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Montag, 29. Juni 2015

Selbstverständnis & Selbstkritik - Deutschland und die EU im Spiegel der Ukraine-Krise

Ich möchte die Demokratie gegen nichts auf der Welt eintauschen. Doch zu einem gesunden Selbstverständnis gehört auch Selbstkritik, besonders in Tagen des Schwarz-und-Weiß-Denkens. Seit dem Beginn der Ukraine-Krise sind die Positionen westlich und östlich der Front klar aufgeteilt, doch macht uns dies nicht alle gleich. Und es täuscht nur kurzfristig über die Probleme hinweg, die wir in Zukunft noch bekommen werden oder schon längst haben. Es besteht Nachholbedarf, an allen Ecken und Enden – und nicht nur in Deutschland. Wenn es um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte geht oder um den Umgang mit Menschen ausländischer Herkunft. Dass Lettland noch immer Gedenkmärsche für seine Kriegsteilnehmer aus den Reihen der Waffen-SS abhält, an denen im März 2015 noch 1.500 Männer teilnahmen, kann man als alternative Interpretation europäischer Geschichte deuten. Doch dass der ungarische Präsident auf Wahlkampfplakaten fremdenfeindliche Sprüche gegen Flüchtlinge klopfte, ist ein akutes Problem. Natürlich, die Plakat-Botschaften waren in ungarischer Sprache abgefasst und richteten sich an das ungarische Wahlvolk, doch Fremdenhass (und wahrscheinlich auch schlichtweg Angst vor der Einwanderung) ist ein Problem, dem in vielen Ländern mit Nachsicht und allzu großem Verständnis begegnet wird. Doch abseits der Flüchtlingsproblematik gibt es andere beunruhigende Tendenzen, die sich vor allem im Kontext des Konflikts mit Russland manifestieren. In Litauen wird das Schulfach „patriotische Erziehung“ eingeführt, in Polen formiert sich angesichts der russischen Bedrohung die Federacja Organizacji Proobronnych (FOP, Föderation der Pro-Verteidigungsorganisationen). Dieser Verband soll Freiwillige bündeln und bis in drei Jahren mit 100.000 Mitgliedern in jedem Kreis präsent sein. Eine Aufgabe der Organisation – neben der Verteidigung gegen „den Russen“ – ist die Erziehung der Jugend zum Patriotismus. Ähnliche Bürgerwehren bilden sich auch in den baltischen Staaten. Hilft Vaterlandsliebe gegen Faschismus? Eine Legende, an die noch allzu viele glauben mögen.

Ich liebe die Demokratie. Aber ich zweifle so langsam an unserer. Deutschland profitiert an einem Konflikt, zu dessen Entschärfung auch von europäischer Seite nichts beigetragen wird: Polen hat Ende 2013 einen Kaufvertrag zur Lieferung von 119 deutschen Leopard-Panzern, 18 Bergepanzern und 200 Militär-LKWs unterschrieben. Ende Mai hat Rheinmetall bekannt gegeben, mit einem polnischen Joint Venture einen neuen Radpanzer zu bauen. Die polnische Regierung will 200 Stück kaufen, Umsatz: 300 Millionen Euro. Litauen wird demnächst mit deutschen Panzerhaubitzen und Feuerleitsystemen ausgestattet. Natürlich ist Deutschland nicht der einzige Lieferant. Doch bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, dass man viel mehr Mühe in die militärische Hochrüstung zu legen scheint als in diplomatische Friedensbemühungen. Während der Diplomatie die Ausdauer schwindet, beginnt die Wirtschaft zu frohlocken. Ich will Pazifismus...

Ich glaube an die Demokratie und bin der Meinung, dass man ein paar Macken in unserem System durchaus kurieren kann. Aber vielleicht sollten wir erst einmal offen bekennen, dass auch wir einen Propaganda-Apparat betreiben, bevor wir die Medien unserer Kontrahenten verurteilen. Die Deutsche Welle hat seit Mitte Mai ein Abkommen mit den baltischen Staaten und liefert russischsprachige Fernsehbeiträge. Ein Zitat des DW-Intendanten Peter Limbourg: „Mit unseren Programmlieferungen in russischer Sprache tragen wir dazu bei, dass die Menschen Informationen russischer Medien besser einordnen können.“ – Was ist das, wenn nicht Propaganda? Von Deutschland an Russen. Das gleiche macht Russland mit seinem Russia-Today-Büro in Berlin. Und das finde ich nicht gut.
Derweil wird unterbunden, dass Russland seine Minderheiten im Baltikum medientechnisch versorgt. Doch wieso ist es überhaupt nötig, dass sich der russische Staat um Bürger in europäischen Ländern kümmern muss? Vielleicht weil diese gar keine Bürger sind: Nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten bekam die russische Minderheit nur unzureichend die Möglichkeit, die jeweilige neue Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden diese (meist russischsprachigen) Einwohner staatenlos. Heute leben 91.000 Staatenlose in Estland (laut Amnesty International), in Lettland sind es 300.000 und damit knapp 15 % der Bevölkerung. Wenn wir es als falsch empfinden, dass sich Russland um Russen kümmert, wie stehen wir dann dazu, dass sich das deutsche Innenministerium um deutsche Minderheiten im Ausland kümmert? Eine absurde Frage, oder nicht?
Aufgrund der alltäglichen Diskriminierung in Form von unzureichendem Zugang zu staatlichen Leistungen, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und vor allem dem fehlenden Wahlrecht ist die russische Minderheit in diesen Ländern Putin gegenüber zum großen Teil freundlich eingestellt. Doch das können wir nicht verstehen: „Im Nato-Land Estland […] sehen nur rund 30 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung das Verteidigungsbündnis [NATO] positiv – obwohl Nato-Jets den Luftraum schützen und inzwischen ständig US-Truppen im Land sind“, schreibt Spiegel Online und wundert sich. Seit April 2014 sind in Lettland, Litauen und Estland jeweils 150 US-Soldaten stationiert, von denen einige an der Militärparade zum estnischen Unabhängigkeitstag teilnahmen – aus mainstreameuropäischer Sicht kann das nur positiv sein.

Wenn wir kein Verständnis für Russland aufbringen können und wollen, dann sollten wir wenigstens einmal ein wenig Unverständnis gegen unsere eigene Politik und ihre unverhohlene Falschheit offenbar werden lassen. Und Empörung. Während unsere Währungsunion am Euro und der Griechenland-Politik scheitert und unsere Werte vor Italien und Spanien zusammen mit 25.000 Flüchtlingen ertrinken, bringen wir es immer noch nicht übers Herz, die erste faulige Tomate zu werfen, die ein erster Anstoß zur Heilung des Systems sein könnte.

Freitag, 5. September 2014

Kriegspostkarten

Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Ich habe in meiner Antiquitätensammlung gestöbert und bin auf eine interessante Postkarte gestoßen. Sie stammt aus dem Jahre 1915 und wurde von einem jungen Soldaten an der russischen Front in die unterfränkische Heimat geschickt. Die Bildseite zeigt zwei Motive: Deutsche Soldaten, die mit abgenommenem Helm und abgestellten Gewehren andächtig zum Gebet verharren. Ein Gebet voll „Donner des Todes“ und geöffneten Adern. Die Szene der betenden Männer steht im Gegensatz zu dem zweiten Teil des Bildes: Vorrückende Preußen, die Bajonette auf ihre Gewehre aufgepflanzt. Zwei Armeen stehen sich gegenüber, ein flaggentragender Franzose greift sich mit der Hand ans Herz, getroffen von einer deutschen Kugel.


Der Erste Weltkrieg war nur der Anfang einer katastrophalen Entwicklung, die das 20. Jahrhundert schon in seinen ersten 45 Jahren zu einem blutigen Säkulum werden lassen sollte. Können wir heute noch nachvollziehen, wie sich Deutsche und Franzosen so entschieden entgegentreten konnten, voller Begeisterung und kampfentschlossen bis in den Tod? Vor hundert Jahren zogen die Massen jubelnd in die Schlachten, Rudel frischer Abiturienten warfen ihre Hüte vor Freude über die neue Herausforderung „Krieg“ in die Luft. Diese Karte aus meiner Sammlung ist ein anschauliches Beispiel. Eindrücklich ist der Text, den ein gewisser Joseph an seine Cousine Elise schrieb:

Liebe Elise! Hat Wilhelm Euch schon besucht? Wie sieht er nur aus? Ist seine Wunde gut geheilt? Schade für den armen Kerl, dass er nicht mehr mit spielen kann. Es wird alle Tage interessanter. Die herzlichsten Grüsse an Deine lieben Eltern. Gruss Joseph.

Der Krieg, ein Spiel? Wie groß muss die Begeisterung bei diesem Joseph, einem deutschen Frontsoldaten, im April 1915 gewesen sein? Krieg ist nur dann, wenn alle hingehen und mitmachen. Und vor hundert Jahren waren die Völker geradezu erpicht darauf, an diesem großen „Spiel“ teilzunehmen.


Das erste große Schlachten des 20. Jahrhunderts forderte knapp 17 Millionen Opfer. Die Nationen lernten kaum etwas dazu. Es dauerte kaum mehr als zwanzig Jahre, bis die nächste – noch größere – Katastrophe ihre Opfer forderte.

Und das Schlimme ist, dass es Kriege auch heute noch gibt. Sie sind etwas Menschliches – und unmenschlich zugleich. Doch Menschen finden immer wieder neue Begründungen, um ihre Macht zu demonstrieren, und neue gerechte Verkleidungen, in die sie das Unrecht des Krieges hüllen. Wo stehen wir heute, hundert Jahre nach Kriegsbeginn? Das Jahr 2014 scheint leider ein besonders blutiges Jahr zu werden. Warum?

Dienstag, 22. Juli 2014

Warum Israelkritik in Deutschland nicht zur Kenntnis genommen wird

Leider kann ich der Überschrift dieses Artikels hier nicht vollständig gerecht werden, da zu dieser Fragestellung ganz unterschiedliche Facetten betrachtet werden müssten. Ich kann mich hier nur einem einzigen von zahlreichen Aspekten widmen: der Art und Weise, wie sich „Israelkritik“ in diesen Tagen äußert. Dazu bedarf es gar nicht allzu vieler Worte. Tausendfach verschafft sich „Israelkritik“ und Unterstützung für die Palästinenser Raum auf zahlreichen Demonstrationen in ganz Deutschland. Und obwohl es offiziell meist friedlich zuging, zeugen Bilder und Videos, aber auch Berichte von Augenzeugen auf Facebook, von der Atmosphäre, die ein Großteil dieser Demonstrationen schafft.

Offener Antisemitismus wird von der Polizei gar nicht beachtet, was mittlerweile mehr oder weniger normal zu sein scheint. In Berlin war es sogar möglich, dass der Demo-Veranstalter durch das Polizeimikrofon „Kindermörder Israel!“ skandieren konnte. Gut, das war kein Antisemitismus, sondern Kritik an Israel. Doch was ist mit „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!“, ebenfalls in Berlin? Auf Nachfrage eines Passanten bei einer Demo in Essen am 18. Juli, ob man gegen Parolen wie „Scheiß Juden!“ oder „Scheiß Jude, brenn!“ nicht vorgehen wolle, bekam dieser nur zu hören, dass die Demonstranten ja auch nur ihre Meinung sagen würden. Unter diese freie Meinung fällt natürlich auch die Forderung: „Stoppt den Judenterror!“ - Wo hört Meinungsfreiheit auf und wo fängt Volksverhetzung an? In Essen gab es bunte Plakate, in denen der Davidstern zu einem Hakenkreuz ummodelliert wurde. Ist das Holocaust-Leugnung? Oder wird hier angedeutet, dass „die Juden“ heute „auch nicht besser“ sind? Vielleicht alles nur Spekulation. Aber was ist mit Plakaten mit der Aufschrift „Angeblich früher Opfer, heute selber Täter“? Das Wörtchen „angeblich“ sagt schon alles und die Gesinnung dahinter muss eigentlich nicht weiter ergründet werden. In Essen gesellten sich zu den Palästina-Flaggen noch die von Hamas und ISIS hinzu. Und trotz geworfener Flaschen, Böller und einem Klappmesser sowie der versuchten Konfrontation mit einer Gegenveranstaltung spricht der Leitende Polizeidirektor Detlef Köbbel in seinem Polizeibericht von einer „friedlichen Demonstration“. Was ist da bitteschön los?

Auf der Straße und im Netz fordern zehntausende Menschen, Deutschland solle seine Politik gegenüber Israel ändern und den Waffenhandel mit den Israelis einstellen. Dass Merkel ein ums andere Mal betont, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson, bringt die Menschen auf der Straße zum Rasen. Und doch kann man an der deutschen Politik am wenigsten etwas ändern, indem man sich einem wütenden Mob anschließt, Parolen gegen „die Juden grölt“ und Hamas-Fahnen schwenkt - oder auch nur zulässt, dass andere dies tun. Kritik am unmenschlichen Vorgehen der israelischen Regierung und an der deutschen Außenpolitik kann so nicht wirksam werden. Wer kann erwarten, auf diese Art und Weise ernstgenommen zu werden? Je mehr Raum eine Demo für Antisemitismus, Holocaustvergleiche und blinden Judenhass lässt, umso einfacher wird es für die Politik, diese Demo zu ignorieren. In Zeiten der Gewalt kann nicht von allen Beteiligten erwartet werden, objektiv zu bleiben und nicht emotional zu handeln. Es bleibt also nur zu hoffen, dass die Menschen - wenn nicht dort, dann wenigstens hier bei uns - möglichst schnell zu einer sachlichen und aufrichtigen Diskussionskultur zurückfinden, sobald der aktuelle Gaza-Krieg ein Ende gefunden und das Töten und Sterben aufgehört hat. Ein Fehler wäre es, Gaza nach dem Inkrafttreten des nächsten Waffenstillstandes aus den Schlagzeilen verschwinden zu lassen.


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(Bild: Stefan Laurin, ruhrbarone)

Montag, 21. Juli 2014

Realität des Krieges

Ich selbst habe in meinem Leben nur einmal einen Blick auf Gaza werfen können, aus der Ferne. Damals im Jahr 2010 herrschte relative Ruhe in dem dicht besiedelten Küstenstreifen. Wenn ich also etwas über die Realität des aktuellen Krieges schreiben will, muss ich mich auf die Berichte Anderer stützen. Das birgt spezielle Risiken, ist aber die einzige Möglichkeit, das Leiden auf der anderen Seite des Mittelmeers nicht komplett zu ignorieren.
Wie fühlt es sich an, wenn man in einem Kriegsgebiet lebt? In diesen Tagen erlebt Gaza eine Welle unbarmherziger Angriffe vonseiten der israelischen Armee. Währenddessen schießen Hamas-Kämpfer weiterhin Raketen auf Israel ab. Mittlerweile wurden zwei israelische Zivilisten getötet, die Zahl der Toten auf palästinensischer Seite geht in die Hunderte.

Jürgen Todenhöfer ist ein 73jähriger Publizist aus Süddeutschland.[1] Er berichtete im Morgenmagazin der ARD am 18. Juli live über die Zustände in dem isolierten Stückchen Land, die ihn sichtlich schockierten. Todenhöfer erzählte von überfüllten Krankenhäusern, hilflosen Menschen und unsäglichen Zuständen. Er war sich auch sicher: Die Bodenoffensive würde nicht dazu führen, dass die Hamas zusammenbreche, „aber es bricht das kleine Volk von Gaza zusammen, das dort in einem Käfig auf dem engsten Flecken der Welt lebt.“ Auch der Fotojournalist Tyler Hicks berichtet aus Gaza, wo er sich immer noch aufhält. In einem seiner Berichte für die New York Times beschreibt er den Morgen, an dem vier kleine Jungen an einem Strand von israelischem Feuer getötet worden waren. Darin wird ziemlich deutlich, wie sich die Lage in Gaza im Moment gestaltet: Es kann jeden treffen, eigentlich immer. Hicks schreibt: „Es gibt zurzeit keinen sicheren Ort in Gaza. Bomben können jederzeit irgendwo landen. Eine kleine Wellblechhütte ohne Strom oder fließendes Wasser auf der Hafenmole in der brennenden Küstensonne sieht nicht aus wie die Art von Standort, den Hamas-Kämpfer, die vorgesehenen Ziele der Israeli Defense Forces, aufsuchen würden. Kinder, vielleicht ein Meter Zwanzig groß, in Sommerklamotten, die vor einer Explosion wegrennen, passen ebenfalls nicht auf das Profil eines Hamas-Kämpfers.“ Und genau einen Tag später ist es wieder passiert. Dylan Collins, dessen Fotos bei VICE zu sehen sind, war in Gaza, als eine Familie drei Kinder verlor. Wissam, Jihad und Fulla spielten auf dem Dach, als sie getötet wurden. Collins schreibt: „Die Familie hat mir erzählt, dass diese drei Kinder zuhause auf dem Dach spielten (kurz nach dem Ende der Feuerpause), als eine israelische Drohne ein knock-on-the-roof-Geschoss [„aufs Dach klopfen“] auf das Haus fallen ließ, um die Bewohner vor dem bevorstehenden eigentlichen Luftschlag zu warnen. Das „Anklopfen“ tötete alle drei.

Auch in Israel gibt es eine Realität des Krieges. Und wahrscheinlich wird diese Realität von europäischen Staatsoberhäuptern deshalb eher zur Kenntnis genommen, weil wir uns in die Situation der Israelis leichter hineinversetzen können. Unser Verständnis wird geweckt, wenn man uns in staatlichen Propagandavideos zeigt, wie kurz 15 Sekunden auf dem Weg in den Schutzraum sein können für eine gebrechliche Großmutter oder eine Gruppe fußballspielender Jungen. Wir können nachvollziehen, dass sich ein Land, das scheinbar unserem gleich ist, gegen Terroristen wehren muss. Wir würden schließlich genauso handeln, wenn aus der Schweiz plötzlich Beschuss käme, denken wir. Israel hat deshalb unsere volle Unterstützung. Und viele von uns fühlen mit den zahllosen Soldaten, die ihre Kameradinnen und Kameraden an den frischen Gräbern betrauern. Junge Menschen, kaum 20 Jahre alt, müssen in den Krieg ziehen - und das ist schrecklich.
Vielleicht fehlt aber genau aus diesem Grund bei vielen Deutschen - vor allem aber in der Politik - das bedingungslose Mitgefühl für die andere Seite: Wir können uns nicht hineinversetzen in Menschen, die seit fast zehn Jahren in engster Isolation leben. Menschen, deren einziger Freund in Jahren der Abschottung die Hamas war. Kein allzu guter Freund, aber immerhin jemand, der die Zügel in die Hand nahm. Und in nächster Nachbarschaft zu diesem Verbündeten lebt man nun, bis ein nächtlicher Bombenangriff den ganzen Straßenzug vernichtet und Hamas oder nicht Hamas plötzlich keine Rolle mehr spielt. Wir sehen, dass eine ganze Generation vom Hass gegen Israel zerfressen wird und unterstützen Israel beim Kampf gegen diese Menschen, obwohl ein Kampf gegen diesen Hass das wahre Heilmittel wäre. Hier bei uns geht alles geordnet zu, ebenso wie in Israel - und darum können wir uns am besten hineinfühlen in die Rolle des souveränen Staates, der von einem Haufen Terroristen angegriffen wird und sich gegen diese Attacken zur Wehr setzt. Eine jahrelang anhaltende Ausnahmesituation, wie sie die Menschen in Gaza erleben, ist uns fremd und daher unzugänglich.

Die Frage ist nicht: Wer hat Schuld?
Wer hatte Schuld in den Jahren 1948 oder 1967? Oder bei der letzten Intifada im Jahr 2000? Wer hat die letzten Feuerpausen in Gaza gebrochen, wer hat als erster wieder den Beschuss aufgenommen?
Nein! Die Frage ist vielmehr: Wie können wir jetzt unmittelbar und unverzüglich weiteres Blutvergießen beenden?
Erst wenn die Waffen ruhen und die Straßen frei sind, wird der Weg zu neuen Gesprächen geebnet. Denn - bei allem Respekt - um diese Gespräche kommt niemand herum.



[1] Anmerkung: Der oben erwähnte Jürgen Todenhöfer gehört zu jenen Menschen, deren Facebook-Posts ich häufig kritisiere. Zu oft vertritt er meines Erachtens subjektive anti-westliche Sichtweisen und des Öfteren habe ich mich gefragt, ob man ihn noch ernstnehmen könne. Doch ich habe Respekt vor Journalisten, die unter Lebensgefahr durch Tunnel nach Gaza hineinkriechen, um sich ein Bild von der Situation zu machen - und zu denen gehört auch Todenhöfer.


Samstag, 12. Juli 2014

Zwanzig Jahre, ab morgen

Zwischen Mittelmeer und Jordan tobt Krieg. Gewaltspirale, Wut, Hass und Tod, wieder einmal aufs Neue. Doch das wirklich Deprimierende:
Jeden Tag, an dem Bomben eine Familie auslöschen und ein Kind zur Waise machen, werden eine ganze Generation zerstört und Kinder zu den Terroristen der Zukunft gemacht. Ab dem Tag, an dem die letzte Bombe gefallen ist, wird es vielleicht gute 20 Jahre dauern, bis echter Frieden möglich ist. Wunden werden in zwanzig Jahren nicht geheilt sein. Doch die Menschen werden gelernt haben, mit ihnen zu leben. Aber der Tag der letzten Bombe wird immer und immer wieder auf morgen verschoben. Zwanzig Jahre, ab morgen. Wieso?

Der Nahostexperte Peter Scholl-Latour hat vor wenigen Tagen zur aktuellen Lage in Israel und Palästina gesagt: „Frieden – das ist zwischendurch allenfalls eine Illusion, der man sich hingibt.“ Hoffnung auf Frieden gibt es scheinbar keine mehr. Nicht für einen Neunzigjährigen.

Zwanzig Jahre, ab morgen - das ist für die Politik nicht greifbar. Die Politik denkt oft nur in Vier-Jahres-Abschnitten, in Israel mitunter sogar noch kurzfristiger. Die politischen Eliten auf beiden Seiten der israelischen Sperranlage sind wahrscheinlich zu alt, um ein langfristiges Projekt namens „Frieden“ in Angriff zu nehmen. Stattdessen greifen sie an, halten den Ausnahmezustand, den Status quo aufrecht. Tag für Tag wird die nächste Generation von der Gegenwart zermürbt.

Wer kann da überhaupt noch optimistisch sein? Niemand - so lange die zuletzt gefallene Bombe nicht die letzte war.



Mittwoch, 7. Mai 2014

Nachrichten - nur mit Wodka und Krimsekt zu ertragen

Ab und zu beobachte ich die Medien. Dabei mache ich das volle Programm durch: Ich glaube alles, was man mir sagt. Ich bezweifle auch alles, was ich nicht hören will. Ich schimpfe lautstark oder protestiere gegen das, was ich an Dummheit in den Ansichten Anderer identifizieren zu können glaube. Und wenn extreme Meinungen aufeinander prallen und sich benachteiligt fühlen, werde ich irgendwie sauer. Irgendwie wissen immer zwei gegensätzliche Gruppen genau, wie der Hase läuft und niemand bemerkt, wo er im Pfeffer liegt.
Jedenfalls, das Thema „Russland und die Ukraine“ steckt voller Irrtümer. Der erste Irrtum beherrscht die Meinung aufseiten vieler eher links eingestellter Menschen: „Europa und die NATO betreiben Kriegshetze und wollen den Krieg!“, heißt es da. Ein Irrtum? Ja, denn einmarschiert auf die Krim sind die Russen. Putin hat sogar zugegeben, dass russische Soldaten hinter ihren Landsleuten auf der Krim standen, als diese die Kontrolle an sich nahmen. Und was sich jetzt in der Ostukraine abspielt, ist zu einem großen Teil dem Einfluss des übermächtigen Nachbarlandes zu verdanken. Niemand zweifelt mehr ernsthaft daran, dass Russland seine Schäfchen auf der grünen ostukrainischen Weide in jeder Hinsicht unterstützt. Doch in den Augen vieler vor allem linker Friedensaktivisten ist es die EU, die einen Krieg auf jeden Fall provozieren will. Vielleicht wurzelt diese Überzeugung noch aus dem Glauben an den sozialistischen Grundsatz der Friedenspolitik: Der „Osten“ wollte immer den Frieden und trug zum Frieden in der Welt bei, während der amerikanisch-kapitalistische Imperialismus um sich griff. Bis heute, sagen sie.
Und da sind wir schon beim zweiten Irrtum, der sich sowohl auf Seiten der linken Aktivisten als auch in der westlichen Politik wiederfindet: Es wird angenommen, dass Russland in irgendeiner Weise noch immer die Sowjetunion und den Sozialismus verkörpert, sozusagen als Gegenpart zur westlichen Hemisphäre, als Gegenpol des hiesigen Lebensstils. Dabei wird grob übersehen, dass Russland zwar noch immer den Kontrahenten der USA zu stellen versucht, das System als solches jedoch näher am rechten als am linken Rand steht. Putins Präsentation als starker Bärenjäger und freier Oberkörper der Nation erinnert zwar an die einstigen Führungspersönlichkeiten der Sowjetunion, doch Führer hat es schon immer in jeder politischen Extremen gegeben. Und Putins Partei „Einiges Russland“ hat mitnichten den Sozialismus auf dem Programm…
Wie man es dreht und wendet, es wird viel übereinander geredet, gegeneinander und aneinander vorbei. Die einen sehen mit offensichtlicher Bestürzung – und mit innerlicher Genugtuung –, dass die klaren Grenzen von damals nun endlich wieder Gestalt annehmen. Gut und Böse, klar definiert in West und Ost. Die anderen sehen das System, in dem sie leben und von dem sie profitieren, und seine Verbündeten als eigentliches Übel an und stellen sich (wie so oft) provokant auf die Gegenseite. Und beide Seiten fühlen sich in den Medien unterrepräsentiert – ein klares Zeichen dafür, dass sich beide als Advokaten derjenigen sehen, die hier gern die Opferrolle einnehmen. Für die Linken wird Putin zum Heiligen, für die Konservativen ist er der Gestalt des Teufels ähnlich. Und Obama? Kriegstreiber oder guter Samariter? Ansichtssache. Die Revolutionsregierung in Kiew – Demokraten oder Nationalisten? Man könnte endlos darüber streiten, was Frau Timoschenko in Wirklichkeit damit gemeint hat als sie sagte, sie wäre bereit, Herrn Putin mit einer Kalaschnikow in den Kopf schießen. Ein Gleichnis – oder eine Kriegserklärung?

Das Fazit der letzten Tage, Wochen und Monate fällt einigermaßen deprimierend aus: Politische Lösungen in Form von Sanktionen sind nutzlos. Illegitime Volksbefragungen führen zu Annexionen von ganzen Landesteilen. Sturköpfe auf allen Seiten noch dazu. Man findet sie in Washington, Paris und Berlin, in Moskau und in Peking, am Persischen Golf und auch in Brüssel. Und die Opfer? Die sterben in Syrien, massakrieren sich gegenseitig in Slawjansk oder ertrinken auf dem Weg in ein besseres, aber dennoch beschissenes Leben im Mittelmeer.

Und das alles genau hundert Jahre nach 1914.

In aller Welt rennen Außenminister wie z.B. Dr. Frank-Walter Steinmeier von einem Kongress zum nächsten, um sich mit Historikern über das Pulverfass Europa zu unterhalten, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts explodiert ist. Doch Menschen scheinen nichts aus der Geschichte zu lernen – oder zu wenig.
Oder das Falsche.
Es nimmt kein Ende, bis alle Passagiere in den oberen Decks des gleichen Bootes, in dem wir ja bekanntlich alle sitzen, gelangweilt und jene auf den unteren Decks entweder ausgeschifft haben oder ertrunken sind.
Je mehr man darüber nachdenkt, desto weniger Lust hat man, sich die Nachrichten anzuschauen. Wer sich dieser Tage als hoffnungsvoller Pazifist outet, muss sehr naiv sein. Dann lasst uns doch mal alle zusammen naiv sein. Ich bin dabei.