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Dienstag, 20. Oktober 2015

Die Dritte Intifada & das Dilemma der moralischen Überlegenheit

Vor einer ganzen Weile hat mich ein israelischer Bekannter gefragt, ob ich wirklich der Meinung wäre, Israel sei weniger aufgeschlossen, weniger open-minded als Deutschland. Ich wollte ihm damals antworten und habe viel Zeit investiert in die Formulierung meiner Gedanken, doch nach einer Weile haben sich die Ereignisse in Deutschland und auch in Israel überschlagen, sodass ich bis heute nicht dazu gekommen bin, diese Email zu schreiben. Gerade in diesen Tagen erleben wir aber wieder einen neuen Ausbruch der Gewalt im Nahen Osten, inmitten der vielen anderen Krisenherde, die seit Jahren die Nachrichten dominieren: Zwischen Mittelmeer und Jordan bahnt sich etwas an, das viele schon jetzt als Dritte Intifada bezeichnen. Die Zahlen der Toten steigen wieder, es kommt zu Angriffen und Attentaten. Menschen fallen Messerstechern und Polizeischüssen zum Opfer. Erst kürzlich erzählte mir ein Freund aus Israel, dass er mit einem flauen Gefühl im Magen von Tel Aviv mit dem Bus nach Beersheva fuhr. Dort hatte ein Palästinenser am Tag zuvor versucht, an der Central Bus Station mit Messer und Schusswaffe ein Blutbad anzurichten. Der Freund erzählte weiter, er habe sich aber besser gefühlt, als er am Busbahnhof eine große Gruppe israelischer Jugendlicher mit der Nationalflagge habe tanzen sehen. Da kam ich ins Grübeln. Was ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt, lässt mich wiederum schlucken. Denn an genau jener Stelle hatten Passanten am Tag zuvor auch einen Eritreer zu Tode geprügelt, nachdem sie ihn für einen zweiten Attentäter gehalten hatten. Die Nerven liegen blank, und vor der Kulisse einer weiteren Zeit des Terrors geht jede Menschlichkeit verloren.
Da fiel mir wieder die Email ein, die ich schreiben wollte. Ist Israel weniger open-minded als andere Länder, als Deutschland? Ich denke, man kann Gesellschaften nur schlecht vergleichen, wenn sie sich in einer komplett anderen Ausgangssituation befinden. Und doch möchte ich den meisten Israelis sagen, dass ich sie nicht mehr verstehe – wenn ich sie denn jemals auch nur ansatzweise verstanden habe. Die israelische Gesellschaft ist entweder blind, oder sie schaut weg. Eines ist sie jedenfalls nicht: Moralisch überlegen. Es ist nicht nur ein Versäumnis der Regierung, wenn sich ultraorthodoxe Juden dazu ermutigt fühlen, auf einer Gay Pride Parade in Jerusalem junge, andersdenkende und -fühlende Menschen abzustechen. Es ist auch nicht die Schuld der Regierung, wenn Polizisten einen äthiopischstämmigen IDF-Soldaten auf offener Straße misshandeln oder einen Eritreer für einen Terroristen halten, nur weil er eine dunklere Hautfarbe hat als der durchschnittliche aschkenasische israelische Jude. Die Regierung trägt zwar die Verantwortung für die seit Jahrzehnten aufrecht erhaltene Besatzung der palästinensischen Nachbarn, doch die Gesellschaft wiederum toleriert sie. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird durch diese Besatzung jedoch maßgeblich bedingt – doch die Gesellschaft sieht sie nicht einmal, solange man sie nicht mit ihr konfrontiert.

Symbol der Freiheit?

Natürlich haben Israelis in den letzten Jahrzehnten ihre eigenen persönlichen Erfahrungen mit dem Konflikt gemacht. Familien haben Väter oder Onkels in einem der zahlreichen Kriege mit den arabischen Nachbarn verloren, oder durch Scharfschützen bei der Feldarbeit in einem Kibbuz. Andere können sich daran erinnern, wie zur Zeit der Zweiten Intifada die Küchenfenster zum wiederholten Male wackelten, wenn sich der Attentäter in einem Jerusalemer Bus in die Luft gesprengt hat. Diesen Menschen macht es Mut, wenn die jugendlichen Massen am Unabhängigkeitstag bis in die Nacht in den Straßen tanzen und sich in blau-weiße Fahnen einhüllen. Für die junge Generation sind Blau und Weiß die Farben der Zuversicht, der Davidstern ein Symbol der Freiheit. Genau diese Flagge bedeutet für die unterdrückten Nachbarn jedoch etwas ganz anderes, wo immer sie über spontan vor Ortseingängen errichteten Checkpoints weht, die von einem Tag auf den anderen willkürlich entscheiden können, wer heute zur Schule oder zur Arbeit geht und wer nicht. An diesen Checkpoints stehen keine gesichtslosen Soldaten, sondern nahezu jeder israelische Mann und fast jede israelische Frau, die beide ihren Wehrdienst bei der Armee ableisten, und das meist auch vollem ganzem Herzen tun. Den Schrecken der Besatzung, an der sie teilhaben und bei der sie Zeuge alltäglicher Ungerechtigkeiten werden, versuchen sie nach zwei oder drei Jahren des Armeedienstes in Südamerika oder Indien zu vergessen, mit Marihuana und anderen Drogen aus dem Gedächtnis zu löschen. Nur eine kleine Gruppe ehemaliger Wehrdienstleistender berichtet von den Szenen in Hebron und anderen Orten, wo israelische Einheiten zu Übungszwecken die Wohnzimmer palästinensischer Familien in Kommandozentralen umfunktionieren und beim Abzug nach zwei, drei Tagen bisweilen die komplette Inneneinrichtung kaputtschlagen, oder der Familie sogar noch aufs zertrümmerte Sofa kacken. All dies ist man gezwungen, an der Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland abzulegen, denn die Gesellschaft möchte die Berichte über die eigenen moralischen Makel nicht hören. Als „Linker“ sind jene verschrien, die an der Besatzung zweifeln. Und so kommt es, dass der Konflikt nur dann die israelische Öffentlichkeit berührt, wenn perspektivlose und ideologisch vereinnahmte Palästinenser an Bushaltestellen in wartende Menschen rasen oder mit Messern um sich stechen. Die israelische Politik, die mit dem Bau von Siedlungen bestraft und durch die Aufrechterhaltung der Besatzung jede Chance auf Frieden zubetoniert, erfährt in diesen Tag noch mehr Zuspruch. Mehr als eine halbe Million oftmals extremistischer Siedler haben sich im Westjordanland niedergelassen. Dort ist in den letzten Jahren mit ihnen nicht nur eine entscheidende politische Größe herangewachsen, sondern auch eine radikalisierte Jugend, die durch benachbarte palästinensische Dörfer zieht, um Autos anzuzünden und Moscheen zu beschmieren. Und während diese Jugendlichen im besten Fall vor ein ordentliches Gericht gestellt werden, steht jeder palästinensische Steinewerfer unter israelischer Militärgerichtsbarkeit. Wie moralisch überlegen kann eine Gesellschaft sein, die es toleriert, dass in ihren Gefängnissen minderjährige Palästinenser auf unbestimmte Zeit festgehalten werden? Welche Werte vertritt ein Staat, in dessen Machtbereich ein 15jähriger Angreifer auf offener Straße verblutet, während dutzende Polizisten um ihn stehen und ein Siedler Nahaufnahmen mit seinem Handy macht, laut rufend „Stirb, Du Hurensohn“? Man könnte sich fragen, ob die israelische Öffentlichkeit tatsächlich erkennt, in welchem moralischen Dilemma sie sich hier befindet. 
Extremisten und Terroristen gibt es auf beiden Seiten, das ist nicht Gegenstand der Diskussion. Der palästinensische Terror entsteht jedoch auf dem Boden der Perspektivlosigkeit, in einem von Zäunen und Mauern und Checkpoints durchzogenen Land. Der israelische Terror auf der anderen Seite wähnt große Teile der eigenen Politik hinter sich. Er entsteht in einem Staat, der seit Jahrzehnten in jedem Konflikt Sieger geblieben ist und seit einer halben Ewigkeit eine Besatzung aufrecht erhält, durch die sowohl die eine als auch die andere Seite immer weiter abstumpft und irgendwann jedes Gefühl für ein menschliches Miteinander verlieren wird. Ein anderer Bekannter schrieb mit auf Facebook, die Atmosphäre in Israel sei dermaßen vergiftet, dass er noch nie so ernstlich über Auswanderung nachgedacht habe wie heute. Und wenn die ersten Querdenker aus einem Staat auszuwandern beginnen, der sich noch immer die "einzige Demokratie im Nahen Osten" nennt, dann kann dieser Staat nicht sehr open-minded sein.


Freitag, 5. September 2014

Kriegspostkarten

Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Ich habe in meiner Antiquitätensammlung gestöbert und bin auf eine interessante Postkarte gestoßen. Sie stammt aus dem Jahre 1915 und wurde von einem jungen Soldaten an der russischen Front in die unterfränkische Heimat geschickt. Die Bildseite zeigt zwei Motive: Deutsche Soldaten, die mit abgenommenem Helm und abgestellten Gewehren andächtig zum Gebet verharren. Ein Gebet voll „Donner des Todes“ und geöffneten Adern. Die Szene der betenden Männer steht im Gegensatz zu dem zweiten Teil des Bildes: Vorrückende Preußen, die Bajonette auf ihre Gewehre aufgepflanzt. Zwei Armeen stehen sich gegenüber, ein flaggentragender Franzose greift sich mit der Hand ans Herz, getroffen von einer deutschen Kugel.


Der Erste Weltkrieg war nur der Anfang einer katastrophalen Entwicklung, die das 20. Jahrhundert schon in seinen ersten 45 Jahren zu einem blutigen Säkulum werden lassen sollte. Können wir heute noch nachvollziehen, wie sich Deutsche und Franzosen so entschieden entgegentreten konnten, voller Begeisterung und kampfentschlossen bis in den Tod? Vor hundert Jahren zogen die Massen jubelnd in die Schlachten, Rudel frischer Abiturienten warfen ihre Hüte vor Freude über die neue Herausforderung „Krieg“ in die Luft. Diese Karte aus meiner Sammlung ist ein anschauliches Beispiel. Eindrücklich ist der Text, den ein gewisser Joseph an seine Cousine Elise schrieb:

Liebe Elise! Hat Wilhelm Euch schon besucht? Wie sieht er nur aus? Ist seine Wunde gut geheilt? Schade für den armen Kerl, dass er nicht mehr mit spielen kann. Es wird alle Tage interessanter. Die herzlichsten Grüsse an Deine lieben Eltern. Gruss Joseph.

Der Krieg, ein Spiel? Wie groß muss die Begeisterung bei diesem Joseph, einem deutschen Frontsoldaten, im April 1915 gewesen sein? Krieg ist nur dann, wenn alle hingehen und mitmachen. Und vor hundert Jahren waren die Völker geradezu erpicht darauf, an diesem großen „Spiel“ teilzunehmen.


Das erste große Schlachten des 20. Jahrhunderts forderte knapp 17 Millionen Opfer. Die Nationen lernten kaum etwas dazu. Es dauerte kaum mehr als zwanzig Jahre, bis die nächste – noch größere – Katastrophe ihre Opfer forderte.

Und das Schlimme ist, dass es Kriege auch heute noch gibt. Sie sind etwas Menschliches – und unmenschlich zugleich. Doch Menschen finden immer wieder neue Begründungen, um ihre Macht zu demonstrieren, und neue gerechte Verkleidungen, in die sie das Unrecht des Krieges hüllen. Wo stehen wir heute, hundert Jahre nach Kriegsbeginn? Das Jahr 2014 scheint leider ein besonders blutiges Jahr zu werden. Warum?

Montag, 21. Juli 2014

Realität des Krieges

Ich selbst habe in meinem Leben nur einmal einen Blick auf Gaza werfen können, aus der Ferne. Damals im Jahr 2010 herrschte relative Ruhe in dem dicht besiedelten Küstenstreifen. Wenn ich also etwas über die Realität des aktuellen Krieges schreiben will, muss ich mich auf die Berichte Anderer stützen. Das birgt spezielle Risiken, ist aber die einzige Möglichkeit, das Leiden auf der anderen Seite des Mittelmeers nicht komplett zu ignorieren.
Wie fühlt es sich an, wenn man in einem Kriegsgebiet lebt? In diesen Tagen erlebt Gaza eine Welle unbarmherziger Angriffe vonseiten der israelischen Armee. Währenddessen schießen Hamas-Kämpfer weiterhin Raketen auf Israel ab. Mittlerweile wurden zwei israelische Zivilisten getötet, die Zahl der Toten auf palästinensischer Seite geht in die Hunderte.

Jürgen Todenhöfer ist ein 73jähriger Publizist aus Süddeutschland.[1] Er berichtete im Morgenmagazin der ARD am 18. Juli live über die Zustände in dem isolierten Stückchen Land, die ihn sichtlich schockierten. Todenhöfer erzählte von überfüllten Krankenhäusern, hilflosen Menschen und unsäglichen Zuständen. Er war sich auch sicher: Die Bodenoffensive würde nicht dazu führen, dass die Hamas zusammenbreche, „aber es bricht das kleine Volk von Gaza zusammen, das dort in einem Käfig auf dem engsten Flecken der Welt lebt.“ Auch der Fotojournalist Tyler Hicks berichtet aus Gaza, wo er sich immer noch aufhält. In einem seiner Berichte für die New York Times beschreibt er den Morgen, an dem vier kleine Jungen an einem Strand von israelischem Feuer getötet worden waren. Darin wird ziemlich deutlich, wie sich die Lage in Gaza im Moment gestaltet: Es kann jeden treffen, eigentlich immer. Hicks schreibt: „Es gibt zurzeit keinen sicheren Ort in Gaza. Bomben können jederzeit irgendwo landen. Eine kleine Wellblechhütte ohne Strom oder fließendes Wasser auf der Hafenmole in der brennenden Küstensonne sieht nicht aus wie die Art von Standort, den Hamas-Kämpfer, die vorgesehenen Ziele der Israeli Defense Forces, aufsuchen würden. Kinder, vielleicht ein Meter Zwanzig groß, in Sommerklamotten, die vor einer Explosion wegrennen, passen ebenfalls nicht auf das Profil eines Hamas-Kämpfers.“ Und genau einen Tag später ist es wieder passiert. Dylan Collins, dessen Fotos bei VICE zu sehen sind, war in Gaza, als eine Familie drei Kinder verlor. Wissam, Jihad und Fulla spielten auf dem Dach, als sie getötet wurden. Collins schreibt: „Die Familie hat mir erzählt, dass diese drei Kinder zuhause auf dem Dach spielten (kurz nach dem Ende der Feuerpause), als eine israelische Drohne ein knock-on-the-roof-Geschoss [„aufs Dach klopfen“] auf das Haus fallen ließ, um die Bewohner vor dem bevorstehenden eigentlichen Luftschlag zu warnen. Das „Anklopfen“ tötete alle drei.

Auch in Israel gibt es eine Realität des Krieges. Und wahrscheinlich wird diese Realität von europäischen Staatsoberhäuptern deshalb eher zur Kenntnis genommen, weil wir uns in die Situation der Israelis leichter hineinversetzen können. Unser Verständnis wird geweckt, wenn man uns in staatlichen Propagandavideos zeigt, wie kurz 15 Sekunden auf dem Weg in den Schutzraum sein können für eine gebrechliche Großmutter oder eine Gruppe fußballspielender Jungen. Wir können nachvollziehen, dass sich ein Land, das scheinbar unserem gleich ist, gegen Terroristen wehren muss. Wir würden schließlich genauso handeln, wenn aus der Schweiz plötzlich Beschuss käme, denken wir. Israel hat deshalb unsere volle Unterstützung. Und viele von uns fühlen mit den zahllosen Soldaten, die ihre Kameradinnen und Kameraden an den frischen Gräbern betrauern. Junge Menschen, kaum 20 Jahre alt, müssen in den Krieg ziehen - und das ist schrecklich.
Vielleicht fehlt aber genau aus diesem Grund bei vielen Deutschen - vor allem aber in der Politik - das bedingungslose Mitgefühl für die andere Seite: Wir können uns nicht hineinversetzen in Menschen, die seit fast zehn Jahren in engster Isolation leben. Menschen, deren einziger Freund in Jahren der Abschottung die Hamas war. Kein allzu guter Freund, aber immerhin jemand, der die Zügel in die Hand nahm. Und in nächster Nachbarschaft zu diesem Verbündeten lebt man nun, bis ein nächtlicher Bombenangriff den ganzen Straßenzug vernichtet und Hamas oder nicht Hamas plötzlich keine Rolle mehr spielt. Wir sehen, dass eine ganze Generation vom Hass gegen Israel zerfressen wird und unterstützen Israel beim Kampf gegen diese Menschen, obwohl ein Kampf gegen diesen Hass das wahre Heilmittel wäre. Hier bei uns geht alles geordnet zu, ebenso wie in Israel - und darum können wir uns am besten hineinfühlen in die Rolle des souveränen Staates, der von einem Haufen Terroristen angegriffen wird und sich gegen diese Attacken zur Wehr setzt. Eine jahrelang anhaltende Ausnahmesituation, wie sie die Menschen in Gaza erleben, ist uns fremd und daher unzugänglich.

Die Frage ist nicht: Wer hat Schuld?
Wer hatte Schuld in den Jahren 1948 oder 1967? Oder bei der letzten Intifada im Jahr 2000? Wer hat die letzten Feuerpausen in Gaza gebrochen, wer hat als erster wieder den Beschuss aufgenommen?
Nein! Die Frage ist vielmehr: Wie können wir jetzt unmittelbar und unverzüglich weiteres Blutvergießen beenden?
Erst wenn die Waffen ruhen und die Straßen frei sind, wird der Weg zu neuen Gesprächen geebnet. Denn - bei allem Respekt - um diese Gespräche kommt niemand herum.



[1] Anmerkung: Der oben erwähnte Jürgen Todenhöfer gehört zu jenen Menschen, deren Facebook-Posts ich häufig kritisiere. Zu oft vertritt er meines Erachtens subjektive anti-westliche Sichtweisen und des Öfteren habe ich mich gefragt, ob man ihn noch ernstnehmen könne. Doch ich habe Respekt vor Journalisten, die unter Lebensgefahr durch Tunnel nach Gaza hineinkriechen, um sich ein Bild von der Situation zu machen - und zu denen gehört auch Todenhöfer.


Mittwoch, 7. Mai 2014

Nachrichten - nur mit Wodka und Krimsekt zu ertragen

Ab und zu beobachte ich die Medien. Dabei mache ich das volle Programm durch: Ich glaube alles, was man mir sagt. Ich bezweifle auch alles, was ich nicht hören will. Ich schimpfe lautstark oder protestiere gegen das, was ich an Dummheit in den Ansichten Anderer identifizieren zu können glaube. Und wenn extreme Meinungen aufeinander prallen und sich benachteiligt fühlen, werde ich irgendwie sauer. Irgendwie wissen immer zwei gegensätzliche Gruppen genau, wie der Hase läuft und niemand bemerkt, wo er im Pfeffer liegt.
Jedenfalls, das Thema „Russland und die Ukraine“ steckt voller Irrtümer. Der erste Irrtum beherrscht die Meinung aufseiten vieler eher links eingestellter Menschen: „Europa und die NATO betreiben Kriegshetze und wollen den Krieg!“, heißt es da. Ein Irrtum? Ja, denn einmarschiert auf die Krim sind die Russen. Putin hat sogar zugegeben, dass russische Soldaten hinter ihren Landsleuten auf der Krim standen, als diese die Kontrolle an sich nahmen. Und was sich jetzt in der Ostukraine abspielt, ist zu einem großen Teil dem Einfluss des übermächtigen Nachbarlandes zu verdanken. Niemand zweifelt mehr ernsthaft daran, dass Russland seine Schäfchen auf der grünen ostukrainischen Weide in jeder Hinsicht unterstützt. Doch in den Augen vieler vor allem linker Friedensaktivisten ist es die EU, die einen Krieg auf jeden Fall provozieren will. Vielleicht wurzelt diese Überzeugung noch aus dem Glauben an den sozialistischen Grundsatz der Friedenspolitik: Der „Osten“ wollte immer den Frieden und trug zum Frieden in der Welt bei, während der amerikanisch-kapitalistische Imperialismus um sich griff. Bis heute, sagen sie.
Und da sind wir schon beim zweiten Irrtum, der sich sowohl auf Seiten der linken Aktivisten als auch in der westlichen Politik wiederfindet: Es wird angenommen, dass Russland in irgendeiner Weise noch immer die Sowjetunion und den Sozialismus verkörpert, sozusagen als Gegenpart zur westlichen Hemisphäre, als Gegenpol des hiesigen Lebensstils. Dabei wird grob übersehen, dass Russland zwar noch immer den Kontrahenten der USA zu stellen versucht, das System als solches jedoch näher am rechten als am linken Rand steht. Putins Präsentation als starker Bärenjäger und freier Oberkörper der Nation erinnert zwar an die einstigen Führungspersönlichkeiten der Sowjetunion, doch Führer hat es schon immer in jeder politischen Extremen gegeben. Und Putins Partei „Einiges Russland“ hat mitnichten den Sozialismus auf dem Programm…
Wie man es dreht und wendet, es wird viel übereinander geredet, gegeneinander und aneinander vorbei. Die einen sehen mit offensichtlicher Bestürzung – und mit innerlicher Genugtuung –, dass die klaren Grenzen von damals nun endlich wieder Gestalt annehmen. Gut und Böse, klar definiert in West und Ost. Die anderen sehen das System, in dem sie leben und von dem sie profitieren, und seine Verbündeten als eigentliches Übel an und stellen sich (wie so oft) provokant auf die Gegenseite. Und beide Seiten fühlen sich in den Medien unterrepräsentiert – ein klares Zeichen dafür, dass sich beide als Advokaten derjenigen sehen, die hier gern die Opferrolle einnehmen. Für die Linken wird Putin zum Heiligen, für die Konservativen ist er der Gestalt des Teufels ähnlich. Und Obama? Kriegstreiber oder guter Samariter? Ansichtssache. Die Revolutionsregierung in Kiew – Demokraten oder Nationalisten? Man könnte endlos darüber streiten, was Frau Timoschenko in Wirklichkeit damit gemeint hat als sie sagte, sie wäre bereit, Herrn Putin mit einer Kalaschnikow in den Kopf schießen. Ein Gleichnis – oder eine Kriegserklärung?

Das Fazit der letzten Tage, Wochen und Monate fällt einigermaßen deprimierend aus: Politische Lösungen in Form von Sanktionen sind nutzlos. Illegitime Volksbefragungen führen zu Annexionen von ganzen Landesteilen. Sturköpfe auf allen Seiten noch dazu. Man findet sie in Washington, Paris und Berlin, in Moskau und in Peking, am Persischen Golf und auch in Brüssel. Und die Opfer? Die sterben in Syrien, massakrieren sich gegenseitig in Slawjansk oder ertrinken auf dem Weg in ein besseres, aber dennoch beschissenes Leben im Mittelmeer.

Und das alles genau hundert Jahre nach 1914.

In aller Welt rennen Außenminister wie z.B. Dr. Frank-Walter Steinmeier von einem Kongress zum nächsten, um sich mit Historikern über das Pulverfass Europa zu unterhalten, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts explodiert ist. Doch Menschen scheinen nichts aus der Geschichte zu lernen – oder zu wenig.
Oder das Falsche.
Es nimmt kein Ende, bis alle Passagiere in den oberen Decks des gleichen Bootes, in dem wir ja bekanntlich alle sitzen, gelangweilt und jene auf den unteren Decks entweder ausgeschifft haben oder ertrunken sind.
Je mehr man darüber nachdenkt, desto weniger Lust hat man, sich die Nachrichten anzuschauen. Wer sich dieser Tage als hoffnungsvoller Pazifist outet, muss sehr naiv sein. Dann lasst uns doch mal alle zusammen naiv sein. Ich bin dabei.


Mittwoch, 28. August 2013

Syrien im August - Auch Beschwichtigung sollte ein Ende haben

[Dieser Beitrag entstand als Reaktion auf die vielen Stimmen, die ihr Fähnchen gerne nach dem Wind hängen. Als eine "Reaktion" sollte er deshalb auch gelesen werden, Thorschten vertritt darüber hinaus grundsätzlich nämlich pazifistische Positionen.]

Vor fast genau einem Jahr gab Kofi Annan sein Mandat als Syrien-Sondergesandter der Vereinten Nationen auf. Sein Nachfolger Brahimi hat bisher keine nennenswerten Fortschritte erreicht, eine politische Lösung des Konflikts bleibt weiterhin in unüberwindbarer Ferne. Irgendwann kamen dann zum ersten Mal chemische Waffen zum Einsatz und US-Präsident Obama in die erste moralische Zwickmühle: Er hatte zuvor die sagenumwobene „rote Linie“ gezogen und konnte sie nun nicht verteidigen. Das Gespött war ebenso groß wie die Hilferufe aus Syrien. Obama hatte angekündigt, einzugreifen – und tat es nicht. Der Westen würde seine Werte immer weiter verraten, hieß es. Dann gab es zum zweiten Mal die Meldung über Chemiewaffeneinsätze. Und dieses Mal mobilisierten die USA ihre Flugzeugträger. Der nächste Aufschrei erfolgte: Die USA dürfen sich auf keinen Fall einmischen! Bomben sind keine Lösung! Der imperialistische Westen greift wieder um sich und will ein Land ins Chaos stürzen. Ein brauner Wolf im roten Schafspelz, der Publizist Elsässer, will sogar eine Abschussprämie zahlen, für vom Himmel geholte NATO-Flugzeuge. Und er bekommt virtuellen Beifall. Elsässer schreibt über die „tapferen Soldaten an der Flak, die ihre Heimat verteidigen“. Plötzlich ist von den USA, Großbritannien und Frankreich als kriegstreibende Aggressoren die Rede. – Wir haben wieder einmal einen Sündenbock gefunden für das Syrien-Desaster, das seit über zwei Jahren in vollem Gange ist: Uns selbst. Es läuft immer auf dasselbe hinaus. Auch der angesehene Nahost-Spezialist Jürgen Todenhöfer sagte (schon im Mai): „Jetzt hat der Westen in Syrien wieder einmal ein politisches Chaos angerichtet.“

Liebe Leute, entscheidet euch! War euch die zynische Haltung von Sarah Palin („Let Allah sort it out!“) etwa lieber? Wer mich kennt weiß, dass ich eine Bevormundung arabischer Staaten durch den Westen nicht gutheiße, dass ich militärische Einmischungen à la Kreuzzug („Wir bringen den Arabern Zivilisation und Christentum“) entschieden ablehne und in die Zeit des Kolonialismus verordne. Aber wie lange soll man dem Schlachten noch tatenlos zusehen? Man hat Zurückhaltung geübt in Tunesien und vor allem im demografischen Zentrum des Nahen Ostens, in Ägypten. Man hat Gaddafi in Libyen aus dem Amt gebombt und Unordnung hinterlassen, na gut. Aber man hat die Rebellen höchstens aus der Luft unterstützt und ansonsten den Dingen (zu Land) ihren Lauf gelassen. Soll sich der Westen aus dem Syrien-Konflikt heraushalten? Das wäre scharf zu verurteilen. Doch für eine politische Lösung ist es doch längst zu spät. Und sagt nicht, dass „der Westen“ Verhandlungen blockiert hätte. Will sich denn Assad an einen Tisch setzen mit „Terroristen“ und „ausländischen Agenten“, die er von Anfang an für den Ausbruch der Demonstrationen und Aufstände verantwortlich gemacht hat? Assad sitzt stattdessen in seinem Bunker, schart Hisbollah-Milizen und iranische Religionswächter um sich und hat jeglichen Sinn für die Realität verloren. Ist so jemand noch ein ernstzunehmender Verhandlungspartner? Dennoch wird er von einigen Publizisten wie Herrn Todenhöfer – den ich als erfahrenen Kenner der Region eigentlich sehr schätze – immer noch gedeckt. Hat bald jeder lupenreine Demokrat dieser Welt einen deutschen Fürsprecher?

Es ist egal, ob Assad, sein Militärchef, ein Unteroffizier oder gar die Rebellen selbst Giftgas gestreut haben – die Welt muss endlich etwas tun. Und auch wer sich als Pazifist bezeichnet, sollte sich nicht aus Gegnerschaft zu islamistischen Rebellen auf die Seite eines skrupellosen Diktators stellen.
„Greifen Sie Syrien nicht an!“, fordert Jürgen Todenhöfer auf seiner Facebook-Seite den US-Präsidenten Obama auf. Doch wer will denn „Syrien“ als solches attackieren? Wird denn „Syrien“ im Weltsicherheitsrat von China und Russland gedeckt oder vielmehr das Regime? Die westliche Öffentlichkeit sollte überdenken, ob die Problematik Syriens wirklich mit der des Irak 2003 vergleichbar ist. Im Irak gab es keine Demonstrationen gegen Saddam Hussein, es gab keinen Bürgerkrieg. Und es gab nachweislich keine Massenvernichtungswaffen. In Bosnien hingegen gab es – wie in Syrien – Kriege und Regierungstruppen, die ein zerfallendes Jugoslawien zusammenhalten wollten. Weder NATO noch UN-Blauhelme konnten damals Massenmorde (aller Beteiligten) verhindern, genauso wenig wie sie es heute in Syrien können. Doch letztendlich hat man versucht, dem Gemetzel Einhalt zu gebieten, auch mit militärischen Mitteln, und hat so eine Serie von bewaffneten Konflikten eingedämmt. Das alles hat weniger Jahre in Anspruch genommen wie der letztlich erfolglose Einsatz im Irak. Heute ist der Balkan befriedet. Wieso sollte das – gut überlegt und planvoll – nicht auch in Syrien klappen? Eine militärische Intervention wird nicht ohne zivile Opfer auskommen, doch wird denn etwa jetzt gerade, in diesen Sekunden, das Sterben von Zivilisten verhindert? Nein! Die Opferzahlen haben die Marke von 100.000 bereits weit überschritten und steigen von Tag zu Tag. Auch ohne US-Marschflugkörper. Da ist gar keine „rote Linie“ mehr nötig, denn allein der gesunde Menschenverstand schreit nach dem Eingreifen.
Bin ich jetzt ein kriegstreibendes Medium? Das muss jeder selbst beurteilen. Natürlich wünsche ich mir für alle Aktionen ein UN-Mandat, keine Frage. Doch ich bin auch dafür, dass etwas geschieht, so schnell wie möglich.

Egal was „der Westen“ in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten tun wird – am Ende hat er es entweder falsch oder viel zu spät getan.
Nur irgendetwas sollte getan werden, denn danach werden wir uns nicht  m e h r  hassen als wir es ohnehin jetzt schon tun.


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An dieser Stelle möchte ich noch für eine Organisation werben, die schon jetzt wichtige Arbeit leistet und auch in der Zeit danach (denn egal wie, es wird eine Zeit danach geben) von enormer Wichtigkeit für die Menschen sein wird. Die Organisation Relief & Reconciliation for Syria hat motivierte, weitsichtige Aktivisten aus den verschiedensten Bereichen in ihren Reihen, von denen viele schon Erfahrungen auf den Trümmern der Jugoslawien-Kriege gesammelt haben und sich für sinnvolle Versöhnungsarbeit in Syrien einsetzen.


Mittwoch, 19. Juni 2013

19.06.2013: Zur aktuellen Lage in Syrien und zur NGO Relief & Reconciliation for Syria

In der Türkei haben die Demonstranten auf stillen Widerstand umgeschwenkt. Stundenlang stehen sie regungslos auf dem Taksim-Platz und an anderen Orten in der Türkei, um ihren Protest gegen die Regierung zum Ausdruck zu bringen. Währenddessen bezeichnet Ministerpräsident Erdoğan die Räumung des Gezi-Parks vor einigen Tagen als „Sieg der Demokratie“. Er bleibt stur, sieht weiterhin eine innere und äußere „Verschwörung“ gegen sein Land, lässt an nur einem Tag 100 Mitglieder einer linken Partei verhaften. Staatspräsident Abdullah Gül hingegen scheint zu erkennen, dass die Gesellschaft tatsächlich mit Problemen zu kämpfen hat: „Unsere Gesellschaft muss sofort wieder zusammenfinden. Wir haben daran gearbeitet, europäische Rechtsstandards zu erreichen. Wir dürfen nicht zurückfallen. Die Reformen müssen weitergehen“.[1]
Die von Polizeiknüppeln, Tränengas und Chemikalien in den Wasserwerfern angerichteten Schäden dürften tiefer sitzen als die finanziellen Schäden, die durch die Proteste an Geschäften und Schaufenstern verursacht worden sind. Doch diese Schäden ließen sich von einer zwar gespaltenen, aber fortschrittlichen türkischen Gesellschaft wahrscheinlich überwinden.

Nur ein Stückchen weiter im Süden liegt Syrien. Hier sind die Gräben mittlerweile tiefer, das Misstrauen scheint unüberwindbar, der Bürgerkrieg tobt. Auch der Libanon ist betroffen: Hier treffen die Flüchtlingsströme nach acht Tagen des Marsches durch die Berge ein in einer Region, in der das Verhältnis Einwohner zu Flüchtling vielerorts schon 1:1 steht. Ohne Verpflegung haben sich diese Menschen aufgemacht, viele haben auf dem Marsch mehr Angehörige verloren als durch das Bombardement Assads, vor dem sie geflohen sind. Schwerverletzte kommen in libanesischen Krankenhäusern an und werden zurückgewiesen, weil niemand die teuren Operationen und Krankenbetten bezahlen kann.

In Syrien selbst wird der Konflikt immer mehr konfessionalisiert. Die Menschen haben es sich nicht so ausgesucht. Von Anfang an einte sie die Ablehnung des Regimes, Präsident Assad zwang den Bürgerkrieg dann in einen religiösen Kontext – zum Beispiel indem er die Drusen und die alawitischen Gebiete vor Bombardierung schützte. Die christliche Führung, in Europa hausieren geht und die Regierungen davon zu überzeugen versucht, dass es ohne Assad zu einem Völkermord an den Christen kommen würde, steht weiterhin hinter dem Diktator – anders jedoch als große Teile der christlichen Bevölkerung.
Die Situation der Minderheiten ist es, die eine volle Unterstützung der Revolution vonseiten Europas bis jetzt verhinderte. Die Europäer sind verunsichert und abgeschreckt vom Bild des „Dschihad“, des „Heiligen Krieges“, der neuerdings in Syrien propagiert wird. Dabei wird übersehen, dass sich die Gewalt vonseiten der Islamisten nicht gegen die Minderheiten des Landes, sondern fast ausschließlich gegen das Regime wendet. Zudem sind die meisten Kämpfer der islamistischen und salafistischen Gruppen einfache einheimische Stadt- und Landbewohner, die wenig mit salafistischem Gedankengut gemein haben. Der Begriff des „Heiligen Krieges“ hat eine religiöse Dimension in Syrien, doch er richtet sich nicht gegen Christen oder Drusen, sondern gegen das Regime. Er wird teilweise sogar durch die Minderheiten mitgetragen. Noch heute hört man vereinzelt noch die Slogans aus den Anfangstagen, quer durch alle Gruppierungen hindurch:
Freiheit und Menschenwürde!

Gestern, am 18. Juni, war bei uns an der Uni Tübingen ein Vertreter der Nichtregierungsorganisation Relief & Reconciliation for Syria zu Gast. Friedrich Bokern kam direkt aus dem Libanon und referierte zum Thema „Die Lage der Minderheiten in Syrien“, stellte aber auch seine Organisation vor und die aktuellen Probleme, die sich der Hilfe für die Menschen in den Weg stellen und was dennoch getan werden kann. R&R ist keine reine humanitäre Hilfsorganisation, sondern will Friedensarbeit mit praktischer Hilfe verbinden. Es geht – wie der Name schon sagt – um Versöhnung. Politiker werden außen vor gelassen, doch einflussreiche Ansprechpartner vor Ort sollen zusammengeführt werden – nicht nur zum abstrakten Gespräch, sondern zur Schaffung konkreter Konzepte. Die Organisation ist neutral, doch sie prangert Verbrechen an. Und die seien zu einem überwiegenden Teil vonseiten des Regimes verübt worden.
Bokern und den anderen Syrien-Freunden ist es gelungen, im Nordlibanon das erste in einer Reihe von „Friedenszentren“ zu eröffnen, wo Flüchtlingen praktische (bzw. materielle) Hilfe geboten wird, wo aber auch psycho-soziale Arbeit oder Erziehungsarbeit (wie etwa Fremdsprachenkurse) geleistet werden. Unterstützt werden die Projekte von Autoritäten innerhalb der Bevölkerung: Ortsansässige Scheichs im Libanon, Stammesführer innerhalb der Vertriebenen, Imame und christliche Priester.



Friedrich Bokern wirbt für seine Organisation. Und er macht deutlich, dass die meisten Syrer von Europa enttäuscht sind. Die Frage, die fast jeder der 5 Millionen Flüchtlinge in Syrien oder im benachbarten Ausland stellt, lautet: „Warum habt Ihr uns vergessen?“
Europa hält sich aus dem Konflikt weitgehend heraus. Europa hadert mit sich selbst und zögert, Stellung zu beziehen. Währenddessen fühlen sich die Syrer verraten. Hat Europa in Syrien irgendeine Verantwortung? Vielleicht nicht. Aber als die Syrer aufstanden, um die von Europa gepredigten Werte der Freiheit und der Selbstbestimmung zu erkämpfen, bekamen sie keinerlei Rückhalt aus dem Westen. Dabei wollen viele Syrer nicht einmal Waffen. Sie brauchen humanitäre Hilfe, sie wollen im Winter nicht frieren und verhungern. Wären Feldhospitäler zu viel verlangt? Der Westen überlässt die Menschen sich selbst.
Im Westen hat man Angst vor einem neuen Irak. Zudem sieht man mehr und mehr ein, dass der Irakkrieg auf vollkommen falscher Beweislage geführt worden war. Die Politik im Westen wird vorsichtiger. Dabei wäre eine militärische Intervention dieses Mal sogar moralisch gerechtfertigt. Sicher, aus völkerrechtlicher Perspektive wäre ein militärisches Eingreifen in Syrien vonseiten der USA (oder auch Europas) illegal. Im Irak gab es keine Massenproteste, keine Hilferufe an den Westen. In Syrien jedoch gibt es einen Despoten, der am helllichten Tag Stadtteile von Aleppo bombardieren lässt, wegen dem Millionen Menschen auf der Flucht sind. Der Bürgerkrieg hat schon 100.000 Menschen das Leben gekostet. Es gibt keinen anderen Weg als den Fall des Regimes. Die Lage unterscheidet sich grundlegend von der des Irak.

Doch vielleicht kommt endlich Bewegung in die Sache. Beim gestrigen G8-Gipfel[2] hat man sich geeinigt, den Druck auf Assad zu erhöhen. Es sieht aus wie ein Fortschritt, doch Moskau beharrt immer noch darauf, dass Assad in die Verhandlungen einbezogen wird.

Für Friedrich Bokern von R&R ist klar, dass der Syrien-Konflikt nicht so einfach zu lösen ist. In einer Zeit nach Assad hält er sogar eine zeitweise Trennung des Landes für möglich, mit einer von Blauhelmsoldaten geschützten Pufferzone. Die Gefahr von Racheakten besteht, weitere Massaker könnten auch nach Assad noch folgen. Doch das syrische Volk besteht auf der Einheit des Landes. Bokern selbst hat im Bosnienkrieg in den Neunzigern Erfahrungen sammeln können, wie die schrittweise Versöhnung nach der Katastrophe aussehen kann. Die ersten Grundsteine dazu legt Relief & Reconciliation for Syria schon heute. Der Name ist Programm: Aktive Arbeit zur Hilfe der Flüchtlinge und zur Aussöhnung in der Zeit danach.
Bokerns Appell an die Zuhörer: „Tun Sie was!“

(Mehr über die Organisation erfahren Sie hier; Spenden können Sie auch.)



[2] 18. Juni 2013