrolliert wird. Es habe Beschwerden über arabisch aussehende Männer in dieser Gegend gegeben, heißt es dann. Austauschstudenten werden zwar ganz vorne in der Reihe platziert, aber dennoch werden alle ihre Personalien aufgenommen, sie werden von der Polizei nummeriert und sogar fotografiert. Die Handys werden untersucht und nebenbei erfasst man auch alle für eine Handy-Ortung notwendigen Daten. Dann darf man gehen – mit der Belehrung, dass man direkt ins Gefängnis wandern würde, sollte man Köln nicht innerhalb der nächsten halben Stunde verlassen haben. Die Kontrolle selbst kostet die Studenten 40 Minuten, einige Beamte sind freundlich, andere unheimlich respektlos. Deutsche Passanten, obgleich teilweise stark alkoholisiert, bleiben von den Kontrollen verschont, einer pinkelt sogar vor den Augen der Polizisten auf die Straße. Obwohl der erfolgreiche Polizeieinsatz ausschließlich arabisch aussehenden Männern gilt, bei der Polizeidienststelle reagiert man auf kritische Nachfragen wütend, von „racial profiling“ will man hier natürlich nichts wissen. Arabische Männer als potenzielle zukünftige Straftäter vorsorglich zu erfassen – sinnvoll, gerechtfertigt, notwendig? Vielleicht. Japaner, Dänen und US-Amerikaner geraten aber wegen ihres Aussehens auch nicht in Kontrollen. Es bleibt also unschön, diskussionswürdig und zumindest zur Kenntnis zu nehmen.

Samstag, 23. Januar 2016

Solidarität - Ein vergessener Wert

Solidarität als Begriff ist bis heute zunehmend in Vergessenheit geraten. Dabei sprach Richard von Weizsäcker, der damalige Bundespräsident, schon 1986 diese Worte: „Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein.“ – Haben wir uns diesen Satz, in dem auch eine klare Aufforderung steckt, zu Herzen genommen?

Im Jahre 1986 bestimmte noch der Kalte Krieg das politische Klima in Europa und Solidarität war – mit der oben zitierten Ausnahme – vor allem im Osten ein Begriff. Die Arbeiterbewegung beschreibt sie als „Tugend der Arbeiterklasse“, in der sozialistischen DDR war Solidarität daher ein wichtiges Schlagwort. Nach der Wiedervereinigung scheint mit dem Sozialismus auch das einschlägige Vokabular verschwunden zu sein. In unseren Tagen begrenzt sich Solidarität deshalb in erster Linie auf Finanzspritzen: Bankenrettung in Griechenland, „Solidaritätszuschlag“ an Ostdeutschland – dies alles geschieht stets unter lautem Protest, die Geber suhlen sich im Selbstmitleid der angeblich Betrogenen. Dabei muss Solidarität noch viel mehr sein als Geld und finanzielle Zuwendung. Günter Grass hat einmal so etwas Ähnliches gesagt wie: „Die Werte einer Solidargemeinschaft lassen sich nicht an der Börse handeln.“ – Und er hatte Recht.

Doch was ist Solidarität eigentlich? Als die Familie meines Vaters in den 1980er Jahren aus Rumänien nach Westdeutschland übersiedelte, war Europa durch den Eisernen Vorhang geteilt. Man bezahlte mit D-Mark und es gab auch noch die gelben Telefonzellen, die heute fast gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden sind. In einer solchen Telefonzelle fand einer meiner frisch in der Bundesrepublik angekommenen Verwandten drei Mark, die dort einfach so lagen, oben über der Telefonhalterung. Jemand hatte sie dort liegen gelassen. Ob es nun eine uneigennützige Gabe für bargeldlose Anrufer war, aus einer guten Laune heraus, oder ob der unbekannte Telefonbenutzer sie einfach dort vergessen hatte –  eine winzige, nahezu unbedeutende Spende, die jedoch viel bewirkt hat: Diese kleine, stets als Akt der Solidarität interpretierte Tat ist bis heute im Gedächtnis meiner Familie geblieben, auch nach mehr als dreißig Jahren. Daraus wird deutlich, welch große Wirkung Solidarität haben kann, auch wenn sie im Kleinen beginnt. Etwas Ähnliches findet man in einigen Cafés, in denen man zwei Getränke kaufen kann, aber nur eines selbst trinkt. Bedürftige Personen können sich auf diese Weise einen heißen Drink abholen, für den eine gute Seele schon aufgekommen ist. „Nimm eins, zahl zwei“ – kein Sonderangebot in einer konsumgesteuerten Zeit, sondern der erste Schritt zu einer wärmeren Gesellschaft, deren Kraft auch frierende Obdachlose im Magen spüren können.

Doch was im Kleinen beginnt muss wachsen. Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein. Richard von Weizsäcker starb im Jahr 2015, als die Flüchtlingskrise ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte. Seit seiner Rede 1986 hat sich die Welt gewandelt. Sie ist nicht besser und nicht schlechter geworden, doch sie ist mit Sicherheit nicht solidarisch. Dass selbst die, die sich dieses Wort einst auf die Fahnen geschrieben haben, sein großes Gewicht vergessen zu haben scheinen, zeigt auch ein Blick nach Polen: Der Elektriker Lech Wałęsa hatte in den 1980ern aus einer Streikbewegung die Gewerkschaft Solidarność (dt. „Solidarität“) gegründet, die mit der Unterstützung von Intellektuellen und der Kirche einen Zusammenhalt über die Standesgrenzen hinweg schuf. Obwohl selbst aus dem Geiste des Kommunismus entsprungen, brachte diese Solidarität das ungerechte kommunistische Regime in Polen neun Jahre später zu Fall. Derselbe Lech Wałęsa, der einen Friedensnobelpreis trägt, sprach sich 2015 in erschütternder Deutlichkeit gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus. Aus seinen in einem Interview getätigten Aussagen, die einen an mehreren Stellen heftig schlucken lassen, lässt sich schließen, dass Solidarität selbst im sozialistischen Osten in erster Linie eine nationale Angelegenheit war und bis in unsere Tage eine solche geblieben ist.

Solidarität wird auch heute noch zu oft ausschließlich national begriffen, dabei sollte sie doch grenzüberschreitend sein. Sowohl Länder- und Staatsgrenzen als auch Barrieren innerhalb unserer eigenen Gesellschaft könnten durch eine Verbundenheit der Menschen auf der untersten, menschlichen Ebene überwunden werden. Denn Solidarität ist nichts, was von der Politik gesetzlich verordnet werden kann. Sie ist dennoch einer von den Werten, über die alle reden, an denen es uns aber mangelt.

Solidarität als Mutter des Mitgefühls, der Feinfühligkeit und des Respekts ist nicht nur in Notzeiten gefragt, nach Tsunamis oder Erdbeben. Feingefühl will den Verletzten, den Missbrauchten der Gesellschaft jeden Tag entgegengebracht werden. Mitgefühl und Verständnis benötigen heimatlose Flüchtlinge, genauso wie die Diskriminierten, die hierzulande noch immer leiden müssen, weil sie anders sind. Die Bedingung für ein solidarisches Miteinander ist der Respekt. Doch er fehlt so oft, wenn wir Debatten über die Köpfe derjenigen hinweg führen, die eigentlich am meisten betroffen sind und die dennoch kaum zu Wort kommen. Solidarität muss im Zentrum der Gesellschaft verwurzelt sein, doch hier verläuft jene Kluft, welche sich in diesen stürmischen Tagen immer weiter vor uns und zwischen uns auftut. Wir müssen heute dringender als irgendwann zuvor im kleinen Rahmen wieder lernen, was wir im Großen umsetzen sollten: Das „Wir“ entdecken, ohne das „Andere“ auszustoßen. Das Boot, in dem wir alle sitzen, beginnt nur dann zu sinken, wenn wir uns gegenseitig zerfleischen. Solidarität ist keine harte Arbeit und sie muss auch nicht teuer sein. Sie ist eine Frage des Willens und des Loslassens all der Einwände, die uns und anderen noch das Leben schwer machen. Und sie ist für jede Gesellschaft überlebenswichtig.

Samstag, 21. November 2015

Deutschland und die Einwanderung (Fundstück)

Ich bin auf einen sehr interessanten Text gestoßen, der im Hinblick auf die Einwanderung der türkischen Minderheit ganz gut erklärt, weshalb Deutschland beim Thema Migration und Integration anderen Ländern hinterherhinkt. Der Text stammt aus einem Länderporträt von Jürgen Gottschlich über die Türkei, doch im Kontext aktueller Diskussionen, die seit Jahren anhalten und heute aktueller denn je sind, lohnt sich die Lektüre einiger Auszüge:

[…] Die sogenannten Gastarbeiter der ersten Stunde erzählen heute noch kopfschüttelnd, wie sich damals in den Dörfern Anatoliens das Gerücht verbreitete, in diesem fernen Deutschland könne man unendlich viel Geld verdienen.
Doch der Weg dorthin war lang und schwierig. Es gab deutsche Anwerbekommissionen, die in den größeren Städten Stationen eingerichtet hatten, in denen die Leute vorsortiert und einem ersten Gesundheitscheck unterzogen wurden. Bevor jemand das Ticket zu einer Zugfahrt nach Norden bekam, musste er sich dann zumeist noch zwei weiteren gründlichen Untersuchungen stellen, um sicher zu gehen, dass die deutschen Firmen auch nur bestes „Material“ anwarben. Fast alle berichten, dass die Ankunft in Deutschland für sie ein Schock war. Der Mangel an Verständigung, die völlig andere Umgebung und die Unterbringung in tristen Baracken, die zum Teil schon als Unterbringung für die Zwangsarbeiter im Dritten Reich gedient hatten, machten ein Ankommen in Deutschland nicht leicht. Aber die Männer – es waren ja ganz überwiegend Männer, die angeworben wurden – hatten den sozialen Zusammenhalt untereinander, und sie hatten ihren Arbeitsplatz.
Ihre Arbeit gehörte durchgängig zu den körperlich schwersten, am schlechtesten bezahlten und mit dem geringsten Prestige verbundenen Tätigkeiten, die in Deutschland zu vergeben waren. Eine besondere Ausbildung war zumeist unnötig, auch Sprachkenntnisse brauchte man bis auf einige rudimentäre Brocken nicht. Es genügt, einige Befehle zu verstehen und „jawohl, Meister“ sagen zu können. Mehr war auch gar nicht gewollt, denn das Konzept der Anwerbung von Fremdarbeitern im südlichen Europa basierte auf dem Rotationsprinzip. Die Arbeiter sollten nach ein paar Jahren, die sie quasi wie auf Montage in Deutschland verbracht hatten, wieder zurückkehren und neuen „Gastarbeitern“ Platz machen. Die Rückkehr sollte vor allem so rechtzeitig geschehen, dass die Arbeiter nicht dem deutschen Sozialsystem zur Last fielen, also krank wurden oder gar Rente beziehen wollten.
Doch das Leben hält sich oft nicht an die ausgeklügelten Pläne. Mit den Jahren begnügten sich die „Gastarbeiter“ nicht mehr mit dem monotonen Wechsel zwischen Baracke und Schichtarbeit, sondern sie begannen, ihre neuen Umgebungen zu erkunden. Zuerst die Innenstädte und Bahnhöfe, dann kamen die ersten Kontakte zu Deutschen, die über den unmittelbaren Arbeitsplatz hinausgingen. Bekanntschaften, Freundschaften, eine eigene Wohnung folgten. Manchmal wurde aus Freundschaft Liebe, und die ersten binationalen Ehen wurden geschlossen, andere begannen, ihre Frauen und Kinder nachzuholen. Obwohl schon nach wenigen Jahren klar wurde, dass aus der gedachten Rotation längst eine Einwanderung geworden war, wurde dies von der bundesdeutschen Politik schlicht ignoriert.
Das Phänomen war in allen westeuropäischen Industrienationen das Gleich, doch zwischen Deutschland auf der einen und Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden auf der anderen Seite gab es einen großen Unterschied. Dort holte man sich den Arbeitskräftenachschub aus eigenen Kolonien oder ehemaligen Kolonien. Das hatte den Vorteil, dass man sich bereits ein wenig kannte und die Leute, die kamen, in der Regel auch Englisch, Französisch oder Niederländisch sprachen. Außerdem war man aufgrund seiner imperialen Vergangenheit nicht ganz so provinziell wie in Deutschland. Die Auslandserfahrungen der meisten deutschen Männer beschränkten sich in den 50er Jahren auf die Eroberungszüge der Wehrmacht, bei den Frauen auf Bekanntschaften mit Besatzungssoldaten. Die ersten schwarzen Gis wurden bestaunt wie Zirkusattraktionen. Der Faschismus war zwar durch eine Demokratie ersetzt worden, aber die Vorstellung vom deutschen Volk als ethnischer Einheit saß und sitzt oft bis heute noch in vielen Köpfen.
Wenn heute in Deutschland die mangelnde Integrationsbereitschaft der türkischen Einwanderer beklagt wird, unterschlägt man in der Regel, dass dazu auf der anderen Seite auch die Bereitschaft bestehen muss, vormals Fremde im eigenen Land aufnehmen zu wollen. Genau damit aber taten sich die Deutschen besonders schwer. Zu den überall existierenden Schwierigkeiten mit der Integration ethnischer Minderheiten kommt in Deutschland, anders als in Großbritannien oder Frankreich, oft bis heute noch ein völkisches Element hinzu.
Mit dieser Haltung sahen sich viele türkische Familien konfrontiert, als sie aus den Wohnbaracken der Anwerberfirmen auszogen, um sich selbst einen Platz in der Gesellschaft zu suchen. […]

(Text aus Jürgen GOTTSCHLICH: Türkei – Ein Land jenseits von Klischees, Sonderausgabe für die Zentrale für politische Bildung in Deutschland, 2008, S. 79-85)

Viele dieser Feststellungen lassen einen ersten Schluss zu, dass ein Großteil der Probleme, die wir heute in Deutschland haben, nicht nur an der Einwanderung selbst liegen, sondern am Umgang der deutschen Politik mit dem Zustrom von Arbeitskräften sowie mitunter auch an den national(istisch?)en Eigenarten der Deutschen. Mehr nachdenkliche (und teils erschreckende) Fakten und persönliche Beobachtungen aus dieser Zeit hat z.B. Günter Wallraff in seinem Buch „Ganz unten“ (1985) gesammelt.

Gastarbeiter (Foto: dpa, gesehen bei Sueddeutsche Zeitung)

Sonntag, 25. Oktober 2015

No Hogesa am Sonntag (25.10.2015)

Pünktlich zum Jahrestag der berüchtigten Hogesa-Demonstration („Hooligans gegen Salafisten“) vom Oktober 2014 haben sich auch heute wieder rechte Hooligans in Köln versammelt. Die Polizei war dieses Jahr mit 3.500 Einsatzkräften zugegen und somit bestens vorbereitet. Auch logistisch war der Große Demo-Sonntag eine Meisterleistung: Hogesa war auf den Barmer Platz hinter dem Bahnhof Köln-Messe/Deutz verbannt worden, eingekesselt und im Blick der Beamten, während die größte der insgesamt sieben Gegenveranstaltungen auf der anderen Seite stattfand, vor dem Bahnhof, auf dem Otto-Platz. Beide Lager waren getrennt durch Bahnhofsgleise, Eisenbahnbrücken und eine doppelte Reihe Polizei. Auf dem Bahnhof selbst wurden die S-Bahnen phasenweise so postiert, dass möglichst wenig Sichtkontakt bestand.


Während auf der Bühne des Aktionsbündnisses Birlikte („Zusammenstehen“) noch der Soundcheck durchgeführt wurde und sich der Otto-Platz mit den ersten hundert Menschen füllte, tröpfelten die Rechten nur sehr zäh auf dem ihnen zugeteilten Gelände ein. Um kurz nach elf wurden dort ganze elf Hooligans gezählt. Doch auch die schmaler Gebauten des neuerdings salonfähigen braunen Establishments waren angereist und suchten nach dem passenden Übergang auf ihre Seite: „Malte, ich glaube wir müssen da unten durch“ – unter dem Bahnhof traf ich zum ersten Mal auf eine Gruppe von Nazi-Hipstern, von denen nur Malte das hellbraune Haar brav gescheitelt hatte und ebenso ratlos wie seine Kameraden nach dem Weg suchte. Größere Gruppen von Rechten wurden von der Polizei begleitet und an grölenden Antifas vorbeigeleitet.
Direkt aufeinander trafen Rechte und Gegendemonstranten nur am Bahnhof. Die Antifa blockierte kurze Zeit den Zugang zu einem Gleis und verursachte damit die erste aus einer Serie von Verspätungen dieses Sonntags. Unterdessen wurden anreisende Dortmunder, Paderborner und Düsseldorfer Nazis mit Sprechchören oder (vonseiten einiger Passanten) mit spontanen Stinkefingern begrüßt. Am Himmel zog der der Polizeihelikopter eine Endlosschleife und beobachtete aufmerksam das Geschehen.


Auch dieses Jahr befürchtete man umfangreiche Ausschreitungen und Gewaltausbrüche. Die Versammlung rechter Hooligans war letztes Jahr gegen Ende ziemlich ausgeartet und besonders ein Bild mit Randalierern, die ein Polizeiauto umstürzen, ging durch die Presse. Die Erwartungen der Medien waren also auch heute sehr hoch – zumindest konnte dieser Anschein durchaus entstehen: Der Focus betitelte seinen Live-Ticker schon am Morgen mit der Frage „Köln in Aufruhr: Knallt es heute bei der Hogesa-Demo?“ und lieferte ein paar Stunden später die Bestätigung: „Hogesa: 5 Verletzte in Köln – Es droht zu knallen“. Und tatsächlich kam es zu Auseinandersetzungen zwischen linken Antifa-Aktivisten und der Polizei, die auch ihren Wasserwerfer zum Einsatz brachte, und aus den Reihen der Rechtsextremen wurden die Polizisten stellenweise mit Böllern beworfen. In den ersten Zeitungsberichten (und natürlich auch im Focus-Newsticker) war deshalb von „linken und rechten Demonstranten“ zu lesen, die von der Polizei getrennt und separat zur Abreise begleitet werden mussten. Das alles kann aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass hier nicht nur rechte und linke Krawallmacher aufeinandertrafen: Vielmehr standen sich auf der einen Seite eine eher mickrige Gruppe von knapp 1.000 Mann (und Frau) von Hogesa – denen zu Beginn sogar noch zehn (nüchterne und nicht vorbestrafte) Ordner fehlten – und auf der anderen Seite über 10.000 Gegendemonstranten aus allen politischen Lagern und aus einer Vielzahl von Initiativen gegenüber. Auf dem Otto-Platz waren alle Altersklassen vertreten,  „Köln stellt sich quer“ war wieder einmal das Motto. Die Antifa und ihre Blockadeaktionen waren gewissermaßen lediglich das Sahnehäubchen auf der Torte.


Die für den Abend angemeldete Kögida-Demonstration wurde abgesagt, die einheimischen rechten Abendspaziergänger schlossen sich stattdessen den Hooligans an. Die von einigen Zeitungen prophezeite (und fast schon herbeigesehnte) Katastrophe blieb aber aus. Eine Stadt hat gezeigt, dass sie keinen Bock auf Nazis hat. Nicht mehr und nicht weniger.

Dienstag, 20. Oktober 2015

Die Dritte Intifada & das Dilemma der moralischen Überlegenheit

Vor einer ganzen Weile hat mich ein israelischer Bekannter gefragt, ob ich wirklich der Meinung wäre, Israel sei weniger aufgeschlossen, weniger open-minded als Deutschland. Ich wollte ihm damals antworten und habe viel Zeit investiert in die Formulierung meiner Gedanken, doch nach einer Weile haben sich die Ereignisse in Deutschland und auch in Israel überschlagen, sodass ich bis heute nicht dazu gekommen bin, diese Email zu schreiben. Gerade in diesen Tagen erleben wir aber wieder einen neuen Ausbruch der Gewalt im Nahen Osten, inmitten der vielen anderen Krisenherde, die seit Jahren die Nachrichten dominieren: Zwischen Mittelmeer und Jordan bahnt sich etwas an, das viele schon jetzt als Dritte Intifada bezeichnen. Die Zahlen der Toten steigen wieder, es kommt zu Angriffen und Attentaten. Menschen fallen Messerstechern und Polizeischüssen zum Opfer. Erst kürzlich erzählte mir ein Freund aus Israel, dass er mit einem flauen Gefühl im Magen von Tel Aviv mit dem Bus nach Beersheva fuhr. Dort hatte ein Palästinenser am Tag zuvor versucht, an der Central Bus Station mit Messer und Schusswaffe ein Blutbad anzurichten. Der Freund erzählte weiter, er habe sich aber besser gefühlt, als er am Busbahnhof eine große Gruppe israelischer Jugendlicher mit der Nationalflagge habe tanzen sehen. Da kam ich ins Grübeln. Was ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt, lässt mich wiederum schlucken. Denn an genau jener Stelle hatten Passanten am Tag zuvor auch einen Eritreer zu Tode geprügelt, nachdem sie ihn für einen zweiten Attentäter gehalten hatten. Die Nerven liegen blank, und vor der Kulisse einer weiteren Zeit des Terrors geht jede Menschlichkeit verloren.
Da fiel mir wieder die Email ein, die ich schreiben wollte. Ist Israel weniger open-minded als andere Länder, als Deutschland? Ich denke, man kann Gesellschaften nur schlecht vergleichen, wenn sie sich in einer komplett anderen Ausgangssituation befinden. Und doch möchte ich den meisten Israelis sagen, dass ich sie nicht mehr verstehe – wenn ich sie denn jemals auch nur ansatzweise verstanden habe. Die israelische Gesellschaft ist entweder blind, oder sie schaut weg. Eines ist sie jedenfalls nicht: Moralisch überlegen. Es ist nicht nur ein Versäumnis der Regierung, wenn sich ultraorthodoxe Juden dazu ermutigt fühlen, auf einer Gay Pride Parade in Jerusalem junge, andersdenkende und -fühlende Menschen abzustechen. Es ist auch nicht die Schuld der Regierung, wenn Polizisten einen äthiopischstämmigen IDF-Soldaten auf offener Straße misshandeln oder einen Eritreer für einen Terroristen halten, nur weil er eine dunklere Hautfarbe hat als der durchschnittliche aschkenasische israelische Jude. Die Regierung trägt zwar die Verantwortung für die seit Jahrzehnten aufrecht erhaltene Besatzung der palästinensischen Nachbarn, doch die Gesellschaft wiederum toleriert sie. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird durch diese Besatzung jedoch maßgeblich bedingt – doch die Gesellschaft sieht sie nicht einmal, solange man sie nicht mit ihr konfrontiert.

Symbol der Freiheit?

Natürlich haben Israelis in den letzten Jahrzehnten ihre eigenen persönlichen Erfahrungen mit dem Konflikt gemacht. Familien haben Väter oder Onkels in einem der zahlreichen Kriege mit den arabischen Nachbarn verloren, oder durch Scharfschützen bei der Feldarbeit in einem Kibbuz. Andere können sich daran erinnern, wie zur Zeit der Zweiten Intifada die Küchenfenster zum wiederholten Male wackelten, wenn sich der Attentäter in einem Jerusalemer Bus in die Luft gesprengt hat. Diesen Menschen macht es Mut, wenn die jugendlichen Massen am Unabhängigkeitstag bis in die Nacht in den Straßen tanzen und sich in blau-weiße Fahnen einhüllen. Für die junge Generation sind Blau und Weiß die Farben der Zuversicht, der Davidstern ein Symbol der Freiheit. Genau diese Flagge bedeutet für die unterdrückten Nachbarn jedoch etwas ganz anderes, wo immer sie über spontan vor Ortseingängen errichteten Checkpoints weht, die von einem Tag auf den anderen willkürlich entscheiden können, wer heute zur Schule oder zur Arbeit geht und wer nicht. An diesen Checkpoints stehen keine gesichtslosen Soldaten, sondern nahezu jeder israelische Mann und fast jede israelische Frau, die beide ihren Wehrdienst bei der Armee ableisten, und das meist auch vollem ganzem Herzen tun. Den Schrecken der Besatzung, an der sie teilhaben und bei der sie Zeuge alltäglicher Ungerechtigkeiten werden, versuchen sie nach zwei oder drei Jahren des Armeedienstes in Südamerika oder Indien zu vergessen, mit Marihuana und anderen Drogen aus dem Gedächtnis zu löschen. Nur eine kleine Gruppe ehemaliger Wehrdienstleistender berichtet von den Szenen in Hebron und anderen Orten, wo israelische Einheiten zu Übungszwecken die Wohnzimmer palästinensischer Familien in Kommandozentralen umfunktionieren und beim Abzug nach zwei, drei Tagen bisweilen die komplette Inneneinrichtung kaputtschlagen, oder der Familie sogar noch aufs zertrümmerte Sofa kacken. All dies ist man gezwungen, an der Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland abzulegen, denn die Gesellschaft möchte die Berichte über die eigenen moralischen Makel nicht hören. Als „Linker“ sind jene verschrien, die an der Besatzung zweifeln. Und so kommt es, dass der Konflikt nur dann die israelische Öffentlichkeit berührt, wenn perspektivlose und ideologisch vereinnahmte Palästinenser an Bushaltestellen in wartende Menschen rasen oder mit Messern um sich stechen. Die israelische Politik, die mit dem Bau von Siedlungen bestraft und durch die Aufrechterhaltung der Besatzung jede Chance auf Frieden zubetoniert, erfährt in diesen Tag noch mehr Zuspruch. Mehr als eine halbe Million oftmals extremistischer Siedler haben sich im Westjordanland niedergelassen. Dort ist in den letzten Jahren mit ihnen nicht nur eine entscheidende politische Größe herangewachsen, sondern auch eine radikalisierte Jugend, die durch benachbarte palästinensische Dörfer zieht, um Autos anzuzünden und Moscheen zu beschmieren. Und während diese Jugendlichen im besten Fall vor ein ordentliches Gericht gestellt werden, steht jeder palästinensische Steinewerfer unter israelischer Militärgerichtsbarkeit. Wie moralisch überlegen kann eine Gesellschaft sein, die es toleriert, dass in ihren Gefängnissen minderjährige Palästinenser auf unbestimmte Zeit festgehalten werden? Welche Werte vertritt ein Staat, in dessen Machtbereich ein 15jähriger Angreifer auf offener Straße verblutet, während dutzende Polizisten um ihn stehen und ein Siedler Nahaufnahmen mit seinem Handy macht, laut rufend „Stirb, Du Hurensohn“? Man könnte sich fragen, ob die israelische Öffentlichkeit tatsächlich erkennt, in welchem moralischen Dilemma sie sich hier befindet. 
Extremisten und Terroristen gibt es auf beiden Seiten, das ist nicht Gegenstand der Diskussion. Der palästinensische Terror entsteht jedoch auf dem Boden der Perspektivlosigkeit, in einem von Zäunen und Mauern und Checkpoints durchzogenen Land. Der israelische Terror auf der anderen Seite wähnt große Teile der eigenen Politik hinter sich. Er entsteht in einem Staat, der seit Jahrzehnten in jedem Konflikt Sieger geblieben ist und seit einer halben Ewigkeit eine Besatzung aufrecht erhält, durch die sowohl die eine als auch die andere Seite immer weiter abstumpft und irgendwann jedes Gefühl für ein menschliches Miteinander verlieren wird. Ein anderer Bekannter schrieb mit auf Facebook, die Atmosphäre in Israel sei dermaßen vergiftet, dass er noch nie so ernstlich über Auswanderung nachgedacht habe wie heute. Und wenn die ersten Querdenker aus einem Staat auszuwandern beginnen, der sich noch immer die "einzige Demokratie im Nahen Osten" nennt, dann kann dieser Staat nicht sehr open-minded sein.


Montag, 19. Oktober 2015

Götterdämmerung oder Faschisten im Schafspelz

Wenn im Januar wieder das Unwort des Jahres 2015 gekürt werden soll, wird man aus einer schier unübersehbaren Masse von Vokabeln eine wählen, die das aktuelle Bild unserer Gesellschaft in den Medien und im allgemeinen Sprachgebrauch auf ihre Art besonders charakterisiert hat. Wird es der „Gutmensch“ sein oder doch eher der „Asylkritiker“? Auch die „Überfremdung“ dürfte hoch im Kurs stehen. Mein aktueller Favorit stammt aber von einem besorgten Bürger namens Engelbert M., der einstmals Bürgermeister von Bautzen werden wollte und die abendlichen Spaziergänge der Rentner, Lehrer und Doktoren aus der „Mitte des Volkes“ seit ihren Anfängen im letzten Jahr treu begleitet. Kürzlich bezeichnete er die Merkel-Gabriel-Konstruktion, die ein dumpfbackiger Patrioten auf einer Demonstration vor sich hergetragen hatte und wegen der nun die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde, leicht humoristisch – und vor allem beschwichtigend – als „Ziergalgen“.  
Der Untergang des Abendlandes hat viele Gesichter. Ein besonders hässliches, aber zugleich ungemein bürgerliches ist das von Pegida. Welches könnte also Unwort des Jahres werden wenn nicht das unschuldige Wörtchen „Ziergalgen“, dessen Silhouette über dem vom Sonnenuntergang eingerahmten Abendspaziergang der tapferen Patrioten thront, die grölend und schimpfend schon seit einem Jahr unsere christlichen Werte zu verteidigen vorgeben – denn Pegida feiert heute Geburtstag, und nach nur einem Jahr müssen wir bekennen, dass die Faschisten im bürgerlichen Schafspelz ihre Sicht der Dinge schon lange salonfähig gemacht haben – und dass sie überdies noch zu ganz Anderem fähig sind. Die Errungenschaften der selbsternannten Volksbewegung sind bemerkenswert: Wurden doch im ganzen Jahr 2014 „nur“ 198 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte registriert, gab es bis Mitte Oktober 2015 schon 522 Übergriffe. Mit dem Messerangriff auf die inzwischen zur Oberbürgermeisterin von Köln gewählten parteilosen Henriette Reker gab es nun auch einen ersten Gewaltakt gegen eine Politikerin auf höherem Niveau. Zu verdanken ist dies dem Klima, das von Pegida und ihrer parlamentarischen Verbündeten, der „Alternative für Deutschland“ (AfD), geschaffen wurde. Kein Nazi braucht sich mehr hinter dem Stammtisch und seiner zünftigen Bierfahne zu verstecken, im Jahr 2015 sagt man frei raus was man denkt. Und den Rücken bekommt man gestärkt von den neuen Führern, den Bachmännern und Höckers, die vor ihrem versammelten Volk wirre Reden schwingen, von der Islamisierung des Abendlandes phantasieren und Asylbewerberheime als Luxussanatorien beschreiben. Diese Menschen beginnen, keinen Hehl mehr daraus zu machen was sie denken und was sie wollen. Der Journalist Klaus Hillenbrand hat in seinem Kommentar für die taz eine ganz entscheidende Feststellung getroffen: „Wer glaubt, ein paar weniger Asylsuchende in Pirna, Heidenau oder Dresden würden deeskalierend wirken, verkennt, dass es den Fremdenfeinden nicht um Kompromisse geht. Weder wollen diese einen Kompromiss noch sind deren Ansichten kompromissfähig. Sie wollen den autoritären Staat.“ Traurigerweise können wir die, die von sich behaupten aus der „Mitte des Volkes“ zu kommen, nicht einfach in die rechte Ecke verbannen. Vielleicht wäre es darum besser einzugestehen, dass mit Pegida tatsächlich Menschen aus allen Schichten durch die Straßen Dresdens marschieren. Vielleicht sollten wir nüchtern feststellen, dass auch 1933 nicht nur die Verzweifelten, Arbeitslosen und sozial Schwachen der NSDAP und Adolf Hitler mit 43,9% der Stimmen zur Macht verholfen haben, sondern – Menschen aus dem Bürgertum.
Wie wirken wir dieser bedrohlichen Entwicklung entgegen? Wenn unsere Kinder, Enkel oder Urenkel in 30 Jahren mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ nur noch das Jahr 2015 verbinden können, dann haben wir alle jämmerlich versagt. Lassen wir das nicht zu. Eine wehrhafte, lebendige und dynamische demokratische Gesellschaft muss dem aufkeimenden Fremdenhass und der rechten Systemfeindschaft alles entgegensetzen was sie aufzubieten hat: Hetzer wie Björn Höcke, der zuletzt bei Günther Jauch seine Hitparade der unbelegten Behauptungen und Gerüchte zum Besten geben durfte, können leicht durch Argumente und Fakten widerlegt werden, doch das „Volk“ lässt sich nur durch eine Instanz belehren: durch das Volk selbst. Wir müssen denen, die es einfach nicht besser wissen, die andere Wirklichkeit vor Augen führen und sie aus ihrer starren Weltsicht befreien. Das ist unsere Aufgabe, die sich am sinnvollsten nicht durch die Medien (a.k.a. „Lügenpresse“), sondern vielleicht besser von Mann zu Mann oder von Frau zu Frau bewältigen lässt. Doch es wird immer einen harten Kern der Unbelehrbaren geben, mit denen es nicht lohnt in Dialog zu treten. Ab einem gewissen Grad hilft gegen „besorgte Bürger“ deshalb nur noch eins: In der Gegendemo stehen und die Faschisten niederbrüllen, Aufmärsche blockieren und die Abendspaziergänger am Ende des Tages frustriert nach Hause schicken.

Montag, 29. Juni 2015

Selbstverständnis & Selbstkritik - Deutschland und die EU im Spiegel der Ukraine-Krise

Ich möchte die Demokratie gegen nichts auf der Welt eintauschen. Doch zu einem gesunden Selbstverständnis gehört auch Selbstkritik, besonders in Tagen des Schwarz-und-Weiß-Denkens. Seit dem Beginn der Ukraine-Krise sind die Positionen westlich und östlich der Front klar aufgeteilt, doch macht uns dies nicht alle gleich. Und es täuscht nur kurzfristig über die Probleme hinweg, die wir in Zukunft noch bekommen werden oder schon längst haben. Es besteht Nachholbedarf, an allen Ecken und Enden – und nicht nur in Deutschland. Wenn es um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte geht oder um den Umgang mit Menschen ausländischer Herkunft. Dass Lettland noch immer Gedenkmärsche für seine Kriegsteilnehmer aus den Reihen der Waffen-SS abhält, an denen im März 2015 noch 1.500 Männer teilnahmen, kann man als alternative Interpretation europäischer Geschichte deuten. Doch dass der ungarische Präsident auf Wahlkampfplakaten fremdenfeindliche Sprüche gegen Flüchtlinge klopfte, ist ein akutes Problem. Natürlich, die Plakat-Botschaften waren in ungarischer Sprache abgefasst und richteten sich an das ungarische Wahlvolk, doch Fremdenhass (und wahrscheinlich auch schlichtweg Angst vor der Einwanderung) ist ein Problem, dem in vielen Ländern mit Nachsicht und allzu großem Verständnis begegnet wird. Doch abseits der Flüchtlingsproblematik gibt es andere beunruhigende Tendenzen, die sich vor allem im Kontext des Konflikts mit Russland manifestieren. In Litauen wird das Schulfach „patriotische Erziehung“ eingeführt, in Polen formiert sich angesichts der russischen Bedrohung die Federacja Organizacji Proobronnych (FOP, Föderation der Pro-Verteidigungsorganisationen). Dieser Verband soll Freiwillige bündeln und bis in drei Jahren mit 100.000 Mitgliedern in jedem Kreis präsent sein. Eine Aufgabe der Organisation – neben der Verteidigung gegen „den Russen“ – ist die Erziehung der Jugend zum Patriotismus. Ähnliche Bürgerwehren bilden sich auch in den baltischen Staaten. Hilft Vaterlandsliebe gegen Faschismus? Eine Legende, an die noch allzu viele glauben mögen.

Ich liebe die Demokratie. Aber ich zweifle so langsam an unserer. Deutschland profitiert an einem Konflikt, zu dessen Entschärfung auch von europäischer Seite nichts beigetragen wird: Polen hat Ende 2013 einen Kaufvertrag zur Lieferung von 119 deutschen Leopard-Panzern, 18 Bergepanzern und 200 Militär-LKWs unterschrieben. Ende Mai hat Rheinmetall bekannt gegeben, mit einem polnischen Joint Venture einen neuen Radpanzer zu bauen. Die polnische Regierung will 200 Stück kaufen, Umsatz: 300 Millionen Euro. Litauen wird demnächst mit deutschen Panzerhaubitzen und Feuerleitsystemen ausgestattet. Natürlich ist Deutschland nicht der einzige Lieferant. Doch bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, dass man viel mehr Mühe in die militärische Hochrüstung zu legen scheint als in diplomatische Friedensbemühungen. Während der Diplomatie die Ausdauer schwindet, beginnt die Wirtschaft zu frohlocken. Ich will Pazifismus...

Ich glaube an die Demokratie und bin der Meinung, dass man ein paar Macken in unserem System durchaus kurieren kann. Aber vielleicht sollten wir erst einmal offen bekennen, dass auch wir einen Propaganda-Apparat betreiben, bevor wir die Medien unserer Kontrahenten verurteilen. Die Deutsche Welle hat seit Mitte Mai ein Abkommen mit den baltischen Staaten und liefert russischsprachige Fernsehbeiträge. Ein Zitat des DW-Intendanten Peter Limbourg: „Mit unseren Programmlieferungen in russischer Sprache tragen wir dazu bei, dass die Menschen Informationen russischer Medien besser einordnen können.“ – Was ist das, wenn nicht Propaganda? Von Deutschland an Russen. Das gleiche macht Russland mit seinem Russia-Today-Büro in Berlin. Und das finde ich nicht gut.
Derweil wird unterbunden, dass Russland seine Minderheiten im Baltikum medientechnisch versorgt. Doch wieso ist es überhaupt nötig, dass sich der russische Staat um Bürger in europäischen Ländern kümmern muss? Vielleicht weil diese gar keine Bürger sind: Nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten bekam die russische Minderheit nur unzureichend die Möglichkeit, die jeweilige neue Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden diese (meist russischsprachigen) Einwohner staatenlos. Heute leben 91.000 Staatenlose in Estland (laut Amnesty International), in Lettland sind es 300.000 und damit knapp 15 % der Bevölkerung. Wenn wir es als falsch empfinden, dass sich Russland um Russen kümmert, wie stehen wir dann dazu, dass sich das deutsche Innenministerium um deutsche Minderheiten im Ausland kümmert? Eine absurde Frage, oder nicht?
Aufgrund der alltäglichen Diskriminierung in Form von unzureichendem Zugang zu staatlichen Leistungen, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und vor allem dem fehlenden Wahlrecht ist die russische Minderheit in diesen Ländern Putin gegenüber zum großen Teil freundlich eingestellt. Doch das können wir nicht verstehen: „Im Nato-Land Estland […] sehen nur rund 30 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung das Verteidigungsbündnis [NATO] positiv – obwohl Nato-Jets den Luftraum schützen und inzwischen ständig US-Truppen im Land sind“, schreibt Spiegel Online und wundert sich. Seit April 2014 sind in Lettland, Litauen und Estland jeweils 150 US-Soldaten stationiert, von denen einige an der Militärparade zum estnischen Unabhängigkeitstag teilnahmen – aus mainstreameuropäischer Sicht kann das nur positiv sein.

Wenn wir kein Verständnis für Russland aufbringen können und wollen, dann sollten wir wenigstens einmal ein wenig Unverständnis gegen unsere eigene Politik und ihre unverhohlene Falschheit offenbar werden lassen. Und Empörung. Während unsere Währungsunion am Euro und der Griechenland-Politik scheitert und unsere Werte vor Italien und Spanien zusammen mit 25.000 Flüchtlingen ertrinken, bringen wir es immer noch nicht übers Herz, die erste faulige Tomate zu werfen, die ein erster Anstoß zur Heilung des Systems sein könnte.

Sonntag, 28. Dezember 2014

Friedrich, Deutschland und Pegida

Es freut mich ja, wenn unsere eiserne, unbeugsame und alternativlose Kanzlerin auch aus den eigenen Reihen mal Kritik zu hören bekommt – allerdings nicht unbedingt von Peter Friedrich! Dieser macht nämlich den scheinbar zu linken Kurs der CDU mitverantwortlich für den aktuellen Pegida-Höhenflug und meint: „Ich glaube, dass wir in der Vergangenheit mit der Frage nach der Identität unseres Volkes und unserer Nation zu leichtfertig umgegangen sind.“ Zur doppelten Staatsbürgerschaft (für Türken in Deutschland) hat er zu sagen: „Natürlich war die Zustimmung zur doppelten Staatsangehörigkeit ein Fehler. Gerade in einer Zeit, in der die Menschen wieder nach kultureller Identität, Heimat und Zusammenhalt fragen, ist der leichtfertige Umgang mit der Staatsbürgerschaft falsch.
Fragen die Menschen wirklich wieder nach kultureller Identität, Heimat und Zusammenhalt? Und wenn ja, warum?! Die Deutschen gehen wie Jahre und Jahrzehnte zuvor auf Weihnachtsmärkte, die in keiner einzigen deutschen Stadt in „Jahresabschlussmärkte“ umbenannt wurden. Ob Christ/-in oder nicht, gefühlt hat jede/-r zweite Facebook-Nutzer/-in mindestens ein kitschiges Foto gepostet, auf dem irgendwelche Weihnachtsaccessoires zu sehen sind. Die Deutschen sind Weltmeister und haben im Sommer eine riesige Party in Schwarz-Rot-Gold auf den Straßen gefeiert. Deutschland ist seit November offiziell das beliebteste Land der Welt. Natürlich geht es in diesem Land auch einigen Menschen ziemlich sche*ße, aber alles in allem haben wir eine souveräne Grundlage, auf die wir aufbauen können. Wieso um alles in der Welt sucht der/die durchschnittliche Deutsche plötzlich nach mehr Identität, mehr Heimat, mehr Zusammenhalt? Ist das, was wir haben, nicht schon eine ganze Menge?
Vielleicht stellt sich heute gar nicht die Frage, wie viel „Fremdes“ eine Gesellschaft verträgt, sondern wie viel „Nation“ eine Gesellschaft ertragen kann, bevor es zu bleibende Schäden kommt. Doch in unseren Tagen gehen immer mehr „besorgte Deutsche“, die angeblich der „bürgerlichen Mitte“ entstammen, auf die Straße und vertreten Thesen wie „Für mich ist es völlig unerheblich, ob es denHolocaust gegeben hat. Das ist 70 Jahre her!“ – Zur Erinnerung: Im März 1933 wurde die NSDAP von 43,9% des Volkes demokratisch an die Macht gewählt. Damals waren (nur) etwas mehr als 9% der Bevölkerung arbeitslos. Dies offenbart, was oft übersehen wird: Hitlers Wahlsieg wurde von großen Teilen der „bürgerlichen Mitte“ getragen. – Vielleicht ist das auch der Grund, wieso uns unser deutsches Schulsystem und die von Pegida & Co. als „Lügenpresse“ bezeichneten Medien zu Recht immer wieder daran erinnern, was zwischen 1933 und 1945 passiert ist.

Freitag, 12. Dezember 2014

"Sie sind überall!" - Faktencheck und nachdenkliches Kopfschütteln

Der Spiegel macht den Faktencheck zu Behauptungen der Pegida („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“), widerlegt falsche Behauptungen und uralte Ressentiments. Sogar GMX fragt: „Was ist dran an den Vorurteilen?“ So stellt man sich den neuen alten Ängsten derjenigen, die von sich selbst behaupten, aus der Mitte der Gesellschaft zu kommen. Die Zeitungen und Magazine schreiben angestrengt gegen jene Kräfte an, die in Dresden kürzlich 19.000 „besorgte Bürger“ mobilisieren konnten, um gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ zu demonstrieren. Zumindest versuchen sie es.
Doch wo schreiben hoffnungslos erscheint, muss man fragen: Was treibt diese Menschen an? Woher kommt die Angst – und wie kann man ihr begegnen?

Die immer gleichen Vorurteile

Die gängigsten Vorurteile und Behauptungen lassen sich mittlerweile sogar mit Statistiken und in Stein gemeißelten Zahlen widerlegen. Dass Zuwanderung den fleißigen Deutschen nur Geld kosten würde, hat eine Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) als falsch erwiesen: Die 6,6 Millionen Menschen ohne deutschen Pass haben im Jahr 2012 für einen Überschuss von rund 22 Milliarden Euro gesorgt. Jeder Ausländer und jede Ausländerin zahlt pro Jahr etwa 3.300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben, als er oder sie an staatlichen Leistungen erhält.
Nun gut, aber kriminell ist der Ausländer an und für sich ja doch, oder? Wieder falsch. Die polizeiliche Kriminalstatistik (ebenfalls 2012) offenbart, dass nur jeder vierte Tatverdächtige keinen deutschen Pass hat – darin inbegriffen Touristen und aus dem Ausland agierende Banden.

Das älteste aller Vorurteile müsste heutzutage eigentlich gar nicht mehr thematisiert werden, gäbe es nicht einige Hetzer und ihre ungebildeten Fußsoldaten, die immer noch an das Märchen von der weggenommenen Arbeit glauben: Ausländer nehmen den fleißigen Deutschen die Arbeitsplätze weg. – Die Zahlen sprechen auch hier eine andere Sprache, der Mangel an Fachkräften und die Vielzahl unbesetzter Lehrstellen in vielen Regionen Deutschlands untermauern die Statistik. Währenddessen arbeiten studierte Iraner mitunter als Taxifahrer in Köln oder München, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden.
Aber wenn wir ehrlich sind, hat „der Ausländer“ immer nur die Drecksarbeit gemacht – und wurde genauso behandelt wie das, was er wegputzen musste. Wer sich an die Achtziger und Günter Wallraffs „Ganz unten“ (1985) nicht mehr erinnern kann, der sei an dieser Stelle auf die entsprechenden Links verwiesen.

„Sie sind überall“

Wer mit dem Jargon der extremen Rechten vertraut ist, dem muss jedes Mal ein Schauer über den Rücken laufen, wenn er Stimmen aus der Mitte der Gesellschaft mit dem Begriff „Überfremdung“ jonglieren hört. Was bitte soll man darunter verstehen? Von Überfremdung singen „national gesinnte“ Liedermacher mit weinerlicher Stimme, gegen die Überfremdung schreien neubraune Führer in Bierzelten auf NPD-Kinderfesten an – aber in der bürgerlichen Mitte hat diese Sprache nichts verloren, nicht zuletzt weil die Aussage, die dahinter steht, grober Unfug ist. Wenn sich ein ganzes Land fremd wird, dann hat es größere Probleme als die Zuwanderung.

Die Diskussion um Zuwanderung, Integration und Migranten hält mittlerweile schon zu viele Jahre an, ohne wirklich Ergebnisse zu liefern. Bei den zuvor genannten Vorurteilen und den dazugehörigen Diskussionen am sprichwörtlichen Stammtisch geht es in Wirklichkeit nicht um Tatsachen – auch nicht beim Thema Muslime. Es geht um subjektives Empfinden. Denn Fakt ist: Muslime machen in Deutschlands gerade einmal um die 5 Prozent der Bevölkerung aus. Eine verschwindend kleine Minderheit, vor der das deutsche Abendland eigentlich keine Angst zu haben braucht. Doch fragt man jenen Teil der Bevölkerung, der Angst vor „dem Islam“ hat, so wird der Anteil der Muslime um ein Vielfaches höher eingeschätzt. Dieses Phänomen gibt es nicht nur in Deutschland, sondern überall, wo Einwanderer ankommen und sich ins alltägliche Stadtbild integrieren. So wird z.B. auch in Großbritannien der prozentuale Anteil von Muslimen und Ausländern zu hoch eingeschätzt.
Die Angst vor dem Fremden hat die Tendenz, sich bisweilen in eine unkontrollierbare Hysterie zu steigern. Doch wie kommt man gegen die neue Bewegung der Angstbürger an? Scheinbar nicht mit Zahlen und Fakten, denn die Anhänger dieser selbsternannten Bürgerbewegungen glauben nur der eigenen Statistik: Sie sehen einige überwiegend von Arabern bevölkerte Stadtteile, eine größtenteils von fremdländisch aussehenden Kindern besuchte Schule, ein morgenländisches Gebetshaus und können es angesichts dessen nicht ertragen, dass in ihrer Heimat auch andere Menschen heimisch geworden sind.
Die Angst vor dem Unbekannten – oder noch schlimmer: vor dem aus politically incorrecten Gruselmärchen schon bekannt Erscheinenden – ist es, die neuerdings Massen auf die Straße bringen kann. Seit dem Elften September ist das Kopftuch, das unsere deutschen Großmütter vor vierzig oder fünfzig Jahren noch wie selbstverständlich trugen, zu einem Symbol der „Überfremdung“ geworden. Die Debatte über entweder unterdrückte oder fundamentalistische „Kopftuchmädchen“, die in Wirklichkeit doch eigentlich nur ihren Glauben leben und in Ruhe gelassen werden wollen, scheint erst jetzt abzuflauen, da man endlich ein handfestes, brandgefährliches und noch bedrohlicheres Beispiel für die Schattenseiten der islamischen Kultur gefunden hat: Während Terroristen und Theokraten im Nahen Osten ein Kalifat des Schreckens zu errichten versuchen, fühlen sich die rechten Hetzer und Breivik-Anhänger in der Echtheit des Konstrukts, das sie „Islamisierung des christlich-jüdischen Abendlandes“ nennen, bestärkt.

Willkommenskultur – Auffanglagerkultur

Ressentiments gegen Ausländer und Zuwanderungskritik gibt es seit der ersten Stunde deutscher Einwanderungsgeschichte. Bis zum heutigen Tag hat sich die Stimmung zu einem neuen Höhepunkt seit den 1990er Jahren hochgeschaukelt, doch der Grund ist nicht etwa die aggressive Missionierungskultur rheinländischer Salafisten. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, dass immer mehr Menschen – und darunter auch viele Flüchtlinge aus arabischen Ländern – in Deutschland Schutz vor Krieg, Vergewaltigung und Mord suchen. Denn mehr noch als das geliebte Vaterland lieben der und die Deutsche das Geld, das im Namen der deutschen Allgemeinheit ausgegeben wird. Und da kommt es vielen gerade Recht, wenn ihnen jemand erzählt, dass hunderttausende Asylbewerber_innen in Deutschland wie Gott in Frankreich leben. Bei Pegida-Demonstrationen wetterte der Initiator Lutz Bachmann gegen „Heime mit Vollversorgung“ für Flüchtlinge, während sich die deutschen Alten „manchmal noch nicht mal ein Stück Stollen leisten können zu Weihnachten“. Wie groß muss der Hass eines Volkes sein, wenn es seine Alten in miserable Heime steckt und dann Bürgerkriegsflüchtlinge zu Schuldigen erklärt?

Die ZEIT (04.12.2014, Nr. 50) berichtet über die aktuellen Zustände in vielen Lagern. Es wird auch der Kinderarzt Andreas Schultz zitiert, der in einem Asylbewerberheim in München Kinder behandelt.

Manchmal, sagt Schultz, erinnere ihn München an den Sudan. […] An die hundert Kinder wohnen in der Notunterkunft, viele von ihnen seien krank, sagt Schultz. Er hört ihren Brustkorb ab, untersucht ihre Ohren und Atemwege. Er erzählt von Kindern, die eitrige Mandeln haben, weil sie seit Tagen im Zelt schlafen. Von Jungen und Mädchen, die apathisch an die Decke starren, weil es kein Spielzeug gibt. Von Jugendlichen, die nachts vor Kummer schreien und tagsüber Bilder mit blutüberströmten Menschen malen. Von Babys, die Durchfall bekommen, weil sie das Essen im Heim nicht vertragen. „Die Kleinen bräuchten Brei“, sagt Schultz. „Stattdessen setzt man ihnen Hackfleisch vor.“

Vollverpflegung sieht anders aus. Das interessiert Leute wie Pegida-Bachmann aber nicht. Dabei geht es hier nicht einmal um Zuwanderung an sich, denn Asylbewerber sind zunächst einmal Schutzsuchende. (Oft wird dies auf beiden Seiten missverstanden: Asylgegner argumentieren, das Boot sei voll. Deutschland könne nicht noch mehr Menschen durchfüttern. Asylbefürworter argumentieren dagegen beim Thema Asyl, Deutschland bräuchte doch Zuwanderung, allein schon um die Wirtschaft am Laufen zu halten.)  Doch Flüchtlinge in Deutschland wollen in allererster Linie als Menschen behandelt werden und nicht als Zahlen, Nummern und Objekte. Sie wollen ein Leben in Würde führen. Ein Recht, das ihnen das Grundgesetz eigentlich zugesteht.
Dabei sind die meisten Deutschen gastfreundlich – nur eben nicht im eigenen Wohngebiet:

Im wohlhabenden Hamburger Stadtteil Harvestehude wird seit Oktober um ein Asylbewerberheim gestritten. Einige Nachbarn sind gegen das Heim vor Gericht gezogen, sie sagen, sie hätten Angst vor „Kinderlärm“. Harvestehude ist kein kinderfeindlicher Ort. Es gibt „Wohlfühlkindergärten“ mit Biofrühstück und Kinderyogakursen, es gibt Kochschulen für Zwölfjährige und Kieferorthopäden speziell für Kinder. In manchen Flüchtlingsheimen gibt es nicht einmal Zahnbürsten. In Würzburg zum Beispiel werden Zahnbürsten nur an Asylbewerber verteilt, die älter als zwölf Jahre sind. Deutsche Kinder bekommen Zahnputzkurse, sie haben kaum noch Karies. Viele Flüchtlingskinder kann man an ihren schlechten Zähnen erkennen, sie sind oft braun und morsch. Wenn ein deutsches Kind Karies hat, bohrt man ein Loch und füllt den Zahn. wenn ein Flüchtlingskind Karies hat, wartet man, bis der Zahn verrottet ist, so will es das deutsche Gesetz.

Das ist eigentlich zum Heulen. Menschen leben in Baracken, bekommen nicht einmal Hartz-IV und alleinstehende Männer versuchen häufiger als der umliegende deutsche Durchschnitt, sich selbst das Leben zu nehmen. Doch der Mainstream will in den Zeitungen lieber von ungerechtfertigter Vollverpflegung oder Drogenrazzien lesen.

„Ich bin autochthoner Deutscher.“ – „Ist das heilbar?“

„Bürgerbewegungen“ wie die Pegida und viele andere sprechen das offen aus, was (zu) viele Deutsche mittlerweile oder noch immer denken. Sie vertreten ein unvertretbares Deutschlandbild, in dem unterschieden wird zwischen Einheimischen und „Gästen“, die oft seit Generationen ihre Steuern in Deutschland zahlen, nie wirklich wie Gäste aufgenommen wurden und auch so schnell wie möglich wieder verschwinden sollen. Sie werfen diesen Gästen vor, undankbar zu sein. Dabei sind sie es selbst, die undankbar sind. In einem Land, das aus jeder Krise nahezu unbeschadet hervorgeht und sich dennoch bemitleidet, haben Zuwanderer oder Flüchtlinge dennoch keinen Platz. Im Land der Dichter und Denker denkt man immer weniger und dichtet nur noch selten – allerdings nicht deshalb, weil Zuwanderer, Asylanten oder Salafisten einen davon abhalten würden, sondern weil es viel komfortabler ist, erst einmal einen Schuldigen für ein aktuelles Schlamassel zu suchen. Doch vielleicht ist es die Art des (und der) Deutschen an sich: Wir haben schon mit uns selbst ein Problem, da brauchen wir nicht noch Andere, mit denen wir mehr Probleme haben können.

Doch wann fangen wir endlich an, uns um die wirklichen  Probleme zu kümmern – gemeinsam?

Samstag, 8. November 2014

Makel der Einheit - Kritik an einem Erfolgsmodell

Ich wollte diesen Artikel schon lange schreiben, doch nie ergab sich der finale Motivationsschub oder gar die Notwendigkeit. Vielleicht ist er auch etwas provokant, was durchaus etwas Gutes sein kann. Angesichts des 25. Jahrestages des Mauerfalls scheint mir nun jedenfalls die passende Zeit dazu gekommen. An so einem denkwürdigen Tag neigen die Großen der Politik nämlich zu überschwänglichen Reden und vor allem dazu, sich selbst für etwas zu feiern, das auch nur deshalb so gut und makellos scheint, weil sich niemand das Gegenteil für möglich zu halten erdreistet. Denn was ist die deutsche Einheit? Und wieso neigt der politische Duktus dazu, sie als Erfolgsmodell zu verkaufen? Doch eins nach dem anderen.

Was ist Einheit. Nirgendwo ist die deutsche Un-Einheit so sichtbar wie auf der demografischen Landkarte, wo sich die Grenzen zwischen den beiden Staaten von damals noch heute abzeichnen. Helmut Kohl hatte vor zwei Jahrzehnten blühende Landschaften versprochen und ein Vierteljahrhundert später haben wir diese blühenden Landschaften tatsächlich: Nirgendwo ist der demografische Wandel deutlicher zu sehen als in der ostdeutschen Provinz, wo es seit einigen Jahren wieder Wolfsrudel gibt, wo Kleinstädte langsam aussterben und wo der Mensch wieder der Natur das Feld zu überlassen scheint. Zwar hat Dortmund vor kurzem Leipzig als „Armutshauptstadt“ der Republik abgelöst – was man vielleicht als innerdeutsche Annäherung bezeichnen könnte –, doch das Bild ist immer noch verheerend: Stellt man Ost und West in den direkten Vergleich, so sind in den neuen Bundesländern die Arbeitslosenzahlen höher, die Menschen älter, die Neugeborenen weniger und die Perspektivlosigkeit größer. Auch wenn bereits eine ganze Generation kein geteiltes Deutschland mehr kennt – die Teilung auf der statistischen Karte kann schwerlich ignoriert werden. Angesichts dieser Tatsache drängt sich nahezu die Vermutung auf: Es müssen Fehler gemacht worden sein.

Und Fehler wurden eine ganze Menge gemacht im Zuge der Wiedervereinigung. Das Grundgesetz sah ursprünglich zum Beispiel vor, dass als Folge der Einheit eine gemeinsame deutsche Verfassung per Volksabstimmung angenommen werden sollte. Doch Helmut Kohl und die CDU befürchteten, dass sozialistische Elemente Eingang in die Struktur der Bundesrepublik finden könnten – und schoben das Thema so lange auf, bis es vergessen und irrelevant geworden war. Sowohl der Koalitionspartner FDP als auch SPD und Grüne forderten eine Verfassungsdebatte, aber der entscheidende Artikel des Grundgesetzes wurde dennoch übergangen (beziehungsweise uminterpretiert). Das GG wurde Verfassung. Und Günter Grass äußerte sich noch 1998 über die auf diese Weise verpassten Chancen: „[Eine neue Verfassung] schafft zwar keine Arbeitsplätze, [sie] hilft uns auch ökologisch kein Stück weiter, aber die damit verbundene Verfassungsdiskussion, die natürlich von allen Gruppen der Gesellschaft getragen werden müsste, wäre eine nachzuholende Chance, die Deutschen in Ost und West wieder in grundsätzlichen Sachen ins Gespräch miteinander zu bringen.“ – Eine verpasste Chance, die man kreativ hätte nutzen können und wie man sie in der Gunst der Stunde schlicht hätte ergreifen müssen, denn die Bereitschaft zu neuen, gemeinsamen Veränderungen war durchaus da.
Die Frage der deutschen Verfassung ist nach 25 Jahren wohl tatsächlich unbedeutend geworden. Sie hat in einem vom Nationalstaat gelösten, europäischen Bewusstsein an Stellenwert und auch an Relevanz verloren. Es sind deshalb vielmehr die wirtschaftlichen Aspekte der Wende, die bis heute ihre Wirkung zeigen. Denn anstatt einer Verfassungsdiskussion bekamen die Ostdeutschen das, was sie neben politischer Teilhabe noch viel mehr begehrten: Mit der D-Mark kam die persönliche Freiheit – und vor allem neue Kaufkraft. Mit den neuen Einkaufsmöglichkeiten verschwand dann alsbald auch das Verlangen nach politischer Partizipation. Doch hier wird auf traurige Weise deutlich: Nicht Westen und Osten haben sich vereinigt, sondern Ost wurde von West aufgekauft. Alles Bestehende – ob schlecht oder gut – wurde ausradiert und ersetzt. Die Treuhandanstalt (THA), eine „bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts“, schlachtete ostdeutsche Betriebe der Reihe nach aus, einen nach dem anderen. Angeschlagene Westfirmen kauften mit ihrer Hilfe teilweise makellos arbeitende Werke im Osten und strichen staatliche Subventionen ein, mit denen sie zuhause die gefährdeten Arbeitsplätze sicherten. Gleichzeitig schalteten sie effektiv die mögliche Konkurrenz auf dem nunmehr gemeinsamen Markt aus. Millionen von D-Mark versickerten in zweifelhaften Kanälen, während viele Firmen im Osten zunächst günstig aufgekauft und schließlich aufgelöst wurden. Tausende Menschen in der ehemaligen DDR fielen aus diesem Grund der Arbeitslosigkeit zum Opfer und – abstrakt gesprochen – dem unbarmherzigen Kapitalismus, den sie eigentlich begrüßt hatten. Die Talfahrt ging noch weiter: Ungeklärte Eigentumsverhältnisse führten dazu, dass Familien sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten konnten. Noch heute gibt es in ostdeutschen Großstädten ganze Stadtteile, in denen dutzende von Mehrfamilienhäusern leer stehen und dem Verfall ins Auge blicken. – Unterdessen hatte man auf westdeutscher Seite im Grunde nur Arroganz übrig für die neuen Mitbürger. Das System der Bundesrepublik hatte sich in der Vergangenheit bewährt, es lief und läuft bis heute – ein Modell, das seine eigenen Makel durch die Vielzahl seiner Vorzüge übertüncht und den Regierten das Regiertwerden annehmlicher macht. Und so stülpte man einer Gesellschaft, die neben all den heute oft betonten Mängeln, Ungerechtigkeiten und Verbrechen auch 40 Jahre lang eine eigene Daseinsberechtigung entwickelt hatte, einfach ein neues (altes) Modell über – auf allen Ebenen. Dabei wurde die gesamte ostdeutsche Kultur zusammen mit dem SED-Regime in einen Sack gesteckt und im Mülleimer der Geschichte entsorgt. Journalisten bekamen keinen Arbeitsplatz, sogar normale Schriftsteller hatten es in den ersten Jahren schwer, in einer neuen Welt Gehör zu finden. Fußballvereine aus dem Westen kauften den DDR-Mannschaften die Spieler weg; bis heute spielt nur selten eine Ost-Mannschaft in der Bundesliga. NVA-Generäle dürfen den Namenszusatz „a. D.“ nicht tragen – eine Ehre, die nicht einmal ehemaligen Wehrmachtsoffizieren im westlichen Nachkriegsdeutschland versagt war.

Diese Tatsachen, die man sich angesichts der in diesen Tagen gefeierten schillernden Facetten der deutschen „Erfolgsstory Wiedervereinigung“ gar nicht zu erwähnen traut, könnten durchaus als Ungerechtigkeit bezeichnet werden. Doch die Missachtung eines Artikels des Grundgesetzes, die Abwicklung eines Systems mitsamt seiner Menschen und die Entsorgung einer Gesellschaft – an alledem kann man heute nicht viel mehr ändern als sich einfach einzugestehen, dass der Anfang der gesamtdeutschen Geschichte nicht ganz gerecht vollzogen worden ist. Als ersten von zwei wichtigen und großen Fehlern der Einheit sollte man vielmehr anerkennen, dass Millionen von nach Veränderung strebende Menschen einfach in ein neues, nur aus dem Westfernsehen bekanntes System gesetzt wurden, ihre Wünsche und Erwartungen hingegen wurden oft übergangen. Die Folgen kommen heute in Form der tiefsitzenden Politikverdrossenheit ans Tageslicht, die sich in Sachsen und Thüringen in Gestalt einer schockierend niedrigen Wahlbeteiligung niederschlägt. Eigentlich gehört zum Gedenken an die Widervereinigung mehr Tadel als Lob: Man hat den Menschen den Willen zur Demokratie madig gemacht. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR bekamen 1990 einen neuen Pass und wurden zwischen den vollen Regalen der Supermärkte stehen gelassen. Dabei waren sie es doch, die damals den Anfang machten. Der SPD-Politiker Egon Bahr, der unter Willy Brandt die bundesdeutsche Ost-Politik nach dem Gedanken Wandel durch Annäherung entscheidend gestaltete, bekannte sieben Jahre nach der Wiedervereinigung: „Wir verdanken […] den DDR-Bewohnern die Einheit. Das ganze deutsche Volk hat nach Westen geguckt. Die Westdeutschen haben nach Westen geguckt, und die Ostdeutschen haben auch nach Westen geguckt. Die Ostdeutschen wollten die Einheit. Die Westdeutschen wollten die Einheit gar nicht. Niemand hat gedrängt.“ So kam es auch, dass man sich für die neuen Bürgerinnen und Bürger nicht einmal genug interessierte, um ihnen zu erklären, wie „Deutschland“ eigentlich funktioniert. Dass man mit dem Begriff „Solidarität“ hierzulande nichts anfangen kann, dass hier jeder für sich selbst verantwortlich ist und dass sogar das Selbstverständnis von „Deutschland“ im Westen eben ein anderes ist. Vielleicht hätte man der breiten Masse auch erklären müssen, dass Deutschland schon lange multikulturell ist. Und dass diese Tatsache nicht negativ sein muss. Die Ignoranz, die man von westdeutscher Seite den Erwartungen der Ostdeutschen – und dazu gehörte auch ein gewisser unter der Oberfläche brodelnder und von der SED-Führung verleugneter Nationalismus – entgegenbrachte, ist einer der Gründe für die Mischung aus orientierungsloser Unsicherheit, Enttäuschung und Hass, die tausende Menschen zum Beispiel in Rostock-Lichtenhagen dazu trieb, in einer pogromähnlichen Jagd ein Wohnheim für vietnamesische Asylbewerber anzugreifen. Naive Arglosigkeit und beschämendes Desinteresse von westdeutscher Seite könnten indirekt auch förderlich gewesen sein für den Nährboden, auf dem Jahre später Unkraut wie der NSU gedieh.
Der zweite der zwei großen Fehler, die im Zuge der Einheit begangen wurden, ist der fehlende Wille, sich in Konfrontation mit einem anderen System auch mit dem eigenen auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt durch die pauschale Ablehnung alles Ostdeutschen war man unfähig, von den neuen Bundesbürgern zu lernen und zu profitieren – vor allem von deren Erfahrungen, die ja andere waren als im Westen, aber auch von den (aktuellen) Errungenschaften. Die aktuellste der ostdeutschen Tugenden war der Wille zur Teilhabe an der gelebten Demokratie. Im Osten herrschte eine Aufbruchsstimmung, die den Westdeutschen eher fremd war. Während die Freiheitshungrigen begannen, sich auf dem Boden der sterbenden DDR in neuen politischen Gruppierungen zu organisieren und an Runden Tischen zusammenzukommen, scheint der Westen verglichen zur neuen ostdeutschen Dynamik überfordert und ihr gegenüber gleichgültig gewesen zu sein. Es lässt sich also zusammenfassend sagen: Das größte Versäumnis der Wende ist wohl das Unvermögen von Politik und Gesellschaft, die dynamische Bewegung im demokratisierten Ostdeutschland in die verkrusteten westdeutschen Strukturen hineinzutragen. Diese neue Dynamik hätte den Mächtigen wahrscheinlich sogar gefährlich werden können. Das an vielen Enden krankende System hat sich selbst geschützt, indem es aller anfänglicher Euphorie einen Dämpfer vorsetzte und die Bevölkerung schnell wieder an die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten erinnerte. Doch als Trost wird bis heute jenes Minimum an Errungenschaften, das aus gemeinsamer Regierung, Währung, Fußballmannschaft und bundesdeutscher Routine besteht, als erfolgreich vollzogene Einheit gefeiert – in einem derartigen Pomp und Glanz, dass die begangenen Fehler, Versäumnisse und verpassten Chancen genau dieser Einheit in den Schatten gestellt werden und ihre Berechtigung, erwähnt zu werden, verlieren. Zurück bleiben jene, die damals mehr verändern wollten als sie letztlich imstande waren und sich mit der breiten Masse in die Politikverdrossenheit zurückgezogen haben.

Doch das ist nur (m)eine Lesart. Natürlich ist der 9. November 2014 ein Tag zum Feiern. Vielleicht ist es aber nicht die Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit, die wir mit Champagner begießen sollten, sondern lediglich jener erste Schritt, der 1989 getan wurde, und auf den zu viele Schritte schlussendlich nicht mehr folgten und auch nie mehr folgen werden. Wir sollten den heutigen Tag zum Anlass nehmen, uns der doch so nötigen, aber in Vergessenheit geratenen Dynamik der Ostdeutschen zu erinnern – auch im europäischen Kontext. Denn Europa ist nicht geeint. Europa ist nicht einmal gerecht. Europa gleicht vielmehr einer riesigen bürokratischen Baustelle mit perspektivlosen jungen Menschen im Süden, stolzen Verweigerern auf den Britischen Inseln und ertrinkenden Bürgerkriegsflüchtlingen an den Außengrenzen. Männer und Frauen auf der Flucht, die vor Hunger nach persönlicher Freiheit und aus Sehnsucht nach einem besseren Leben genau dieses verlieren. Wird in 25 Jahren irgendjemand auch diesen Menschen so gedenken, wie man es heute für die Mauertoten in Berlin tut? Auch Europa hat dichte Grenzen. Demokratie ist nur ein Wort, solang man sie nicht lebt. Viel weniger noch als ein Wort. Ein Schein, eine Farce.
Heute wollen wir niemandem die Feierstunde verderben. Aber vielleicht fangen wir morgen endlich an, uns diese Gedanken zu machen. In diese Sinne: Happy Mauerfall...!



Freitag, 5. September 2014

Kriegspostkarten

Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Ich habe in meiner Antiquitätensammlung gestöbert und bin auf eine interessante Postkarte gestoßen. Sie stammt aus dem Jahre 1915 und wurde von einem jungen Soldaten an der russischen Front in die unterfränkische Heimat geschickt. Die Bildseite zeigt zwei Motive: Deutsche Soldaten, die mit abgenommenem Helm und abgestellten Gewehren andächtig zum Gebet verharren. Ein Gebet voll „Donner des Todes“ und geöffneten Adern. Die Szene der betenden Männer steht im Gegensatz zu dem zweiten Teil des Bildes: Vorrückende Preußen, die Bajonette auf ihre Gewehre aufgepflanzt. Zwei Armeen stehen sich gegenüber, ein flaggentragender Franzose greift sich mit der Hand ans Herz, getroffen von einer deutschen Kugel.


Der Erste Weltkrieg war nur der Anfang einer katastrophalen Entwicklung, die das 20. Jahrhundert schon in seinen ersten 45 Jahren zu einem blutigen Säkulum werden lassen sollte. Können wir heute noch nachvollziehen, wie sich Deutsche und Franzosen so entschieden entgegentreten konnten, voller Begeisterung und kampfentschlossen bis in den Tod? Vor hundert Jahren zogen die Massen jubelnd in die Schlachten, Rudel frischer Abiturienten warfen ihre Hüte vor Freude über die neue Herausforderung „Krieg“ in die Luft. Diese Karte aus meiner Sammlung ist ein anschauliches Beispiel. Eindrücklich ist der Text, den ein gewisser Joseph an seine Cousine Elise schrieb:

Liebe Elise! Hat Wilhelm Euch schon besucht? Wie sieht er nur aus? Ist seine Wunde gut geheilt? Schade für den armen Kerl, dass er nicht mehr mit spielen kann. Es wird alle Tage interessanter. Die herzlichsten Grüsse an Deine lieben Eltern. Gruss Joseph.

Der Krieg, ein Spiel? Wie groß muss die Begeisterung bei diesem Joseph, einem deutschen Frontsoldaten, im April 1915 gewesen sein? Krieg ist nur dann, wenn alle hingehen und mitmachen. Und vor hundert Jahren waren die Völker geradezu erpicht darauf, an diesem großen „Spiel“ teilzunehmen.


Das erste große Schlachten des 20. Jahrhunderts forderte knapp 17 Millionen Opfer. Die Nationen lernten kaum etwas dazu. Es dauerte kaum mehr als zwanzig Jahre, bis die nächste – noch größere – Katastrophe ihre Opfer forderte.

Und das Schlimme ist, dass es Kriege auch heute noch gibt. Sie sind etwas Menschliches – und unmenschlich zugleich. Doch Menschen finden immer wieder neue Begründungen, um ihre Macht zu demonstrieren, und neue gerechte Verkleidungen, in die sie das Unrecht des Krieges hüllen. Wo stehen wir heute, hundert Jahre nach Kriegsbeginn? Das Jahr 2014 scheint leider ein besonders blutiges Jahr zu werden. Warum?