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Sonntag, 25. Oktober 2015

No Hogesa am Sonntag (25.10.2015)

Pünktlich zum Jahrestag der berüchtigten Hogesa-Demonstration („Hooligans gegen Salafisten“) vom Oktober 2014 haben sich auch heute wieder rechte Hooligans in Köln versammelt. Die Polizei war dieses Jahr mit 3.500 Einsatzkräften zugegen und somit bestens vorbereitet. Auch logistisch war der Große Demo-Sonntag eine Meisterleistung: Hogesa war auf den Barmer Platz hinter dem Bahnhof Köln-Messe/Deutz verbannt worden, eingekesselt und im Blick der Beamten, während die größte der insgesamt sieben Gegenveranstaltungen auf der anderen Seite stattfand, vor dem Bahnhof, auf dem Otto-Platz. Beide Lager waren getrennt durch Bahnhofsgleise, Eisenbahnbrücken und eine doppelte Reihe Polizei. Auf dem Bahnhof selbst wurden die S-Bahnen phasenweise so postiert, dass möglichst wenig Sichtkontakt bestand.


Während auf der Bühne des Aktionsbündnisses Birlikte („Zusammenstehen“) noch der Soundcheck durchgeführt wurde und sich der Otto-Platz mit den ersten hundert Menschen füllte, tröpfelten die Rechten nur sehr zäh auf dem ihnen zugeteilten Gelände ein. Um kurz nach elf wurden dort ganze elf Hooligans gezählt. Doch auch die schmaler Gebauten des neuerdings salonfähigen braunen Establishments waren angereist und suchten nach dem passenden Übergang auf ihre Seite: „Malte, ich glaube wir müssen da unten durch“ – unter dem Bahnhof traf ich zum ersten Mal auf eine Gruppe von Nazi-Hipstern, von denen nur Malte das hellbraune Haar brav gescheitelt hatte und ebenso ratlos wie seine Kameraden nach dem Weg suchte. Größere Gruppen von Rechten wurden von der Polizei begleitet und an grölenden Antifas vorbeigeleitet.
Direkt aufeinander trafen Rechte und Gegendemonstranten nur am Bahnhof. Die Antifa blockierte kurze Zeit den Zugang zu einem Gleis und verursachte damit die erste aus einer Serie von Verspätungen dieses Sonntags. Unterdessen wurden anreisende Dortmunder, Paderborner und Düsseldorfer Nazis mit Sprechchören oder (vonseiten einiger Passanten) mit spontanen Stinkefingern begrüßt. Am Himmel zog der der Polizeihelikopter eine Endlosschleife und beobachtete aufmerksam das Geschehen.


Auch dieses Jahr befürchtete man umfangreiche Ausschreitungen und Gewaltausbrüche. Die Versammlung rechter Hooligans war letztes Jahr gegen Ende ziemlich ausgeartet und besonders ein Bild mit Randalierern, die ein Polizeiauto umstürzen, ging durch die Presse. Die Erwartungen der Medien waren also auch heute sehr hoch – zumindest konnte dieser Anschein durchaus entstehen: Der Focus betitelte seinen Live-Ticker schon am Morgen mit der Frage „Köln in Aufruhr: Knallt es heute bei der Hogesa-Demo?“ und lieferte ein paar Stunden später die Bestätigung: „Hogesa: 5 Verletzte in Köln – Es droht zu knallen“. Und tatsächlich kam es zu Auseinandersetzungen zwischen linken Antifa-Aktivisten und der Polizei, die auch ihren Wasserwerfer zum Einsatz brachte, und aus den Reihen der Rechtsextremen wurden die Polizisten stellenweise mit Böllern beworfen. In den ersten Zeitungsberichten (und natürlich auch im Focus-Newsticker) war deshalb von „linken und rechten Demonstranten“ zu lesen, die von der Polizei getrennt und separat zur Abreise begleitet werden mussten. Das alles kann aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass hier nicht nur rechte und linke Krawallmacher aufeinandertrafen: Vielmehr standen sich auf der einen Seite eine eher mickrige Gruppe von knapp 1.000 Mann (und Frau) von Hogesa – denen zu Beginn sogar noch zehn (nüchterne und nicht vorbestrafte) Ordner fehlten – und auf der anderen Seite über 10.000 Gegendemonstranten aus allen politischen Lagern und aus einer Vielzahl von Initiativen gegenüber. Auf dem Otto-Platz waren alle Altersklassen vertreten,  „Köln stellt sich quer“ war wieder einmal das Motto. Die Antifa und ihre Blockadeaktionen waren gewissermaßen lediglich das Sahnehäubchen auf der Torte.


Die für den Abend angemeldete Kögida-Demonstration wurde abgesagt, die einheimischen rechten Abendspaziergänger schlossen sich stattdessen den Hooligans an. Die von einigen Zeitungen prophezeite (und fast schon herbeigesehnte) Katastrophe blieb aber aus. Eine Stadt hat gezeigt, dass sie keinen Bock auf Nazis hat. Nicht mehr und nicht weniger.

Montag, 19. Oktober 2015

Götterdämmerung oder Faschisten im Schafspelz

Wenn im Januar wieder das Unwort des Jahres 2015 gekürt werden soll, wird man aus einer schier unübersehbaren Masse von Vokabeln eine wählen, die das aktuelle Bild unserer Gesellschaft in den Medien und im allgemeinen Sprachgebrauch auf ihre Art besonders charakterisiert hat. Wird es der „Gutmensch“ sein oder doch eher der „Asylkritiker“? Auch die „Überfremdung“ dürfte hoch im Kurs stehen. Mein aktueller Favorit stammt aber von einem besorgten Bürger namens Engelbert M., der einstmals Bürgermeister von Bautzen werden wollte und die abendlichen Spaziergänge der Rentner, Lehrer und Doktoren aus der „Mitte des Volkes“ seit ihren Anfängen im letzten Jahr treu begleitet. Kürzlich bezeichnete er die Merkel-Gabriel-Konstruktion, die ein dumpfbackiger Patrioten auf einer Demonstration vor sich hergetragen hatte und wegen der nun die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde, leicht humoristisch – und vor allem beschwichtigend – als „Ziergalgen“.  
Der Untergang des Abendlandes hat viele Gesichter. Ein besonders hässliches, aber zugleich ungemein bürgerliches ist das von Pegida. Welches könnte also Unwort des Jahres werden wenn nicht das unschuldige Wörtchen „Ziergalgen“, dessen Silhouette über dem vom Sonnenuntergang eingerahmten Abendspaziergang der tapferen Patrioten thront, die grölend und schimpfend schon seit einem Jahr unsere christlichen Werte zu verteidigen vorgeben – denn Pegida feiert heute Geburtstag, und nach nur einem Jahr müssen wir bekennen, dass die Faschisten im bürgerlichen Schafspelz ihre Sicht der Dinge schon lange salonfähig gemacht haben – und dass sie überdies noch zu ganz Anderem fähig sind. Die Errungenschaften der selbsternannten Volksbewegung sind bemerkenswert: Wurden doch im ganzen Jahr 2014 „nur“ 198 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte registriert, gab es bis Mitte Oktober 2015 schon 522 Übergriffe. Mit dem Messerangriff auf die inzwischen zur Oberbürgermeisterin von Köln gewählten parteilosen Henriette Reker gab es nun auch einen ersten Gewaltakt gegen eine Politikerin auf höherem Niveau. Zu verdanken ist dies dem Klima, das von Pegida und ihrer parlamentarischen Verbündeten, der „Alternative für Deutschland“ (AfD), geschaffen wurde. Kein Nazi braucht sich mehr hinter dem Stammtisch und seiner zünftigen Bierfahne zu verstecken, im Jahr 2015 sagt man frei raus was man denkt. Und den Rücken bekommt man gestärkt von den neuen Führern, den Bachmännern und Höckers, die vor ihrem versammelten Volk wirre Reden schwingen, von der Islamisierung des Abendlandes phantasieren und Asylbewerberheime als Luxussanatorien beschreiben. Diese Menschen beginnen, keinen Hehl mehr daraus zu machen was sie denken und was sie wollen. Der Journalist Klaus Hillenbrand hat in seinem Kommentar für die taz eine ganz entscheidende Feststellung getroffen: „Wer glaubt, ein paar weniger Asylsuchende in Pirna, Heidenau oder Dresden würden deeskalierend wirken, verkennt, dass es den Fremdenfeinden nicht um Kompromisse geht. Weder wollen diese einen Kompromiss noch sind deren Ansichten kompromissfähig. Sie wollen den autoritären Staat.“ Traurigerweise können wir die, die von sich behaupten aus der „Mitte des Volkes“ zu kommen, nicht einfach in die rechte Ecke verbannen. Vielleicht wäre es darum besser einzugestehen, dass mit Pegida tatsächlich Menschen aus allen Schichten durch die Straßen Dresdens marschieren. Vielleicht sollten wir nüchtern feststellen, dass auch 1933 nicht nur die Verzweifelten, Arbeitslosen und sozial Schwachen der NSDAP und Adolf Hitler mit 43,9% der Stimmen zur Macht verholfen haben, sondern – Menschen aus dem Bürgertum.
Wie wirken wir dieser bedrohlichen Entwicklung entgegen? Wenn unsere Kinder, Enkel oder Urenkel in 30 Jahren mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ nur noch das Jahr 2015 verbinden können, dann haben wir alle jämmerlich versagt. Lassen wir das nicht zu. Eine wehrhafte, lebendige und dynamische demokratische Gesellschaft muss dem aufkeimenden Fremdenhass und der rechten Systemfeindschaft alles entgegensetzen was sie aufzubieten hat: Hetzer wie Björn Höcke, der zuletzt bei Günther Jauch seine Hitparade der unbelegten Behauptungen und Gerüchte zum Besten geben durfte, können leicht durch Argumente und Fakten widerlegt werden, doch das „Volk“ lässt sich nur durch eine Instanz belehren: durch das Volk selbst. Wir müssen denen, die es einfach nicht besser wissen, die andere Wirklichkeit vor Augen führen und sie aus ihrer starren Weltsicht befreien. Das ist unsere Aufgabe, die sich am sinnvollsten nicht durch die Medien (a.k.a. „Lügenpresse“), sondern vielleicht besser von Mann zu Mann oder von Frau zu Frau bewältigen lässt. Doch es wird immer einen harten Kern der Unbelehrbaren geben, mit denen es nicht lohnt in Dialog zu treten. Ab einem gewissen Grad hilft gegen „besorgte Bürger“ deshalb nur noch eins: In der Gegendemo stehen und die Faschisten niederbrüllen, Aufmärsche blockieren und die Abendspaziergänger am Ende des Tages frustriert nach Hause schicken.

Sonntag, 20. September 2015

Lech Wałęsa und die Flüchtlinge

Während in Europa die große Schlacht um die Quote tobt, traf eine Gruppe israelischer Journalisten kürzlich den großen Lech Wałęsa. Der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Staatspräsident Polens organisierte den politischen Wandel seines Landes nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, er verkörpert mit seiner Gewerkschaft Solidarność den demokratischen Aufbruch des Ostens. Was er aber über die aktuelle Situation Europas sagt, könnte die Zuhörenden wahrhaft ins Grübeln bringen.
Wałęsa äußert Verständnis für die ablehnende Haltung seiner Mitbürger gegen syrische Flüchtlinge: „Ich verstehe, weshalb Polen und Europa ihren Zustrom fürchten. Sie kommen von Orten, an denen Menschen enthauptet werden. Wir machen uns Sorgen, dass dasselbe auch uns zustoßen wird“, sagte er der Jerusalem Post. Der ehemalige Präsident hat Angst davor, dass Muslime anfangen könnten, Europäer zu köpfen. Genau davor hatte uns schon Pegida gewarnt, wenn wir uns an die aufreibenden Tage des letzten Dezember und Januar erinnern. Wałęsa hat eine sehr plausible Erklärung: „Wir in Polen haben kleine Wohnungen, niedrige Löhne und magere Renten. Als ich die Flüchtlinge im Fernsehen sah habe ich bemerkt, dass sie besser aussehen als wir. Sie sind gut genährt, gut angezogen und vielleicht sind sie sogar reicher als wir.“

(Reuters, 2015)

Was Wałęsa da sagt, erinnert ziemlich arg an die Facebook-Propaganda der „besorgten Bürger“, die sich regelmäßig auch davon entsetzt zeigen, dass syrische Flüchtlinge durchaus mit Smartphones umzugehen wissen. Doch natürlich zeigt er sich an manchen Stellen auch verständnisvoll für die Flüchtlinge, vor allem in Hinblick auf die Geschichte seines eigenen Volkes: „Ich verstehe sie. Wir Polen waren auch Immigranten und Flüchtlinge während des Kommunismus.“ Aber irgendwie war das dann doch etwas ganz anderes: „Wo immer wir hinkamen, haben wir die örtliche Kultur und die Gesetze geachtet. Diese Einwanderer sind anders. Sogar in der zweiten oder dritten Generation – schauen Sie sich z.B. Frankreich an – wenden sich jene, die gute Bildung genossen und Geld verdient haben, dennoch gegen ihre Gastländer.“
Mit Aussagen wie diesen dürfte Wałęsa den meisten Pegida-Sympathisanten – und eigentlich dem ganzen Osten Europas – aus dem Herzen sprechen. Dabei heroisiert er den osteuropäischen Freiheitskampf auch ein wenig: „Das kommunistische Regime hatte mir angeboten Polen zu verlassen und ein Flüchtling zu werden. Ich habe abgelehnt. Ich bin geblieben um für das zu kämpfen, an was ich geglaubt habe.“ Es ist immer richtig und ehrenhaft, für seine Überzeugungen einzustehen. Doch trotzdem dürfte es schwierig werden, das Polen der 1980er Jahre mit Syrien 2015 zu vergleichen. In Polen gab es – ebenso wie in der DDR – keinen Bürgerkrieg, Aleppo und Damaskus lassen sich heute eher mit dem Warschau von 1945 vergleichen als mit jenem des Jahres 1989. Außerdem dürfte es den meisten Syrern schwer fallen, in diesem unübersichtlichen Bürgerkrieg, in der Realität von heute, auf der richtigen Seite wiederzufinden. In Deutschland wagen es nur die Pegida-Spaziergänger und die NPD, die Frage zu stellen, wieso diese ganzen jungen Männer nicht in ihrer Heimat geblieben sind und kämpfen. Doch anders als der Gewerkschafter Wałęsa wissen die jungen Syrer eben nicht, in welcher Armee oder Miliz sie für ein demokratisches Syrien kämpfen sollen. Während die Welt größtenteils nur zusieht, geraten diese Menschen – egal ob sie vor dem Krieg an der Universität in Damaskus studierten oder in einem kleinen Laden auf dem Basar von Aleppo arbeiteten – zwischen die Fronten. Währenddessen strömen Marokkaner, Saudis und europäische Islamisten zum IS, versorgen Quellen aus der Türkei die Terroristen mit Waffen. Währenddessen unterstützt der Iran die Hizbollah und Deutschland die Peschmerga. Die Russen haben ihre Soldaten rund um Assad platziert, zielen aber in die falsche Richtung, und die Amerikaner sind nach ihrem Irak-Debakel meilenweit davon entfernt, noch aktiver als bisher in dieses Chaos einzugreifen. Erdoğan bombardiert PKK und Peschmerga gleichermaßen, nur will das keiner so wirklich laut sagen. Israel beobachtet, der Libanon schweigt und nimmt Millionen Flüchtlinge auf, die ganze Welt aber schaut im besten Fall zu – im schlechtesten hat sie ihre Finger mit im Spiel. Nein, Herr Wałęsa, diese Menschen könnten nicht für ihre Überzeugungen kämpfen, selbst wenn sie es wollten. Und deswegen kommen sie zu uns.


Das weiß der polnische Politiker selbst. „Es ist wahr, dass ein Teil der neuen Flüchtlinge und Immigranten flieht, weil sie um ihr Leben fürchten.“ Als Nachsatz fügt er natürlich hinzu: „Aber viele wandern auch ein um ihren Lebensstandard und ihre Lebensqualität zu verbessern.“ Okay, aber was machen eigentlich die Millionen Polen, die seit über 100 Jahren in die USA (v.a. 1870-1914), nach Deutschland (ab 1880) und nach Großbritannien (seit 2004) ausgewandert sind? Waren diese Menschen etwa nicht auf der Suche nach einer Verbesserung ihrer Lebensqualität? Und haben diese Menschen etwa nicht auch ihr Brauchtum gepflegt? Polnische Hochzeiten in Chicago waren vor einigen Jahrzehnten auch noch laut und haben den ganzen Tag in Anspruch genommen, Polen haben auch Kirchen gebaut, wenn sie wo hinkamen wo es für sie noch keine Kirche gab. Auch die Polen haben Amerika mit einem ethnischen Volksfest bereichert und so manche Straßenzeile um einen oder zwei oder auch zehn Metzgereien. Auch die Polen haben ihre Identität nicht bei der Einreise abgegeben.
Doch Wałęsa erklärt die Welt simpel und einfach, in wenigen Worten. „Es ist ein Problem. Wenn Europa seine Tore öffnet, werden bald Millionen durchkommen und anfangen, unter uns ihre eigenen Bräuche zu praktizieren, inklusive Enthauptungen.“ Was hat er nur mit diesen Enthauptungen? Sind die nicht eigentlich auch ein Grund, weshalb so viele Syrer fliehen? Leider scheint der polnische Altpräsident nicht zu erkennen, dass es für die Probleme unserer Zeit keine einfachen Lösungen, keine einfachen Antworten gibt. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß, nicht gut oder böse. Und es gibt nicht nur das christliche Abendland und die unzivilisierten Muslime. Es gibt nur eine einzige, riesige Grauzone, aus der man irgendwie seinen Weg heraus bahnen muss. Und Abschottung ist der Weg für all die, die gerne eine einfache Welt hätten, in der man nicht mehr kämpfen, sondern nur noch am lautesten schreien muss.

Montag, 22. Dezember 2014

Zweite Bogida-Demo in Bonn

Oh, Du friedliche Weihnachtszeit…! Heute, am 22. Dezember 2014, fand die zweite Bogida-Demonstration in Bonn statt. Wahrscheinlich ist dies der Anfang einer Reihe von Veranstaltungen gegen Islamismus und die „Islamisierung des Abendlandes“. Man darf sich also – wie in so vielen deutschen Großstädten – auf mehr gefasst machen.


Es waren angeblich über 2.500 Gegendemonstranten,die sich vor dem Rathaus auf dem Bonner Marktplatz versammelten. Anders als letzte Woche war man sich näher, stand sich Auge in Auge gegenüber. Wie angekündigt waren rechte Demonstranten eigens aus dem Saarland angereist. „Saarländer gegen Salafisten“ konnte man auf einem Plakat lesen, hinter dem sich Kahlköpfe mit Deutschlandflaggen postiert hatten. Zu Beginn und am Ende präsentierten die Rechten ihre Redner. Die Stimmung war aufgeheizt, meist gelang es, die Worte von Initiatorin Melanie Dittmer, einer stadtbekannten Persönlichkeit der rechten Szene, zu übertönen. Ein mehr oder weniger prominenter Gast war Udo Ulfkotte, ehemaliger FAZ-Reporter und Politikwissenschaftler, der in der Vergangenheit schon oft wegen islamfeindlicher Haltungen aufgetreten ist und den rechtspopulistischen Verein Pax Europa mitbegründet hat. Von den verschiedenen Rednern gab es wieder die gewohnten Fakten zum gewohnten Zweck: "Es wurden über 3.000 Moscheen gebaut!" - "Asylbewerber machen hier Urlaub!" - "Die Politiker wollen Deutschland islamisieren."


Diese Woche dominierten Hooligans und kahl rasierte Köpfe unter den 250 Teilnehmern, doch auch die eine oder andere Großmutter war unter den Bogida-Demonstranten. Eine von ihnen streckte den lauten Gegendemonstranten ein Plakat entgegen, das über die Bösartigkeit des Islam aufklärte, man winkte sich höhnisch zu und würdigte sich mit Stinkefingern. Ein Nazi drehte durch und wurde abgeführt, ein paar Antifas warfen mit Plastikbechern. Doch dann setzte sich der Zug in Bewegung und den Rechten gelang es dieses Mal tatsächlich, ihren „Abendspaziergang“ zu vollführen. Die Straßen waren gesäumt von Polizeisperren und Uniformierten mit Helmen, laut vorherigen Berichten waren 900 Polizisten im Einsatz. Jenseits der Sperren warteten die gegendemonstrierenden Hundertschaften mit Pfiffen und Sprechchören, sogar aus den Fenstern der umliegenden Häuser kam das eine oder andere Plakat.


Auch anderswo in Deutschland kam es heute zu Demonstrationen. Allerdings sieht es nicht überall gut aus für den Widerstand gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus: In Dresden zum Beispiel konnten sich gegen 17.500 Pegida-Demonstranten nur 4.300 Bürger_innen mobilisieren. Die Rechten haben gegenüber letzter Woche einen Zulauf erfahren. In München gingen aber immerhin 12.000 Menschen gegen die Pegida-Bewegung auf die Straße. Höchstwahrscheinlich wird die Welle des Ausländerhasses und der Islamfeindlichkeit uns auch nächstes Jahr begleiten. Doch die Bonner Bogida hat durch ihre kahlköpfigen Unterstützer ein für alle Mal klargemacht, wo sie zu verordnen ist – am äußeren rechten Rand dieser Stadt.


Bericht zur ersten Bogida-Demo: hier.

Freitag, 12. Dezember 2014

"Sie sind überall!" - Faktencheck und nachdenkliches Kopfschütteln

Der Spiegel macht den Faktencheck zu Behauptungen der Pegida („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“), widerlegt falsche Behauptungen und uralte Ressentiments. Sogar GMX fragt: „Was ist dran an den Vorurteilen?“ So stellt man sich den neuen alten Ängsten derjenigen, die von sich selbst behaupten, aus der Mitte der Gesellschaft zu kommen. Die Zeitungen und Magazine schreiben angestrengt gegen jene Kräfte an, die in Dresden kürzlich 19.000 „besorgte Bürger“ mobilisieren konnten, um gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ zu demonstrieren. Zumindest versuchen sie es.
Doch wo schreiben hoffnungslos erscheint, muss man fragen: Was treibt diese Menschen an? Woher kommt die Angst – und wie kann man ihr begegnen?

Die immer gleichen Vorurteile

Die gängigsten Vorurteile und Behauptungen lassen sich mittlerweile sogar mit Statistiken und in Stein gemeißelten Zahlen widerlegen. Dass Zuwanderung den fleißigen Deutschen nur Geld kosten würde, hat eine Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) als falsch erwiesen: Die 6,6 Millionen Menschen ohne deutschen Pass haben im Jahr 2012 für einen Überschuss von rund 22 Milliarden Euro gesorgt. Jeder Ausländer und jede Ausländerin zahlt pro Jahr etwa 3.300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben, als er oder sie an staatlichen Leistungen erhält.
Nun gut, aber kriminell ist der Ausländer an und für sich ja doch, oder? Wieder falsch. Die polizeiliche Kriminalstatistik (ebenfalls 2012) offenbart, dass nur jeder vierte Tatverdächtige keinen deutschen Pass hat – darin inbegriffen Touristen und aus dem Ausland agierende Banden.

Das älteste aller Vorurteile müsste heutzutage eigentlich gar nicht mehr thematisiert werden, gäbe es nicht einige Hetzer und ihre ungebildeten Fußsoldaten, die immer noch an das Märchen von der weggenommenen Arbeit glauben: Ausländer nehmen den fleißigen Deutschen die Arbeitsplätze weg. – Die Zahlen sprechen auch hier eine andere Sprache, der Mangel an Fachkräften und die Vielzahl unbesetzter Lehrstellen in vielen Regionen Deutschlands untermauern die Statistik. Währenddessen arbeiten studierte Iraner mitunter als Taxifahrer in Köln oder München, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden.
Aber wenn wir ehrlich sind, hat „der Ausländer“ immer nur die Drecksarbeit gemacht – und wurde genauso behandelt wie das, was er wegputzen musste. Wer sich an die Achtziger und Günter Wallraffs „Ganz unten“ (1985) nicht mehr erinnern kann, der sei an dieser Stelle auf die entsprechenden Links verwiesen.

„Sie sind überall“

Wer mit dem Jargon der extremen Rechten vertraut ist, dem muss jedes Mal ein Schauer über den Rücken laufen, wenn er Stimmen aus der Mitte der Gesellschaft mit dem Begriff „Überfremdung“ jonglieren hört. Was bitte soll man darunter verstehen? Von Überfremdung singen „national gesinnte“ Liedermacher mit weinerlicher Stimme, gegen die Überfremdung schreien neubraune Führer in Bierzelten auf NPD-Kinderfesten an – aber in der bürgerlichen Mitte hat diese Sprache nichts verloren, nicht zuletzt weil die Aussage, die dahinter steht, grober Unfug ist. Wenn sich ein ganzes Land fremd wird, dann hat es größere Probleme als die Zuwanderung.

Die Diskussion um Zuwanderung, Integration und Migranten hält mittlerweile schon zu viele Jahre an, ohne wirklich Ergebnisse zu liefern. Bei den zuvor genannten Vorurteilen und den dazugehörigen Diskussionen am sprichwörtlichen Stammtisch geht es in Wirklichkeit nicht um Tatsachen – auch nicht beim Thema Muslime. Es geht um subjektives Empfinden. Denn Fakt ist: Muslime machen in Deutschlands gerade einmal um die 5 Prozent der Bevölkerung aus. Eine verschwindend kleine Minderheit, vor der das deutsche Abendland eigentlich keine Angst zu haben braucht. Doch fragt man jenen Teil der Bevölkerung, der Angst vor „dem Islam“ hat, so wird der Anteil der Muslime um ein Vielfaches höher eingeschätzt. Dieses Phänomen gibt es nicht nur in Deutschland, sondern überall, wo Einwanderer ankommen und sich ins alltägliche Stadtbild integrieren. So wird z.B. auch in Großbritannien der prozentuale Anteil von Muslimen und Ausländern zu hoch eingeschätzt.
Die Angst vor dem Fremden hat die Tendenz, sich bisweilen in eine unkontrollierbare Hysterie zu steigern. Doch wie kommt man gegen die neue Bewegung der Angstbürger an? Scheinbar nicht mit Zahlen und Fakten, denn die Anhänger dieser selbsternannten Bürgerbewegungen glauben nur der eigenen Statistik: Sie sehen einige überwiegend von Arabern bevölkerte Stadtteile, eine größtenteils von fremdländisch aussehenden Kindern besuchte Schule, ein morgenländisches Gebetshaus und können es angesichts dessen nicht ertragen, dass in ihrer Heimat auch andere Menschen heimisch geworden sind.
Die Angst vor dem Unbekannten – oder noch schlimmer: vor dem aus politically incorrecten Gruselmärchen schon bekannt Erscheinenden – ist es, die neuerdings Massen auf die Straße bringen kann. Seit dem Elften September ist das Kopftuch, das unsere deutschen Großmütter vor vierzig oder fünfzig Jahren noch wie selbstverständlich trugen, zu einem Symbol der „Überfremdung“ geworden. Die Debatte über entweder unterdrückte oder fundamentalistische „Kopftuchmädchen“, die in Wirklichkeit doch eigentlich nur ihren Glauben leben und in Ruhe gelassen werden wollen, scheint erst jetzt abzuflauen, da man endlich ein handfestes, brandgefährliches und noch bedrohlicheres Beispiel für die Schattenseiten der islamischen Kultur gefunden hat: Während Terroristen und Theokraten im Nahen Osten ein Kalifat des Schreckens zu errichten versuchen, fühlen sich die rechten Hetzer und Breivik-Anhänger in der Echtheit des Konstrukts, das sie „Islamisierung des christlich-jüdischen Abendlandes“ nennen, bestärkt.

Willkommenskultur – Auffanglagerkultur

Ressentiments gegen Ausländer und Zuwanderungskritik gibt es seit der ersten Stunde deutscher Einwanderungsgeschichte. Bis zum heutigen Tag hat sich die Stimmung zu einem neuen Höhepunkt seit den 1990er Jahren hochgeschaukelt, doch der Grund ist nicht etwa die aggressive Missionierungskultur rheinländischer Salafisten. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, dass immer mehr Menschen – und darunter auch viele Flüchtlinge aus arabischen Ländern – in Deutschland Schutz vor Krieg, Vergewaltigung und Mord suchen. Denn mehr noch als das geliebte Vaterland lieben der und die Deutsche das Geld, das im Namen der deutschen Allgemeinheit ausgegeben wird. Und da kommt es vielen gerade Recht, wenn ihnen jemand erzählt, dass hunderttausende Asylbewerber_innen in Deutschland wie Gott in Frankreich leben. Bei Pegida-Demonstrationen wetterte der Initiator Lutz Bachmann gegen „Heime mit Vollversorgung“ für Flüchtlinge, während sich die deutschen Alten „manchmal noch nicht mal ein Stück Stollen leisten können zu Weihnachten“. Wie groß muss der Hass eines Volkes sein, wenn es seine Alten in miserable Heime steckt und dann Bürgerkriegsflüchtlinge zu Schuldigen erklärt?

Die ZEIT (04.12.2014, Nr. 50) berichtet über die aktuellen Zustände in vielen Lagern. Es wird auch der Kinderarzt Andreas Schultz zitiert, der in einem Asylbewerberheim in München Kinder behandelt.

Manchmal, sagt Schultz, erinnere ihn München an den Sudan. […] An die hundert Kinder wohnen in der Notunterkunft, viele von ihnen seien krank, sagt Schultz. Er hört ihren Brustkorb ab, untersucht ihre Ohren und Atemwege. Er erzählt von Kindern, die eitrige Mandeln haben, weil sie seit Tagen im Zelt schlafen. Von Jungen und Mädchen, die apathisch an die Decke starren, weil es kein Spielzeug gibt. Von Jugendlichen, die nachts vor Kummer schreien und tagsüber Bilder mit blutüberströmten Menschen malen. Von Babys, die Durchfall bekommen, weil sie das Essen im Heim nicht vertragen. „Die Kleinen bräuchten Brei“, sagt Schultz. „Stattdessen setzt man ihnen Hackfleisch vor.“

Vollverpflegung sieht anders aus. Das interessiert Leute wie Pegida-Bachmann aber nicht. Dabei geht es hier nicht einmal um Zuwanderung an sich, denn Asylbewerber sind zunächst einmal Schutzsuchende. (Oft wird dies auf beiden Seiten missverstanden: Asylgegner argumentieren, das Boot sei voll. Deutschland könne nicht noch mehr Menschen durchfüttern. Asylbefürworter argumentieren dagegen beim Thema Asyl, Deutschland bräuchte doch Zuwanderung, allein schon um die Wirtschaft am Laufen zu halten.)  Doch Flüchtlinge in Deutschland wollen in allererster Linie als Menschen behandelt werden und nicht als Zahlen, Nummern und Objekte. Sie wollen ein Leben in Würde führen. Ein Recht, das ihnen das Grundgesetz eigentlich zugesteht.
Dabei sind die meisten Deutschen gastfreundlich – nur eben nicht im eigenen Wohngebiet:

Im wohlhabenden Hamburger Stadtteil Harvestehude wird seit Oktober um ein Asylbewerberheim gestritten. Einige Nachbarn sind gegen das Heim vor Gericht gezogen, sie sagen, sie hätten Angst vor „Kinderlärm“. Harvestehude ist kein kinderfeindlicher Ort. Es gibt „Wohlfühlkindergärten“ mit Biofrühstück und Kinderyogakursen, es gibt Kochschulen für Zwölfjährige und Kieferorthopäden speziell für Kinder. In manchen Flüchtlingsheimen gibt es nicht einmal Zahnbürsten. In Würzburg zum Beispiel werden Zahnbürsten nur an Asylbewerber verteilt, die älter als zwölf Jahre sind. Deutsche Kinder bekommen Zahnputzkurse, sie haben kaum noch Karies. Viele Flüchtlingskinder kann man an ihren schlechten Zähnen erkennen, sie sind oft braun und morsch. Wenn ein deutsches Kind Karies hat, bohrt man ein Loch und füllt den Zahn. wenn ein Flüchtlingskind Karies hat, wartet man, bis der Zahn verrottet ist, so will es das deutsche Gesetz.

Das ist eigentlich zum Heulen. Menschen leben in Baracken, bekommen nicht einmal Hartz-IV und alleinstehende Männer versuchen häufiger als der umliegende deutsche Durchschnitt, sich selbst das Leben zu nehmen. Doch der Mainstream will in den Zeitungen lieber von ungerechtfertigter Vollverpflegung oder Drogenrazzien lesen.

„Ich bin autochthoner Deutscher.“ – „Ist das heilbar?“

„Bürgerbewegungen“ wie die Pegida und viele andere sprechen das offen aus, was (zu) viele Deutsche mittlerweile oder noch immer denken. Sie vertreten ein unvertretbares Deutschlandbild, in dem unterschieden wird zwischen Einheimischen und „Gästen“, die oft seit Generationen ihre Steuern in Deutschland zahlen, nie wirklich wie Gäste aufgenommen wurden und auch so schnell wie möglich wieder verschwinden sollen. Sie werfen diesen Gästen vor, undankbar zu sein. Dabei sind sie es selbst, die undankbar sind. In einem Land, das aus jeder Krise nahezu unbeschadet hervorgeht und sich dennoch bemitleidet, haben Zuwanderer oder Flüchtlinge dennoch keinen Platz. Im Land der Dichter und Denker denkt man immer weniger und dichtet nur noch selten – allerdings nicht deshalb, weil Zuwanderer, Asylanten oder Salafisten einen davon abhalten würden, sondern weil es viel komfortabler ist, erst einmal einen Schuldigen für ein aktuelles Schlamassel zu suchen. Doch vielleicht ist es die Art des (und der) Deutschen an sich: Wir haben schon mit uns selbst ein Problem, da brauchen wir nicht noch Andere, mit denen wir mehr Probleme haben können.

Doch wann fangen wir endlich an, uns um die wirklichen  Probleme zu kümmern – gemeinsam?

Samstag, 2. November 2013

Antisemitismus in Deutschland - Zur ARD-Reportage (28.10.2013)

Am 28. Oktober 2013 gab es in der ARD eine ziemlich interessante Reportage zum Thema Antisemitismus in Deutschland heute. Um mal so viel vorweg zu nehmen: Auch wenn die kurze Beschreibung in der ARD-Mediathek anderes vermuten lässt, geht es nicht ausschließlich um muslimische Judenfeindschaft in Berlin. Die Dokumentation ist meiner Meinung nach nicht so voreingenommen, wie sie sich zunächst präsentiert. Denn vor allem dann, wenn beim Thema Antisemitismus auch der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern angesprochen wird, ist das Risiko von Missverständnissen groß. In der Reportage geht es aber auch um viel bedeutendere Facetten: Judenhass in der bürgerlichen Mitte, Vorurteile, Klischees und abgetrennte Schweinsköpfe.

(Zur Dokumentation geht' hier.)

Natürlich ist es nicht ganz einfach, das komplette Thema in seiner Gesamtheit durch 44 Minuten Film abzubilden. Deshalb bleibt die Dokumentation nicht ganz ohne Angriffspunkte. Dass sich die Unterscheidung von (legitimer) Israelkritik und modernem Antisemitismus auf einem äußerst schmalen Grat bewegt, ist bekannt. Deutlich wird dieser Sachverhalt, als die Macher auf den Boykott von in israelischen Siedlungen hergestellten Waren eingehen. „Boykott heute und gestern“ heißt es im Hinblick auf den Boykott jüdischer Waren zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in den Dreißigerjahren. Trifft dieser Vergleich wirklich zu?
Andererseits wird deutlich, auf welche Erkenntnis die Reportage beim Zuschauer abzielt: „Wenn für Juden, wenn für Israel andere Maßstäbe gelten als für den Rest der Welt – das ist Antisemitismus.“ Und damit liegen die Macher ganz richtig. Untermauert wird diese Feststellung durch aktuelle Umfragen: Etwa 38,4% der Befragten in einer Umfrage des deutschen Innenministeriums äußerten angesichts der Politik, die Israel macht, Verständnis dafür, dass man etwas gegen Juden hat – obwohl das eine mit dem anderen nicht zwangsläufig etwas zu tun hat. Sogar 40,5% der Befragten waren der Meinung, Israel behandle die Palästinenser im Prinzip so wie die Nationalsozialisten damals die Juden – eine These, über die man manchmal zu streiten versucht, die aber keiner wissenschaftlichen Betrachtung standhält.

Natürlich, es gibt zwar weder eine Italienkritik noch eine Islandkritik, aber Kritik an der Politik Israels ist mit Recht sehr wohl erlaubt. Die Bevölkerung von Gaza, einer im Nahen Osten als Hafen- und Handelsstadt seit Jahrtausenden mal mehr, mal weniger bedeutenden Metropole, leidet enorm unter der Blockade durch das israelische Militär. Die Menschen im Westjordanland brauchen wegen der Checkpoints ihrer israelischen Besatzer doppelt oder dreimal so lang auf ihrem Weg zur Arbeit, in die Schule oder ins Krankenhaus und Bauern verlieren ihre Felder an militärische Sperrgebiete und marodierende Siedler. Und bei Luftangriffen auf Hamas-Führer werden teilweise ganze Familien ausgelöscht. Das alles ist kein Geheimnis und lässt sich auch mit dem Sicherheitsbedürfnis des territorial recht kleinen israelischen Staates nicht begründen. Kritik, auch scharfe, ist erlaubt und muss erlaubt sein. Wenn man aber legitime und begründete Kritik nicht äußert mit der Begründung, man würde danach ja als Antisemit gelten, dann ist man selbst schuld, wenn diese legitime Kritik nicht erhört wird.
Die ARD-Dokumentation über modernen Antisemitismus in Deutschland spricht aber von genau denjenigen Menschen, die Israelkritik als Vorwand nehmen, um ihrem Antisemitismus Luft zu verschaffen. Und die sind immer noch erschreckend zahlreich. Viele Israelgegner sprechen im ersten Satz von unterdrückten Palästinensern und im zweiten schon von Geldgier, Weltherrschaft und mitunter auch von krummen Nasen.

Meiner Meinung nach sollte man die Themenblöcke Antisemitismus und Nahostkonflikt oft auch getrennt betrachten. Zwar unterliegen beide Schlagworte einer starken gegenseitigen Beeinflussung, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn man die Fülle und Komplexität beider Themen ausschließlich unter dem Vorzeichen dieser Beeinflussung betrachtet und das eine auf das andere zurückführt, übersieht man auf beiden Seiten unendlich viele andere, durchaus bedeutendere Faktoren, deren Vernachlässigung gravierende Folgen haben kann. Der Antisemitismus ist in Deutschland immer noch verwurzelt, wie auch anderswo in Europa.

Die ARD-Reportage ist auf jeden Fall sehenswert und informativ. Man sollte sie unvoreingenommen bis zum Ende anschauen, denn wer will, wird schon nach den ersten Minuten einen Grund zum Einspruch finden – egal welche Meinung er vertritt, denn das hat dieses Thema nun einmal an sich.

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Anmerkungen zum Wort Antisemitismus

Für alle Besserwisser: Ich weiß natürlich, dass „Antisemitismus“ nicht wörtlich „Judenhass“ bedeutet. Zu den „Semiten“ gehören schließlich auch die Araber, obwohl ich glaube, dass weder die einen noch die anderen wirklich von jenem Sem, dem Sohn Noahs, abstammen. Ich schließe mich deshalb dem Duden an, der Antisemitismus offiziell definiert als „Abneigung oder Feindschaft gegenüber den Juden“. 

Dienstag, 22. Oktober 2013

Der Fall Florian H.

„Bad Cannstatt: Aus bislang ungeklärter Ursache ist am Montagmorgen (16.09.2013) gegen 09.00 Uhr an der Mercedesstraße ein Peugeot in Brand geraten.“ – So beginnt die Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Stuttgart. Ein Zeuge habe Rauchentwicklung bemerkt und das brennende Auto entdeckt. Der Insasse des Wagens sei verbrannt.
In den folgenden Wochen sorgte der Fall des 21jährigen Florian H. aus Eppingen (Landkreis Heilbronn) für Wirbel, aber nicht für die wirklich großen Schlagzeilen. Dabei ist der Sachverhalt äußerst interessant: Ein Aussteigewilliger aus der rechten Szene wird als Zeuge vernommen, zum NSU und seinem Bezug zu Baden-Württemberg. Dabei erwähnt er auch eine bisher unbekannte Gruppierung, die NSS („Neoschutzstaffel Öhringen“). Und genau an dem Tag, an dem er zum zweiten Mal an einem geheimen Ort in Stuttgart vor den Ermittlern des Landeskriminalamtes aussagen soll, verbrennt er in seinem Auto, in der Nähe des Canstatter Wasens, um 9.00 Uhr morgens. Angeblich auf der Zufahrt desselben Campingplatzes, auf dem sich schon die drei NSU-Terroristen aufgehalten haben sollen. Die Polizei stellt Suizid als Todesursache fest, der Fall wandert zu den Akten.

© 7aktuell
Vielleicht war es ein Selbstmord. Vielleicht hielt Florian H. dem Druck nicht mehr Stand. Und doch, es bleiben einige Merkwürdigkeiten bestehen. Der junge Mann hinterließ keinen Abschiedsbrief, obwohl das Motiv laut dem Stuttgarter Polizeisprecher Thomas Ulmer „im Bereich einer persönlichen Beziehung liegen“ würden. Zumindest ungewöhnlich. Die Mutter des Toten sagt: „Florian war ein sehr lebenslustiger und kritischer Mensch. Er hatte so viele Träume, Wünsche und Ziele. Wer ihn gekannt hat, geht nicht von einem Suizid aus.“ Er hatte außerdem noch einige Termine. Am Tag seines Todes hätte H. eine neue Stelle als Lehrling bei einer Baufirma antreten sollen – und er hatte um 17.00 Uhr einen Termin mit der Polizei.
Schon vor Bekanntwerden der NSU-Morde sprach H. angeblich von einem rechtsextremistischen Hintergrund des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Man hielt ihn für einen Wichtigtuer, bis die Terrorgruppe aufflog. Später erwähnte H. die NSS Öhringen und bezeichnete sie nach dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ als zweitradikalste Gruppe in Deutschland. Es habe sogar ein Treffen zwischen den beiden Gruppierungen gegeben, behauptet er. Auch jetzt hielt man ihn für größenwahnsinnig, weil er sich bei den Aussagen in Widersprüche verstrickte. Er hatte behauptet, den Polizistenmörder zu kennen, konnte bei der Vernehmung jedoch keine Namen nennen.
Dann drängt das LKA nach Monaten plötzlich auf ein erneutes Treffen. Zwischen dem ersten Termin im Januar 2012 und der zweiten, nicht mehr stattgefundenen Befragung lagen mehr als eineinhalb Jahre. Egal, was Florian H. aussagen sollte, er kam nicht mehr dazu. Entweder hat er es selbst verhindert – und dann stellt sich die Frage nach dem Warum – oder er ist verhindert worden. Dabei trennten den Ort, an dem er angeschnallt, in aufrechter Sitzposition und 50 Kilometer von seinem Heimatort entfernt starb, nur 700 Meter vom Landeskriminalamt. Die Stuttgarter Polizei bestreitet zudem nicht, dass es am Ort des Suizids eine Explosion gegeben habe. Allerdings seien auch Spuren von Brandbeschleunigern gefunden worden. Wollte H. den beiden NSU-Terroristen Böhnhardt und Mundlos nacheifern, die ebenfalls vor ihrem Tod das eigene Auto in Brand setzten? Man weiß es nicht. Man könnte aber durchaus in dieser Richtung weiter ermitteln. Doch die Polizei ermittelt nicht weiter.

Sind die zahlreichen Ungereimtheiten nur Zufall? Vielleicht. Doch wie oft haben sich – gerade im Zusammenhang mit dem NSU – viele gemutmaßten Zufälle als fatale Irrtümer und Fehleinschätzungen erwiesen? Es bleiben auf jeden Fall noch eine Menge Fragen offen. Vielleicht würde es sich lohnen, in Baden-Württemberg einen eigenen NSU-Untersuchungsausschuss einzurichten, um Licht hinter all die Zusammenhänge zu bringen.

Ein Informant beschrieb H. dem Schwäbischen Tagblatt zufolge als labil. Und trotzdem meint er: „Mein erstes Gefühl sagte mir, jetzt haben sie ihn doch noch gekriegt.“

Sonntag, 20. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 4)

(Teil 4 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

Das „Deutsche Polizei-Hilfswerk“ (DPHW)

Im Gegensatz zu den meisten Begriffen sagte mir das sogenannte „Deutsche Polizei-Hilfswerk“ überhaupt nichts, als ich zum ersten Mal davon hörte. Beim näheren Hinschauen war ich aber zumindest beunruhigt.
Zwar melden Internet-Quellen, dass sich das DPHW schon im Juni aufgelöst hätte, doch die offizielle Homepage der Organisation sagt etwas anderes. Dort wird immer noch Werbung gemacht.

Werbeplakat des DPHW
Was ist das DPHW? – Die Mitglieder der Organisation verstehen sich als eine Art Bürgerwehr, in der natürlich nicht nur groß gewachsene, blonde Germanen willkommen sind. Wie die meisten ihrer Art zeigt sich auch diese Gruppe offen für alle Bürger. Das DPHW will „Lücken schließen“, die durch mangelnde Polizeipräsenz entstanden sind. Recht und Ordnung sollen durchgesetzt werden, Gesetzesverstöße werden „durch öffentliches Einschreiten“ abgestellt, heißt es auf der DPHW-Website. „Die Nachbarschaftshilfe und das menschliche Miteinander sollen dabei wieder in den Vordergrund gerückt werden.“ Man könnte es auch organisierte Selbstjustiz nennen.
Beispielhaft ist ein Vorfall vom November 2012:

Die Hilfspolizisten in Uniform gerieten den Ermittlern ins Visier, als sie am 23. November des letzten Jahres einen Gerichtsvollzieher in Bärwalde bei Meißen festnahmen, als dieser dort Schulden eintreiben wollte. Die Amtsperson musste von der richtigen Polizei befreit werden. Der Mann ist seither krank. Offensichtlich ist das kein Einzelfall. Mehrfach versuchte das Polizeihilfswerk, die Vollstreckung von Geldforderungen zu verhindern. Am 11. Oktober in Sonneberg: Hier musste die echte Polizei eingreifen, weil Mitglieder des DPHW den Chef des Finanzamts bedrängten. Und am 29. November wurde die echte Polizei in Weimar gerufen, weil Uniformierte des DPHW eine Gerichtsvollzieherin festnehmen wollten. Gegen sieben Beschuldigte wird nun ermittelt.
(Quelle: Exakt/MDR)

Das DPHW hat – wie auch z.B. der „Freistaat Preußen – eine überraschend gut organisierte Internet-Präsenz. Die Homepage macht einen vertrauenserweckenden Eindruck – auf den ersten Blick. Pressesprecher dieser Miliz ist Holger Fröhner, der in seinen weitgehend unbekannten Büchern (Die Jahrhundertlüge) ideologisch betätigt und im März 2013 von Fahndern des Operativen Abwehrzentrums Rechtsextremismus festgenommen wurde.
Derzeitiger Vorstand des DPHW ist Volker Schöne, der sich ebenfalls in Presseerklärungen der Organisation zu Wort meldet. Dort wirft er mit Zitaten von Mahatma Gandhi um sich, doch auf seiner privaten Homepage verweist er auf vaterländische Rechtsrock-Lieder wie z.B. „Wenn der Wind sich dreht“ von Faktor Widerstand.

Diese Selbstdarstellung des DPHW soll darüber hinwegtäuschen, dass es
sich bei der Bürgerwehr um einen Verein rechter Macht-Junkies handelt.
Das DPHW ist eine polizeiähnliche Organisation mit rechtsextremem Hintergrund – wer findet das noch beunruhigend? Was noch beunruhigender ist: Man weiß zu wenig über solche rechten Umtriebe. Das zu ändern war meine Intension, als ich diesen Blogeintrag geschrieben habe.

Fazit

Sollten bei einigen meiner Leser Zweifel an der Existenz der Bundesrepublik aufkommen, möchte ich zum Schluss auf eine Erklärung des Amtsgerichts Duisburg aus dem Jahr 2006 verweisen:

„Das Deutsche Reich in seiner historischen Gestalt ist spätestens mit der bedingungslosen Kapitulation aller Streitkräfte vom 7. und 8. Mai 1945 institutionell vollständig zusammengebrochen. Seine damals noch vorhandenen Organe und sonstigen staatsrechtlichen Strukturen sind im Mai 1945 auf allen Ebenen endgültig weggefallen, an ihre Stelle sind in den folgenden Jahren, zuletzt durch die deutsche Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990, neue, durch allgemeine Wahlen historisch und rechtlich uneingeschränkt legitimierte Strukturen getreten.“

Eine etwas knappe Erklärung, die sich jedoch weitgehend mit anderen Gerichtsurteilen deckt – und mit dem gesunden Menschenverstand.

Samstag, 19. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 3)

(Teil 3 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

Stellen die „Reichsbürger“ eine Gefahr dar? Was steckt hinter ihrer Ideologie?

Nach außen hin stecken hinter den Ideologien meist nur Landkarten von 1937 und uralte, preußische Gesetze, doch hinter vielen der Namen verbergen sich großkalibrige, rechte Persönlichkeiten. Und diese Persönlichkeiten wollen dem deutschen Volk zu seinem Recht verhelfen, sich selbst zu regieren, denn sie lehnen die gewählten Volksvertreter der Bundesrepublik ab. Neben Esoterikern und missverstandenen Freigeistern finden sich in den Reihen der „Reichsbürger“ auch waschechte Systemfeinde und Neonazis wie etwa der Holocaustleugner und ehemaliger RAF-Rechtsanwalt Horst Mahler, der schon vor Jahren auf die Seite der Rechten wechselte.

Die meisten „Reichsbürger“ weisen den Vorwurf, sie seien Nazis, entschieden zurück. Die bürgerliche Fassade soll stets gewahrt werden. Auch auf der Seite der RBU wird schon ganz am Anfang der Eindruck erweckt, hier sei aus der Vergangenheit gelernt worden: „Es lebe Deutschland!“, habe der Widerstandskämpfer Graf von Stauffenberg vor seiner Erschießung gerufen. „Er meinte mit Deutschland das Reich – an das sich die Mitglieder der Reichsbürger-Union weiter halten wollen“, sagen die „Reichsbürger“.

Heutzutage ist es sehr populär, „unbequeme Wahrheiten“ auszusprechen. Und so gelingt es den „Reichsbürgern“ meist, geschickt in der Masse der Verschwörungstheoretiker unterzutauchen. Hinter der von „Reichsbürgern“ oft zur Schau gestellten Ablehnung von Militäreinsätzen deutscher und europäischer Streitkräfte oder ihrer Feindschaft gegen die Banken und die gelebte Form des Kapitalismus stehen keine modernen, sondern vielmehr uralte und längst gescheiterte Staatskonzepte, die auf nationalistischen Theorien zu Wirtschaft und Gesellschaft basieren.
Viele „Reichsbürger“ sind noch dazu einfach hochkarätige Nazis, die durch ihre Aktionen immer wieder auffallen. So verfasste ein gewisser „Reichsbürger Walther“ im April 2004 einen „Offenen Brief“ an einen Schulleiter in Bernau bei Berlin, in dem er eine baldige Bestrafung androht. Der Grund: „Sie stehen an vorderster Front, wenn es gilt, unsere Jugend mit der Auschwitz-Lüge seelisch zu vergiften“.
Eine Bewegung, mit der viele „Reichsbürger“ in Kontakt stehen, ist das Internetprojekt Nürnberg 2.0 Deutschland. Diese „Erfassungsstelle zur Dokumentation der systematischen und rechtswidrigen Islamisierung Deutschlands“ will alle „Verantwortlichen“ zur Rechenschaft ziehen. 
Der Brandenburger Verfassungsschutz hat Teile der Bewegung als „hochgefährlich“ eingestuft. Deshalb sollte man die „Reichsbürger“ nicht als Spinner wahrnehmen, nur weil sie sich hinter einer Wand von ebensolchen verstecken. Es sind durchaus waschechte, rechte Ideologen, von denen eine Gefahr ausgehen kann.

Das Internet dient ihnen – wie an einigen Beispielen schon verdeutlicht – als Rednerpult, auf Facebook-Seiten scharen sie Anhänger um sich und auf Video-Portalen bringen sie ihre Botschaften unter, ohne zwangsläufig ihre komplette Identität offensichtlich werden zu lassen. So erkennt man z.B. bei Andreas Popp, der im Internet seine Wissensmanufaktur betreibt, nur auf den zweiten Blick, dass er als „Reichsbürger“ die Bundesrepublik Deutschland ablehnt.

Neben Internet-Ideologen gibt es jedoch noch Personengruppen eines anderen Kalibers, die mit den „Reichsbürgern“ in Verbindung stehen: Zum „Deutschen Polizei-Hilfswerk“ (DPHW) folgt morgen der letzte Beitrag der aktuellen Reichsextremismus-Reihe 2013.

Freitag, 18. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 2)

(Teil 2 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

Zahlreiche Staatsgründungen

Die „Reichsbürger-Union“ (RBU) hat nur ca. 50 Mitglieder. Insgesamt dürfte es aber in jedem Bundesland mehr als 100 und in manchen sogar mehrere hunderte von ihnen geben. Auffallend sind vor allem die zahlreichen „Staatsgründungen“, die sich in den letzten Jahren ereignet haben. Erst am 19. Oktober 2012 wurde der „Freistaat Preußen“ (wieder)gegründet – von einem Personenkreis, in dessen Führung auch die brandenburgische NPD-Politikerin Bärbel Redlhammer-Raback agiert. Der Staat „Germanitien“ wurde dagegen schon 2007 geschaffen. Seine derzeitige Präsidentin stammt sogar aus meiner Geburtsstadt... - Es existiert auch eine Neuauflage des zur Zeit der Weimarer Republik existenten „Freien Volksstaates Württemberg“ und seit September 2012 gibt es auch ein „Königreich Deutschland“, am Stadtrand von Wittenberg in Sachsen-Anhalt. Der „König“, Peter Fitzek, wird vom Verfassungsschutz beobachtet.

Flagge der Republik Germanitien
Einige dieser Umtriebe sind also noch recht aktuell, ihren Anfang nahm die organisierte Form der Reichsbürgerbewegung jedoch im Jahre 1985. Damals gründete Wolfgang Ebel in Westberlin die „Kommissarische Reichsregierung des Deutschen Reichs“, den bis heute existierenden Vorläufer aller „Reichsbürger“-Organisationen. Bekannt ist auch eine andere Scheinregierung, die „Exilregierung Deutschen Reich“, die sogar selbsternannte „Reichspräsidenten“ vorweisen kann.

Ein Verein von Spinnern?

Sind die „Reichsbürger“ ein Verein von Spinnern? Der Eindruck könnte durchaus entstehen. Viele Verschwörungstheoretiker, die die Existenz der Bundesrepublik anzweifeln, hängen auch noch anderen Theorien an und vertreten äußerst bizarre Ansichten. So ist zum Beispiel Norbert Schittke, selbsternannter „Reichspräsident“ der sogenannten „Exilregierung des Deutschen Reiches“ der Meinung, dass auch die Kondensstreifen am Himmel, die „ acht Stunden stehen bleiben“, etwas zu bedeuten hätten. Sie seien ein Beweis dafür, dass der Abbau der Menschheit um 85% aktiv betrieben. Politik und Weisheit bzw. Wissenheit verschwimmen hier miteinander. Oft ist es auch ein Mix aus Esoterik, Religion und Nationalismus, der den „Reichsbürgern“ zu Kopf steigt – oder die vermeintliche Chance, durch ein gesetzliches Schlupfloch den Steuerzahlungen zu entkommen. In einer Erklärung des Amtsgerichts Duisburg wird zusammengefasst, dass hinter den Motiven der „Reichsbürger“ rechtsextreme, aber auch finanzielle Absichten sowie ideologische Wahnvorstellungen stecken würden.

Eine Gefahr sind die ideologischen Anführer der „Reichsbürger“ vor allem für jene Menschen, die sich auf ihre Steuertipps einlassen. Vorgedruckte Formulare und Briefe sollen dabei helfen, dem Finanzamt zu trotzen. Oft musste schon mit einer Anzeige rechnen, wer mit den Ratschlägen der „Reichsbürgern“ argumentiert hat, im schlimmsten Fall haben sich Menschen bis über beide Ohren verschuldet. Blinder Glaube an Verschwörungstheorien, naives Wunschdenken und oftmals bloße Dummheit sind Eigenschaften, die den „Reichsbürgern“ entgegenkommen. Diese verbreiten ihre Ansichten über das Internet und auch über Bücher: Meist publizieren die Autoren im Eigenverlag, so auch Hans-Peter Thietz, ein ehemaliges Mitglied der letzten, frei gewählten Volkskammer der DDR. Er vertritt hauptsächlich antisemitische und revisionistische Positionen, aber auch kreationistische und esoterische. In seinem Buch Die Satanisierung des Neuen Testaments behauptet er, Jesus sei gekommen, um den biblischen Gott als von den Juden angebeteten Satan zu entlarven. An anderer Stelle meint er, nicht die Juden, sondern die Germanen seien das auserwählte Volk Gottes. Genau dieser Mann und sein Schriftwerk werden auf der Online-Präsenz der RBU als Lektüre empfohlen.
Viele der „Reichsbürger“ sind Juristen, wie etwa auch der Sprecher der RBU, Runhardt Sander, die sich ein Zubrot verdienen mit dem Verkauf ihrer drittklassigen Schriftwerke voller Rechtschreibfehler oder durch ihre mehr oder weniger schwach besuchten Seminaren, die dem naiven Zuhörer den einen oder anderen Aha-Effekt bescheren. Manche erwecken den Anschein, man müsse alte Werte wieder aufbauen: Der schon erwähnte „Reichspräsident“ Schittke will ein freies, souveränes und weltoffenes Deutschland, in dem die Alliierten nicht mehr machen können, er sieht ein Hauptproblem in der amerikanischen Militärpräsenz.

Die Sache mit den Staatsgründungen und den Kondesstreifen-Verschwörungen könnte ja ganz lustig sein, wenn es nicht noch einige braune Nebenwirkungen geben würde. Mehr dazu in Teil 3 meiner Reihe.