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Montag, 4. November 2013

Desilussionierung

(Presseschau)

Zur deutsch-amerikanische Freundschaft nach der NSA-Affäre habe ich im August 2013 einen Kommentar von Jens Jessen in der ZEIT gefunden. Damals war die Überwachung des Merkelschen Kanzlerhandys noch nicht bekannt, das Fazit war aber dasselbe:

"Wir brauchen [...] eine Desillusionierung über den Charakter unserer Beziehung. Das Gerede von Freundschaft muss ein Ende haben und der nüchternen Einsicht in gegenseitigen Nutzen und gemeinsamen Interessen weichen - und zwar dort, wo sie wirklich bestehen. [...] Übrigens wäre es auch aus pädagogischen Gründen hilfreich, wenn sich Deutschland emotional von Amerika etwas abnabeln würde. Das Land, nun schon seit zwei Jahrzehnten in die volle Selbstständigkeit entlassen, muss lernen, auch sicherheitspolitisch, auch in der Terrorabwehr auf eigene Verantwortung zu handeln. Selbstverständlich im Bündnis mit den USA, selbstverständlich als loyaler Verbündeter und gerne auch etwas großzügiger und weniger ängstlich als in der Vergangenheit. Aber als erwachsener Partner und nicht als alter Säugling, der noch immer nach der Mutterbrust greift und wehklagt, wenn Mama mal was anderes zu tun hat oder sich über das Quengeln des kleinen Schreihalses kalt hinwegsetzt."

Stimmen zur NSA-Affäre (aus dem FOCUS)

(Presseschau)

In seiner aktuellen Ausgabe hat der FOCUS (44/2013, S. 34f) einige unterschiedliche Stimmen zur NSA-Ausspähaffäre aufgefangen, die von Empörung, Vertrauensbruch, aber auch von Naivität sprechen.

Viviane Reding, EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, spricht von einem Weckruf: „Muss denn erst Frau Merkels Handy angezapft werden, damit sich führende Politiker in Europa darüber klar werden, dass solche Datenskandale jeden Tag, jede Minute geschehen können?
Wolfgang Ischinger, ehemaliger deutscher Botschafter in den USA, prangert jedoch die Blauäugigkeit der Europäer an. Schon während seiner Zeit in den USA war ihm bewusst, dass Telefone von Geheimdiensten abgehört werden. Zur Schwere der aktuellen Affäre sagt er dennoch: „Der Vorgang ist eine enorme Belastung und der größte Stresstest für die transatlantischen Beziehungen. Es ist ein großer Vertrauensbruch, und es wird nicht ganz einfach sein, das in Ordnung zu bringen. Die US-Geheimdienste sind offenbar außer Rand und Band geraten, haben Maß und Mitte verloren.
Auch Jack Janes geht auf das undurchsichtige Vorgehen der Geheimdienste ein und meint: „Wenn der Präsident tatsächlich von nichts wusste, dann frage ich mich, wer in Washington eigentlich die Hosen anhat.“ Janes, der Präsident des American Institute for Contemporary German Studies an der John Hopkins University in Washington ist, bezeichnet die Aufdeckungen als ein „Schlag in die Magengrube“ der Pro-Atlantiker.
Weniger naiv zeigt sich Charles Kupchan, ein ehemaliger Berater von Bill Clinton und Mitglied des Council on Foreign Relations. Er sagte dem FOCUS: „Dass Freunde auch Freunde ausspionieren, ist gängiges Geschäft. Auch Frau Merkel betritt morgens das Kanzleramt und bekommt erst einmal ein Geheimdienstbriefing vorgelegt, das genau aus solchen Spionageaktivitäten in Großbritannien, Frankreich oder Polen zusammengestellt wird.
Der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Eberhard Sandschneider, schließt sich in dieser Hinsicht an: „Wenn sich jemand wundert über die Abhöraktionen, dann wundert das wiederum mich.“ Er stellt in Hinblick auf die Beziehung zwischen Deutschland und den USA fest: „Wir sollten die deutsch-amerikanischen Beziehungen nüchterner betrachten und die USA als das sehen, was sie sind: ein Land mit eigenen Interessen. Da bleiben auch strategische Partner manchmal auf der Strecke.
Doch nicht nur die USA sind in der aktuellen Diskussion zu beschuldigen. David Hamilton, ehemaliger Europa-Experte im US-Außenministerium, gibt eine Erklärung dafür, warum US-Spione nicht alle Erkenntnisse mit ihren deutschen Kollegen teilen: „Die deutschen Geheimdienste sind so sehr von Spionen anderer Länder infiltriert, dass sich die USA nie sicher sein können, ob die ausgetauschten Informationen nicht gegen sie verwendet werden.“ Dies sei aber keine Entschuldigung dafür, das Handy der Kanzlerin anzuzapfen.
So wie Hamilton die deutschen Geheimdienste in ein eher schlechtes Licht erscheinen lässt, so stellt auch Günter Blobel, deutsch-amerikanischer Medizinnobelpreisträger, der deutschen Informationstechnologie ein Armutszeugnis aus. „Es ist nicht sehr vertrauenserweckend, dass die Merkel-Regierung nicht in der Lage ist, Firewalls in ihre Kommunikationssysteme einzubauen.

Verschiedene Stimmen, verschiedene Erkenntnisse. Doch fest steht auf jeden Fall, was auch schon vorher nie bezweifelt worden ist: Das Geschäft der Geheimdienste ist ein schmutziges. Und davon sind sowohl die der USA als auch alle anderen betroffen. Um uns zu schützen, brauchen wir neue Gesetze und Richtlinien aus Berlin und Brüssel, deren Umsetzung irgendwie garantiert werden muss. „Nur wenn Bürger und Unternehmen fest darauf vertrauen, dass Regeln eingehalten werden, wird in Europa ein echter digitaler Binnenmarkt entstehen“, sagt Viviane Reding dazu.

Freitag, 25. Oktober 2013

Gedanken zu Europa

„Es gibt in Deutschland keine millionenfache Grundrechtsverletzung.“ – Das waren die Worte von Kanzleramtsminister Ronald Pofalla am 12. August, mit denen er die NSA-Affäre für beendet erklärte. Die damals bestehenden Vorwürfe waren es scheinbar nicht wert, dass man groß über sie diskutieren wollte. Außerdem war Wahlkampf und das Thema war schneller vom Tisch als die NSA „Snowden“ buchstabieren kann. Da wirkt es irgendwie befremdlich, dass nun eine einzige Grundrechtsverletzung für so viel Wirbel sorgt. Gut, zuvor waren ja „nur“ die Bürger ausgespäht worden, jetzt allerdings geht es um die Verletzung unserer Souveränität in Gestalt von Angela Merkel. Der US-Geheimdienst soll sich virtuell auf dem Handy der Kanzlerin umgesehen haben und erntet nun Kritik, strenge Worte und heftige, aber irgendwie hilflose Bestürzung. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel stehen die Politiker Europas mit der starken Frau aus Deutschland Schulter an Schulter. Merkel verkündet, dass es nicht mehr nur um gute Worte ginge, sondern um wirkliche Veränderungen. Auch in den USA regt sich mittlerweile Widerstand gegen die neugierigen Augen der Obrigkeit. Es ginge nicht an, dass ein Staat seine Bürger ausspioniere, heißt es auf einem von Hollywood-Stars veröffentlichten Video. „In einem Überwachungsstaat ist die Demokratie tot“, sagt Schauspieler John Cusack warnend in die Kamera. Allerdings ist in den US-amerikanischen Widerstandsnestern meist nur die Rede von den eigenen citizens. Auf der anderen Seite des Großen Teichs sorgt sich kaum jemand um das Wohl der europäischen Verbündeten. Die Geheimdienste der USA verteidigen die Souveränität Amerikas – politisch, militärisch und auch wirtschaftlich. Wenn sie dabei sogar die Rechte ihrer eigenen Schützlinge übergehen, wie egal müssen ihnen dann die unseren sein?

War die Bundesregierung die ganze Zeit zu naiv? Auf jeden Fall. Hätte man von Anfang an aus der Wartehaltung herausrücken und Klartext reden sollen? Sicherlich. Doch wahrscheinlich war die Bundesregierung – wie die meisten Regierungen – zu verunsichert, zu überfordert und möglicherweise zu schwach.
Doch was würde es ändern, wenn wir Obama nur aufforderten, seine NSA endlich unter Kontrolle zu bekommen, und auf irgendwelche Abkommen drängten, die in der Welt der Geheimdienste lediglich beschriebenes Papier ohne nennenswerten Inhalt darstellten? Am Ende wäre der durchschnittliche Europäer, ob er jetzt Leichen im Keller oder Bomben in der Garage hat, genauso transparent einsehbar wie im Moment. Um die Wahrung unserer Rechte zu garantieren, müssen wir anders reagieren – nicht nur als einzelne Nationalstaaten, sondern als starkes, geeintes Europa.

Europa braucht eine transnationale Souveränität – heute mehr denn je

Heute Morgen hat der SPD-Politiker Martin Schulz bei Beckmann einen interessanten Aspekt angesprochen, den ich aufgreifen und gegebenenfalls erweitern möchte: Ein Land wie Malta hätte heute keine Chance, den USA auf Augenhöhe begegnen zu können. Selbst ein größerer Staat wie Deutschland hat diese Chance nur noch scheinbar, meinte er. Was Europa brauche, sei eine transnationale Souveränität.
Und damit hat er Recht. In der Realität müssen auch wir kuschen, wenn es hart auf hart kommt. Mit unseren amerikanischen Freunden verbindet uns zwar vieles, aber kaum jemand kann ihnen bei politischen Streitthemen auf gleicher Höhe begegnen. Angelegenheiten wie die aktuelle Ausspäh-Affäre sind nur ein weiterer ein Beweis dafür. Solange die europäischen Staaten sich eher voneinander entfernen als sich anzunähern, haben wir keinen sicheren Stand auf dem Weg in die Zukunft. Ob Malta, Rumänien, Deutschland oder Frankreich – wir schaffen es nur gemeinsam. Einzeln betrachtet sind wir ein Flickenteppich von Nationalstaaten, von denen alle einer oft widersprüchlichen Politik folgen. Dies hat es den USA in der Vergangenheit zu oft ermöglicht, sich seine Verbündeten gezielt herauszupicken. Als es beispielsweise 2003 gegen den Irak ging, wurden Deutschland und Frankreich kurzerhand als das „alte Europa“ deklariert. Das „neue Europa“ (Polen) hingegen bekam das Oberkommando über eine der Besatzungszonen südlich von Bagdad.

Mehr denn je befindet sich Europa heute in einer Krise. Der Euro wackelt bedenklich, die Skeptiker scheitern selbst in Deutschland nur noch knapp an der 5-Prozent-Hürde. Nach der totalen Zerstörung 1945 hatten Adenauer und De Gaulle eine Vision, heute dagegen ziehen die ersten wieder den Schwanz ein. Doch ist uns überhaupt klar, was wir mit unserer Skepsis aufs Spiel setzen? Wir sind nur als geeintes Europa überlebensfähig – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Wenn wir auch nur anfangen mit dem Gedanken zu spielen, das Projekt Europa für gescheitert zu erklären, dann haben wir bereits verloren. Wenn wir uns wieder zersplittern, um danach innerhalb der eigenen, dichten Grenzen – geografisch wie kulturell – vor uns hin zu vegetieren, finden wir uns dort wieder, wo wir am Beginn des 20. Jahrhunderts schon waren, während die Konkurrenz schon darauf wartet, uns aufzukaufen. Aus Angst vor zu viel Europa suchen wir uns verzweifelt die letzten deutschen Werte zusammen, mit denen wir uns identifizieren können, und pflegen sie dann, ohne sie zu leben, ausgestellt und ausgestopft wie in einem Museum. Und dieses Museum schützen wir vor jungen, arbeitswilligen und überdies schutzbedürftigen Asylsuchenden, aus Angst vor Überfremdung und vor allem aus Angst um unser Geld.
Doch wie kann man von einem Bürger oder einer Bürgerin erwarten, Asylbewerber als gleichwertige Individuen zu betrachten, wenn er oder sie doch sogar gegen diejenigen noch Vorurteile hegt, die schon seit vierzig Jahren hier leben? Oder gar gegen europäische Nachbarn wie Franzosen oder Italiener? Während die einen über Europa fantasieren und den Blick für den Alltag verloren haben, denken die anderen immer noch, Deutschland sei ein autarker Organismus, der ohne Zuwanderung auskommt oder sich gegen diese gar zu schützen hätte. Beide Gruppen reden aneinander vorbei und entfernen sich voneinander. Und irgendwann blockiert der eine den anderen. Europa droht immer wieder an unserer eigenen Engstirnigkeit zu scheitern, in Berlin genauso wie in London oder Brüssel. Dabei bietet der Gedanke Europa jedem die Chance, sich einzubringen und Dinge zum besseren zu verändern. Da diese Chance jedoch zu selten eingefordert und gelebt wird, gerät sie immer mehr in Vergessenheit und wird mit der Zeit so irrelevant, dass sie als Möglichkeit zu bestehen aufhört.

Einheit in Vielfalt

Wir sind nicht die USA, heißt es. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ seien eine Illusion. Viel zu vielseitig seien die europäischen Länder, viel zu verschieden. – Doch wollen wir so werden wie die USA? Der Große Bruder sollte seine Vorbildfunktion schon lange verloren haben. Wir wollen nicht so oberflächlich und blind vor Patriotismus sein wie unsere westlichen Nachbarn. Trotzdem ist ein vereintes Europa möglich. Unterschiede und Differenzen sind nur faule Ausreden, um sich der Herausforderung zu entziehen.
Es gibt ein Land im Süden Asiens, das sich den Grundsatz „Einheit in Vielfalt“ seit jeher zur Devise gemacht hat. Indien ist die bevölkerungsreichste Demokratie dieser Erde und ein Land, das 28 Bundesstaaten und 23 offizielle Sprachen in sich vereint. Obwohl Hindi die Amtssprache ist, wird es von kaum jemandem im Süden des Landes verstanden. Indien ist so groß, dass es von London bis Moskau reichen würde und vom Süden Norwegens bis nach Tunesien. Die Menschen sind topmotiviert und erfüllt von einem uns ungewohnten Nationalstolz, der auch vom gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre herrührt.
Dieses Land hat noch sehr große Probleme, viele Menschen leben in Armut, die Slums sind überfüllt. Wahrscheinlich findet man dutzende Gründe, weshalb man Indien nicht mit Europa vergleichen kann. Und doch ist es ein Land, das genauso viele Staaten in sich vereint wie die EU, in denen sich Menschen in fast genauso vielen verschiedenen Sprachen unterhalten, unter einer gemeinsamen Flagge.

Europa steckt in einer Krise, die mit dem Euro begann und bei Bürgerrechtsverletzungen noch nicht zu Ende ist. Oft mangelt es am gemeinsamen Kurs, der an großen Meinungsverschiedenheiten scheitert. Doch das Projekt Europa ist noch nicht zu Ende, es steht vielmehr am Anfang einer Erneuerung. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis sich jeder Deutsche mit dem Gedanken einer europäischen Einheit anfreunden kann oder bis ein Ungar seine Vorurteile gegen einen Rumänen abbaut. Doch wir haben keine andere Wahl als flexibel, offen und nachhaltig zu agieren, wenn wir unser Ansehen, unsere Werte, unseren Frieden und vor allem unseren Wohlstand auf lange Dauer wahren wollen. Um unsere europäische Freiheit zu sichern, müssen wir einen Teil unserer nationalen Souveränität aufgeben und der Verantwortung der europäischen Allgemeinheit anvertrauen. Erst eine transnationale europäische Souveränität bringt uns mit den Großen der Welt endgültig auf Augenhöhe. Zusammen bilden wir mit knapp 507 Millionen Einwohnern den größten Binnenmarkt der Erde und einen verlässlichen Partner. Nur geschlossen könnten wir uns dauerhaft behaupten gegen aufstrebende Wirtschaftsriesen wie China oder Indien – und gegen Menschenrechtsverletzungen auf eigenem Territorium, durch die eigenen, übermächtig erscheinenden Freunde in Washington.


Samstag, 5. Oktober 2013

Einwanderungsland Deutschland (Zusammenfassung eines Artikels aus der ZEIT vom 09.10.2013)

(Presseschau)

Vor einigen Tagen habe ich in der ZEIT einen interessanten, teils provokanten, teils bewusstseinserweiternden Artikel mit der Überschrift „Deutschland durchgehend geöffnet“ gelesen. Die Journalistin Özlem Topçu und der stellvertretende Chefredakteur Bernd Ulrich erörtern die momentan existierende Chance, Deutschland zu einem echten Einwanderungsland zu machen. Es kommen verschiedenste Punkte zur Sprache, u.a. geht es um die doppelte Staatsbürgerschaft, um das gesellschaftliche Klima in Deutschland und um den Bedarf an neuen Zuwanderern, der unbestreitbar besteht.
Da ich vermute, dass wahrscheinlich ein großer Teil meiner Leser diesen Artikel auf Seite 3 der Printausgabe nicht gelesen hat, möchte ich ihn hier zusammenfassen, einige interessante Stellen zitieren und eventuell den einen oder anderen Aspekt ein wenig erweitern.

Die Autoren beginnen mit der aktuellen Situation in Deutschland, mit der Problematik des Nachwuchsmangels. Alte Strategien, Akademikerinnen und Akademiker zum Kinderkriegen zu überreden, seien gescheitert. Deutschland brauche eine stabile Einwanderung, laut Statistik sogar bis zu 400.000 Menschen pro Jahr. Bis 2030 würden in Deutschland fünf Millionen Arbeitskräfte fehlen. – Für ein Land, das nicht nur geografisch, sondern auch wirtschaftlich die Mitte Europas bildet, ist Zuwanderung lebenswichtig.
Einwanderung sei außerdem nichts, das man bloß „ertragen“ müsse, sondern etwas Erstrebenswertes.  Die Autoren des Artikels haben entdeckt, was den Deutschen seit jeher davon abhält, seine Heimat als Einwanderungsland zu begreifen. Es ist die „altdeutsche Frage: Wann geht ihr wieder nach Hause?“ Denn tief im Bewusstsein der meisten Deutschen sitzt immer noch der Gastarbeiter, der seit 40 Jahren auf die Heimkehr wartet, genauso wie sein alteingesessener Gastgeber. Ob das Wort Gastgeber hier angemessen ist, wage ich in Zweifel zu ziehen – vielleicht wäre Arbeitgeber besser. Doch das ist meine eigene Deutung, denn Topçu und Ulrich schreiben ehrlich und zukunftsgewandt, ohne Spott, weniger mit dem Blick nach hinten als mit dem nach vorne. Und so sollte aus ihrer Sicht die Frage nach der Heimkehr von einem modernen, „neudeutschen Wunsch“ abgelöst werden: „Kommt zu uns, geht nicht in die USA!“

„Integration“

Deutschland ist stetig im Wandel, wurde über die Jahre internationaler – und hat es überlebt. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg hätte diese Geschichte der Einwanderung begonnen. Die Deutschen hätten Millionen Vertriebene integriert, „auch wenn sie sich diese Leistung nie eingestanden und sie nie gefeiert haben“, schreiben die Autoren. „Später kamen die Ostdeutschen, deren Fremdheit ein Tabu und eine Tatsache war.“ Es habe Investitionen erfordert und ein Vierteljahrhundert gedauert, doch letztendlich sei diese Integration erfolgreich gewesen. Schon in den Sechzigerjahren begann dann die Zuwanderung von Arbeitern aus Süd- und Südosteuropa, von denen viele blieben. „Man brauchte sie, aber so richtig wollen wollte man sie nicht. – Trotzdem, alle sind jetzt irgendwie drin im Club. Und das Land, es ist nicht untergegangen.“
Der Begriff Integration hat mittlerweile gänzlich ausgedient, meinen Topçu und Ulrich. Wohin solle man sich denn überhaupt integrieren? In eine Mehrheitsgesellschaft, die über die Jahrzehnte immer dieselbe geblieben wäre? Heute kommen wieder Zuwanderer aus ähnlichen Gründen wie die Gastarbeiter damals. Junge Spanier, die in ihrer Heimat mit einer erdrückend hohen Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen haben, füllen hier die vielen unbesetzten Lehrstellen. Ist für solche Menschen das Wort Integration noch zeitgemäß? Immerhin kommen sie aus dem europäischen Ausland. Innerhalb der EU sind wir alle irgendwie zuhause. Auch Topçu und Ulrich sind dieser Meinung. Sie haben auch eine Lösung für das Begriffsproblem parat: „Nur, was soll man sagen, wenn das Wort Integration nicht mehr funktioniert? Probieren wir es vielleicht vorerst mal mit: Zusammenleben.“

Vielfalt und Willkommenskultur

Migranten gingen lieber dorthin, wo entspannter mit Vielfalt umgegangen wird, meinen Topçu und Ulrich. „Die Frage ist also nicht: Wollen wir sie? Die Frage ist: Wie kriegen wir sie zu uns – und was für Gründe hätten sie zu bleiben?“ Man müsse das Klima ändern. Die Union hätte schon das Amt des Bundesbeauftragten für Integration geschaffen, auch die Islamkonferenz war ein guter Anfang. (Leider wurde diese von HP Friedrich an die Wand gefahren…) – Das Innenministerium müsse seinen Job machen und sich um das Kümmern, was in seine Zuständigkeit fiele: Terrorabwehr gegen rechts, links und Islamisten. „Integration und Migration haben dort nichts zu suchen, sie sollten als das behandelt werden, was sie in erster Linie sind: ein arbeits-, bildungs- und gesellschaftspolitisches Thema.“

Manchmal brauche es etwas Radikalität, meinen die Autoren und schlagen etwas vor, das sowohl neue Einwanderer anlocken solle als auch einen Klimawechsel beschleunigen würde:
„Modern und wirklich radikal wäre es, wenn man so jemanden [eine/n Migrant/-in] zum Außenminister macht. Ein Deutscher, dessen Eltern eingewandert sind, repräsentiert Deutschland im Ausland. Wie könnte man besser neue Einwanderer bekommen? Und ein Deutscher, dessen Eltern hier geboren sind, kümmert sich um die, die neu dazukommen.“
Ein interessanter Gedanke. Selbst wenn man in nicht ganz so extremen Zügen denkt, ist die Richtung klar: Die Unterscheidung zwischen uns und denen, die spätestens mit Sarrazin einen neuen Höhenflug erfahren hat, ist für den Wandel Deutschlands zu einer offenen, toleranten Gesellschaft des Miteinanders eher hinderlich.

Die doppelte Staatsbürgerschaft

Schon ziemlich am Anfang kommen die Autoren auf die Sache mit der doppelten Staatsbürgerschaft zu sprechen. Ich stelle diese Thematik an den Schluss, da sie einige gewichtige Schlüsse enthält, welche diejenigen Menschen, die den sogenannten Doppelpass strikt ablehnen, zum Denken anregen könnte.
Topçu und Ulrich stellen fest, dass die Zeiten des Die und Wir vorbei seien. Menschen mit und ohne Migrationshintergrund könnten sich heute leiden, die Deutschen glaubten nicht mehr, dass jemand, der die deutsche und eine andere Staatsbürgerschaft hat, seine Loyalität dann immer der anderen Nationalität schenken würde. Das Fazit:


„Aus diesem Selbstbewusstsein heraus sollte es doch endlich möglich sein, doppelte Staatsbürgerschaften zu akzeptieren. Deutschsein ist etwas Gutes und Haltbares, auch wenn man nebenher noch Türke, Libanese oder Italiener ist. Darum wäre es ein hochwichtiges Symbol, wenn die nächste Regierung […] diese kleinliche, ängstliche Regelung abschafft, die junge Türken und Araber dazu zwingt, eine ihrer Identitäten, ihre Herkunft oder ihre Zukunft, aufzugeben, wenn sie volljährig werden. Ihre erste erwachsene Entscheidung soll ein Nein sein? Eine Trennung? Verrückt.“

Donnerstag, 3. Oktober 2013

Zum Tag der Deutschen Einheit 2013

Ich möchte hier ausnahmsweise keine großen Reden schwingen, obwohl es viel zum Tag der Deutschen Einheit zu sagen gäbe. Trotzdem, an diesem sonnigen Tag, wahrscheinlich einem der letzten dieses Sommers, ist mir nicht nach theoretischen und politischen Hirnanstrengungen zumute. Stattdessen habe ich mich heute schon früh nach Stuttgart aufgemacht. Und es hat sich irgendwie schon gelohnt, an diesem Feiertag übertrieben früh aufzustehen:
Seit heute gehöre ich offiziell zu den wenigen Millionen Menschen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal persönlich zu Gesicht bekommen haben.

Die Kanzlerin in Stuttgart (3. Oktober 2013),
© Thorschten
Fast hätten ganze drei Stuttgart-21-Gegner den meisten Schaulustigen mit ihren Bannern die Sicht genommen, doch dann hat man sie höflich, aber nachdrücklich gebeten, doch an jedem anderen Tag und an jedem anderen Ort demonstrieren zu wollen. Ein bisschen pissig sind sie dann abgezogen. Kurz darauf kamen die Politiker: Beim Auszug aus der Stiftskirche nach einem ökumenischen Gottesdienst am Morgen schritt neben der Kanzlerin auch Bundespräsident Gauck sehr repräsentativ aus der Pforte. Beide wurden jedoch überragt vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten, dem Gastgeber des diesjährigen „Bürgerfestes“ anlässlich des Tags der Deutschen Einheit. Der Festakt und die Rahmenveranstaltungen fanden dieses Jahr in Stuttgart statt, weil Baden-Württemberg zurzeit den Vorsitz im Bundesrat hat. Zeitgleich findet auch das Volksfest auf dem Cannstatter Wasen statt, was die Zug- und Bahnverbindungen erst recht strapaziert hat.
Am 2./3. Oktober gab auf Schlossplatz, Königs- und Theodor-Heuss-Straße eine Vielzahl von Würstchenbuden, repräsentativen Pavillons politischer Einrichtungen und Zelten der verschiedenen Bundesländer. Neben bekannten und unbekannten Musikgruppen stieß man zudem auf Autohersteller, die zum Gewinnspiel einluden. Bundestag und Bundesrat veranstalteten einen Tag der offenen Tür – weit weg von Berlin.

Hier ein paar Bilder.

Der Bundesrat in Stuttgart. :)

Volksmusik und Trachten.

Ein afrikanischer Chor unter Anleitung dieses
charismatischen Herrn singt zu Ehren der Kanzlerin.

Natürlich gäbe es viel zu sagen zu Deutschland, der Einheit und den letzten zwei Jahrzehnten. Auch könnte man das Selbstbild Deutschlands diskutieren, über Wirtschaft, Werte und Integration reden. Andererseits sind wir jeden Tag aufgefordert, uns mit unserer Gesellschaft und ihren Herausforderungen auseinanderzusetzen, morgen wieder und auch gestern schon. Heute lasst uns einfach unsere Einheit genießen und im Radio auf die Hits des Jahres 1989 horchen… :)

Mittwoch, 11. September 2013

Die Qual der Bundestagswahl 2013

Die Einstellung des SPD-Spitzenkandidaten Peer Steinbrück gleicht einer Mischung aus Mut, Wahnsinn und bewundernswertem Optimismus, denn dieser Mann will Kanzler werden. Ohne Große Koalition und auch ohne Rot-Rot-Grün. Lange wussten die Umfragewerte etwas ganz anderes zu berichten, doch zwei Wochen vor der Wahl hat Steinbrück bei der Frage, welchen Kanzler bzw. welche Kanzlerin sich die Deutschen wünschen würden, ordentlich zugelegt und die 35-Prozent-Marke geknackt. Währenddessen verliert Angela Merkel ein paar Punkte – um genau zu sein: zwei – und findet sich nun bei 50 Prozent wieder, immer noch weit vor ihrem Herausforderer.
Der Wahlkampf, der dieses Jahr nicht heftiger geführt wurde als sonst auch, spitzt sich langsam aber sicher zu. Wir haben dutzende von Interviews gesehen und gelesen, mussten ein Kanzlerduell über uns ergehen lassen und durften anderntags die Spitzenkandidaten aller dritt- oder schlechter platzierten Parteien anhören. Und dennoch bleibt eine der bedeutendsten Fragen bestehen, mit denen sich der oder die deutsche/r Bundesbürger_In dieser Tage konfrontieren muss:
Was, wen und um Himmels Willen warum soll ich im September wählen? (Hilfe)

Grund genug um einmal den Rundumschlag an Informationen einzukassieren. Inhalte sind gefragt! Was sind die zentralen Themen des Wahlkampfes und worin besteht eigentlich der Unterschied? Lohnen die gefühlt wenigen Differenzen überhaupt, etwas anderes zu wählen – oder überhaupt eine Stimme abzugeben?

„Stillstand“

Ein Hauptargument der Herausforderer in diesem Wahlkampf ist die Tatsache, dass sich angeblich nichts tut in Deutschland. Es gebe keine Veränderung, keine Verbesserungen. Franz Müntefering (SPD) bringt im Interview mit der ZEIT zum Ausdruck, an was es vor allem der deutschen Politik momentan fehlt: „Wenn man nicht mehr die Leidenschaft hat, Dinge zu verändern, wenn man nichts mehr will, sondern nur verwaltet, dann muss man besser aufhören. Leider ist das im Moment der Zustand in der deutschen Politik. Da ist keine Perspektive, keine Vision von dem, was eigentlich passieren muss.“ Und dies werfe er vor allem der Kanzlerin vor, sagt Müntefering.

Im TV-Kanzlerduell musste sich Bundeskanzlerin Angela Merkel von Herausforderer Steinbrück anhören, die amtierende Regierung hätte nichts erreicht. Steinbrück nahm vor allem den sozialen Bereich als Angriffsfeld wahr. Obwohl 2011 das „Jahr der Pflege“ ausgerufen worden sei, hätte sich in der Branche nichts positiv verändert. Doch Merkel verweist auf die vielen Gesetze, die unter ihrer Regierung verabschiedet worden waren: Der Demenz-Begriff zum Beispiel sei schon längst in das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz mit eingenommen worden.
Steinbrück und auch seinen Bündnispartnern ist das deutlich zu wenig. Auch die linke Ver.di-Zeitschrift „Publik“ schreibt, dass zu wenig getan wurde, vor allem für den kleinen Mann. Aufstockung und Altersarmut als Bedrohungen im Alltag – während die schwarz-gelbe Koalition keinen Handlungsbedarf sehe, bliebe Steuerungerechtigkeit bestehen. Ein stark unterfinanziertes Bildungssystem, marode öffentliche Infrastruktur, Defizite bei der Versorgung Pflegebedürftiger.
Auch die Grünen sehen vor allem Aufholbedarf bei Infrastruktur, Familien und Bildung. Angela Merkel erweckt zwar bisweilen den Anschein, ihnen wichtige Wahlkampfthemen geklaut zu haben – der Atomausstieg ist in vollem Gange, die Homo-Ehe ist auf dem Weg, über den Mindestlohn wird geredet – doch der Schein trügt! So zumindest die Meinung der Grünen. Die Kanzlerin widmet sich den meisten Themen nur widerwillig oder ganz einfach weil sie es muss. Zum Atomausstieg sei sie durch die Geschehnisse in Fukushima gedrängt worden, kurz nachdem sie die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke durchgebracht hatte. Der gesetzliche Mindestlohn werde bisher genauso verhindert wie z.B. die Mietpreisbremse. Und was die Homo-Ehe angeht, musste die Regierung ganze acht Mal vom Bundesverfassungsgericht zu Fortschritten gezwungen werden. Es werde viel geredet, aber nur wenig getan. Der Eindruck einer mehr verwaltenden als regierenden Kanzlerin – zumindest was die innerdeutschen Angelegenheiten angeht – hat sich bei den Wählerinnen und Wählern festgesetzt.

Aus Perspektive der Bundesregierung sieht die Lage bedeutend anders aus. Deutschland sei in den letzten zehn Jahren ein gutes Stück vorangekommen, sagt Merkel. Sie verschiebt den Fokus vor allem auf die Wirtschaft. Man habe im Übrigen auch von Schröders Agenda 2010 einiges mitgetragen und in der Großen Koalition z.B. die Rente mit 67 beschlossen, um auf die gestiegene Lebenserwartung zu reagieren – was ja grundsätzlich eine sehr positive Entwicklung sei. Sie bemerkt zudem, dass „die sozialen Sicherungssysteme Rente, Pflege und Gesundheit […] wegen der erfreulichen Beschäftigungslage zurzeit recht gut“ dastünden. Merkel hat jedoch erkannt, dass sich mit der Alterung der Gesellschaft neue Probleme ergeben werden: In unserem Land gäbe es „bis 2025 rund sechs Millionen Arbeitskräfte weniger“ als heute. Man müsse reagieren und z.B. Uni-Vorkenntnisse von Studienabbrechern in einer Ausbildung berücksichtigen. Dies reiche jedoch nicht, gesteht sie ein. Deshalb hätte die Bundesregierung die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse vorangetrieben, was zehntausenden in Deutschland lebenden Migranten zugutekommen würde. Europa bräuchte nicht nur einen Binnenmarkt, „sondern in Zukunft einen gemeinsamen Arbeitsmarkt“.

Arbeit

Peer Steinbrück zeigt sich als Vertreter der sozialdemokratischen Ur-Werte: „Ich will Kanzler eines Landes sein, in dem jeder, der Vollzeit arbeitet, auch davon leben kann.“ Dies sei im Moment nicht der Fall – ein gutes Argument. Doch es kommt auf die Perspektive an, auf die Art und Weise, wie man die Zahlen liest. Die Bundeskanzlerin zieht ein sehr positives Fazit der letzten vier Jahre. Die Arbeitslosenzahlen seien von fünf Millionen auf weniger als drei Millionen gesunken. Die Regierung wolle aber „noch mehr Menschen in Beschäftigung bringen, faire Beschäftigung….“ Was ist faire Beschäftigung? Merkel meint, man sei bei der Leiharbeit ein gutes Stück vorangekommen. „Für diesen Bereich bedeutet der tarifliche Mindestlohn einen echten Fortschritt.“ Es gehe insgesamt fairer zu auf dem Arbeitsmarkt. Auch was die Managergehälter angeht, sei man nicht komplett untätig gewesen und habe bei der Festlegung der Vorstandsvergütung den Aktionärshauptversammlungen mehr Verantwortung gegeben. „Das ist nicht mehr nur den Aufsichtsräten überlassen.“ Nur der Bundesrat müsse das Gesetz noch verifizieren.

Mit ihrem Wahlkampfthema Nr. 1 scheint sich die Bundeskanzlerin auf gesichertem Terrain zu bewegen. „Sichere Arbeit“ ist der Wahlkampfslogan, drei Millionen minus X die Referenz. Die Gewerkschaften haben andere Zahlen vorliegen. Ver.di macht Wahlkampf in seinem Sprachrohr „Publik“ und klagt an: „In unserem Land ist manches aus den Fugen geraten“, heißt es da. „Weil der geringe Verdienst zum Leben nicht reicht, müssen hunderttausende Beschäftigte in Deutschland zusätzlich staatliche Hilfe beantragen. Allein in den fünf Jahren zwischen 2005 und 2010 hat der Staat 50 Milliarden Euro für die Aufstockung der Niedriglöhne gezahlt, wie aus Zahlen des Bundesarbeitsministeriums hervorgeht.“ Das Blatt weist berechtigterweise auch darauf hin, dass aus Lohnarmut irgendwann Altersarmut wird, beschimpft die Bundesrepublik jedoch auch als Steueroase – ein wenig hoch gegriffen.

An dieser Stelle kollidieren die Weltbilder: „Arbeit um jeden Preis“ gegen „drohende Altersarmut“. Die Zahlen lassen sich unterschiedlich deuten. Am Ende scheint sich der Wähler auf sein Bauchgefühl verlassen zu müssen und die Partei zu wählen, die mehr Vertrauen schafft.

Europa und sein Geld

Europa und der Euro sind auch in diesem Wahlkampf ein zentraler Themenblock. Doch wie kann man die Europapolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel bewerten? Zu Beginn der Euro-Krise hat die Kanzlerin ihre eiserne Haltung konsequent durchgezogen. Ohne ihre Unnachgiebigkeit hätten überfällige Reformen in den südeuropäischen Staaten wohl nie begonnen. Mark Schieritz, Wirtschaftsredakteur der ZEIT, ist jedoch auch der Meinung, dass die Kanzlerin selbst Mitschuld daran trage, dass aus der „griechischen Misere ein Flächenbrand“ werden konnte. Mit ihren harten Sparauflagen habe sie die Wirtschaft in Griechenland erdrückt. Die Drohung, Schuldenstaaten im Notfall aus der Euro-Zone auszuschließen, hätte dazu geführt, dass internationale Investoren ihr Kapital aus betroffenen Ländern abgezogen hätten. Kredite wurden teuer und die Talfahrt begann. Wie sehr die europäische Wirtschaft an Zusagen und Versprechen hängt, zeigt auch die jüngste Verbesserung der Lage: Die Panik an den Finanzmärkten sei beendet worden, als Notenbankpräsident Mario Draghi versichert hatte, die Währungsunion um jeden Preis vor dem Zerfall zu bewahren. Dieser Politikwechsel wird von der Kanzlerin mitgetragen, obwohl sich ihre Rhetorik kaum verändert hätte, so der Wirtschaftsexperte Schieritz. Für die Zukunft prophezeit er, dass die Deutschen irgendwann wissen wollten, für was ihre Kanzlerin steht – eine berechtigte Forderung in Zeiten, wo es manchmal einfacher ist, sein Fähnchen in den Wind zu hängen.

Beim Thema Euro treffen wir auf die „Alternative für Deutschland“ (AfD), die mit dem ungeliebten, für viele Nostalgiker immer noch neuen Geld nichts anfangen können und einer „alternativlosen“ Politik trotzen wollen. Mit Wirtschaftsprofessoren und einer handvoll Experten appellieren sie an die Vernunft der Deutschen. Das Wahlprogramm der Partei, die um eine Koalition mit der CDU buhlt, hat noch mehr zu bieten als die Euro-Krise. Doch Europa ist das Hauptanliegen. Mehr Demokratie bei wichtigen Entscheidungen, Volksabstimmungen auf Bundesebene – Deutschland soll souverän bleiben und seine eigene Stimme schützen. Zwar will sich die AfD nicht in die rechtsextreme Ecke drängen lassen und empfindet Vergleiche mit der NPD „lächerlich“, doch Beobachter sehen durchaus Parallelen zur Rhetorik rechtspopulistischer Parteien. Alles in allem wird man die „Alternative“ wohl rechts von der CDU im Bundestag platzieren müssen – sollte es soweit kommen.

Unterdessen meldet sich Angela Merkel im FOCUS zur Euro-Krise zu Wort und sagt, man sei ein gutes Stück vorangekommen. „Den Investoren in aller Welt ist klar geworden, dass die Euro-Zone zum Euro steht. Es war richtig, dass die Bundesregierung seit Beginn der Staatsschuldenkrise konsequent auf eine Stabilitätsunion und nicht auf eine Schuldenunion gesetzt hat.“ Außerdem definiert sie das Bild eines geeinten Kontinents: „Europa ist für uns nicht nur als Wirtschaftsraum wichtig, sondern als Wertegemeinschaft.“ Europa sei auch in der Krise keine Opfergemeinschaft, sondern eine „Friedensgemeinschaft, wie sie dieser Kontinent zuvor nie erlebt hat.“

„Neuland“ und die NSA

Das aufregendste Eigentor, das sich Angela Merkel kürzlich geschossen hat, ist die „Neuland“-Aussage. Das Internet als unbekanntes Terrain – vielleicht nur ein Vorwand, um sich bei der NSA-Affäre aus der Verantwortung zu ziehen? So zumindest sieht es Jürgen Trittin. Das Internet sei für die Grünen kein Neuland, fügt er in einem FOCUS-Interview an und verweist auf das Versagen der Bundesregierung im Umgang mit der Ausspähaffäre. Die Menschen hätten zwar das Gefühl gehabt, es geahnt zu haben. Neu sei aber, „dass eine Regierung stumm und tatenlos zusieht, wie elementare Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger von befreundeten Staaten verletzt werden.“ Damit holt er sich in der fiktiven Diskussionsrunde einen wichtigen, aber für die Opposition recht leicht verdienten Punkt. Die abwartende und übervorsichtige Haltung der Regierung hat viele Bürger verunsichert. Später, im Kanzlerduell, machte die Bundeskanzlerin jedoch deutlich, dass sie nichts halte vom unüberlegten Vorpreschen.

Der Arabische Frühling

Syrien und Ägypten sind keine Wahlkampfthemen – wohl deshalb, weil man sich über alle Lager hinweg, in allen EU-Staaten und Regierungen bis vor kurzem unklar war über ein weiteres Handeln. Vom FOCUS zu den mutmaßlichen Giftgasangriffen in Syrien befragt, verweist Bundeskanzlerin Merkel auf Russland und China, die eine Aufforderung des UN-Sicherheitsrats an das Assad-Regime, den Kontrolleuren freien Zugang zu gewährleisten, verhindert haben. „Wir werden aber weiterhin auf Aufklärung drängen.“ – Beim Gipfel der G20-Nationen einige Wochen später hielt sie sich zurück, unterzeichnete eine Erklärung zur Unterstützung des Vorgehens der USA nicht. Am nächsten Tag schloss sich Deutschland dann doch noch an, mit einiger Verzögerung. Man wolle einen einheitlichen europäischen Kurs fahren.
Der Arabische Frühling gehört nicht in den Wahlkampf. Doch die Politik sollte sich darüber klar werden, dass die Maßstäbe der europäischen Demokratie von außerhalb gut beobachtet werden. Wer sich in einer grausamen Welt als Verfechter der moralischen Werte sieht und angesichts politischer Umstürze im Mittelmeerraum ins Schwanken kommt, riskiert seine Glaubwürdigkeit. Auch was z.B. Wafenexporte angeht: Der Linke Jan van Aken prangert schon seit längerem das Verkaufen von Waffen an Staaten mit zweifelhaftem Demokratiestatus an. Mit ihrer Forderung „Waffenexporte verbieten!“ steht die LINKE jedoch ziemlich alleine da.

Der Veggie-Day

Die Grünen sorgten mit dem Veggie-Day für Schlagzeilen. An Freitagen soll es in deutschen Kantinen nur noch vegetarische Gerichte geben – oder wie war das? „Wir wollen, dass die Kantinen zeigen, dass ein fleischloser Tag pro Woche gut möglich ist. Es soll ein Angebot zum Ausprobieren sein“, sagt Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckhardt im Interview mit dem FOCUS. „Wir schaffen Wahlfreiheit und wollen, dass die Leute wissen, was sie tatsächlich auf dem Teller haben.“ Aus dieser Perspektive klingt das Vorhaben dann doch etwas weniger erschreckend für Fleischgenießer. Dennoch dürfte der Veggie-Day vor allem den freiheitsliebenden Liberalen von der FDP ein Dorn im Auge sein. Sogar die Kanzlerin meldete sich in einem Interview zu Wort und erläuterte ihre Ansicht zu der Debatte: „Auch viele CDU-Wähler interessieren sich sehr für gesunde Ernährung, alternative Medizin oder Umweltthemen, aber wir schreiben niemandem vor, was richtig und falsch ist und was er oder sie zu tun hat.“ Ihre Partei wolle sich nicht einmischen in die Belange der Einzelnen.
Das Schicksal Deutschlands wird vermutlich nicht in den Kantinen und Suppenküchen entschieden, weshalb der Veggie-Day-Faktor beim Ausgang der Bundestagswahl auch so gut wie keine Rolle spielen wird. Und doch werden wir uns in einigen Jahren vielleicht schmunzelnd zurückerinnern an dieses kleine kulinarische Intermezzo.

PKW-Maut

Ebenso verhält es sich mit der PKW-Maut: Ein Thema, das bis zum Ende der Legislaturperiode keinen interessiert, kurz vor Schluss jedoch doch noch aus dem Waffenschrank geholt wird. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) erhoffte sich wohl, einige Stimmen zu sichern, indem er (den Fakten nach völlig ungerechtfertigt) ausländische Autofahrer auf deutschen Autobahnen zur Kasse bitten will. Im Kanzlerduell machte Angela Merkel (auf vehementes Nachfragen der Moderatoren) jedoch eine klare Ansage: „Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben.“ Die Kanzlerin hat keine Angst vor den Drohgebärden des bayerischen CSU-Querulanten. FDP-Generalsekretär Patrick Döring hatte kurz zuvor die Idee einer PKW-Maut als „bayerisches Wahlkampfgetöse“ bezeichnet – mehr ist sie auch nicht.

Weitere (Nicht)Themen

Was kam in diesem Wahlkampf zu kurz? Um Waffenexporte kümmern sich wie gesagt nur die Linken. Was Integration und Migranten angeht sah sich die SPD lange Jahre in einer gesicherten Position: Arbeiter – auch Gastarbeiter – wählen die SPD. Deshalb lohnt es sich scheinbar nicht, in dieser Bevölkerungsgruppe gezielt Wahlkampf zu machen – ein Fehler? Das Thema Integration und Zuwanderung bleibt wieder einmal fest in der Hand der NPD, der es bekanntlich weniger um die in Deutschland lebenden Menschen geht, sondern ausschließlich um die Müllers und Mayers unter uns. Auch um die Rente kümmern sich die Rechten: Unter ihrer Herrschaft soll es weniger Geld für Sinti und Roma geben und mehr für die sympathische Großmutter von nebenan…
Es wurde zwar über Arbeit gesprochen und über Soziales, über Kitas und Altersarmut, aber Bildung als solche war selten im Blickpunkt. Wahrscheinlich will sich niemand dafür rechtfertigen, dass überall Lehrer eingespart werden. Die CDU spart Lehrer ein, die Grünen in Baden-Württemberg neuerdings auch, obwohl sie sich früher – als sie noch in der Opposition waren – immer dagegen gewehrt haben.

Markt der Koalitionen

Für alle Beteiligten sind die Optionen für die kommende Regierung klar: Merkel will weiter christlich-liberal regieren. Dazu bedarf es aber wohl zuerst einer Wiederbelebung der FDP. Für die Bundeskanzlerin kommt ein Bündnis mit den Grünen nicht infrage, versichert sie dem FOCUS. Sie gesteht ein, dass durch das Thema Kernenergie „ein großes Streitthema unserer Gesellschaft ausgeräumt“ wurde, ansonsten sieht sie jedoch viele Unterschiede zwischen dem Programm der CDU und denen der SPD und der Grünen. Von der Krisenpolitik der Grünen (Schuldentilgungsfonds für alle Euro-Staaten) hält sie genauso wenig wie von Vermögenssteuer, höheren Belastung der Einkommen oder Streichung des Ehegattensplittings. An anderer Stelle hat sie schon oft behauptet, dass sie sich durchaus gern an die Zeit der Großen Koalition zurückerinnert. Merkel hält sich die Option offen, unter Schwarz-Gelb noch eine Amtszeit hinzulegen.
Steinbrück hält unterdessen an Rot-Grün fest. Er will keine Große Koalition. Und auch mit der Linken lehnt er jede mögliche Zusammenarbeit für einen Regierungswechsel ab und hat die Partei u.a. im Kanzlerduell als „kommunistische Plattform“ bezeichnet. Die Linke würde aber wahrscheinlich über diese Beleidigung hinwegsehen und trotzdem koalieren wollen. Vielleicht werden Ende September die Karten nochmal gemischt. Vielleicht überlebt die FDP, vielleicht fordern die Piraten einige Sitze im Bundestag? Vielleicht erstickt das Pflänzchen der AfD schon im Keim? Wir wissen es nicht.

Letztlich lässt sich nur sagen, dass es am 22. September durchaus noch spannend werden kann. Wie seufzte schon der Volksmund: „Jeder hat sein Kreuz zu machen…“ – Und weil ich jedem Demokraten die aktive Partizipation an dieser lebenserhaltenden Maßnahme unseres nicht perfekten, aber immer noch im weltweiten Vergleich als am tauglichsten erwiesenen Systems gönne, kommt an dieser Stelle meine Aufforderung:

Liebe Leserinnen und Leser, geht wählen!


 (Fußnoten sind bei Interesse beim Autoren anzufordern.)