Freitag, 25. Oktober 2013

Gedanken zu Europa

„Es gibt in Deutschland keine millionenfache Grundrechtsverletzung.“ – Das waren die Worte von Kanzleramtsminister Ronald Pofalla am 12. August, mit denen er die NSA-Affäre für beendet erklärte. Die damals bestehenden Vorwürfe waren es scheinbar nicht wert, dass man groß über sie diskutieren wollte. Außerdem war Wahlkampf und das Thema war schneller vom Tisch als die NSA „Snowden“ buchstabieren kann. Da wirkt es irgendwie befremdlich, dass nun eine einzige Grundrechtsverletzung für so viel Wirbel sorgt. Gut, zuvor waren ja „nur“ die Bürger ausgespäht worden, jetzt allerdings geht es um die Verletzung unserer Souveränität in Gestalt von Angela Merkel. Der US-Geheimdienst soll sich virtuell auf dem Handy der Kanzlerin umgesehen haben und erntet nun Kritik, strenge Worte und heftige, aber irgendwie hilflose Bestürzung. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel stehen die Politiker Europas mit der starken Frau aus Deutschland Schulter an Schulter. Merkel verkündet, dass es nicht mehr nur um gute Worte ginge, sondern um wirkliche Veränderungen. Auch in den USA regt sich mittlerweile Widerstand gegen die neugierigen Augen der Obrigkeit. Es ginge nicht an, dass ein Staat seine Bürger ausspioniere, heißt es auf einem von Hollywood-Stars veröffentlichten Video. „In einem Überwachungsstaat ist die Demokratie tot“, sagt Schauspieler John Cusack warnend in die Kamera. Allerdings ist in den US-amerikanischen Widerstandsnestern meist nur die Rede von den eigenen citizens. Auf der anderen Seite des Großen Teichs sorgt sich kaum jemand um das Wohl der europäischen Verbündeten. Die Geheimdienste der USA verteidigen die Souveränität Amerikas – politisch, militärisch und auch wirtschaftlich. Wenn sie dabei sogar die Rechte ihrer eigenen Schützlinge übergehen, wie egal müssen ihnen dann die unseren sein?

War die Bundesregierung die ganze Zeit zu naiv? Auf jeden Fall. Hätte man von Anfang an aus der Wartehaltung herausrücken und Klartext reden sollen? Sicherlich. Doch wahrscheinlich war die Bundesregierung – wie die meisten Regierungen – zu verunsichert, zu überfordert und möglicherweise zu schwach.
Doch was würde es ändern, wenn wir Obama nur aufforderten, seine NSA endlich unter Kontrolle zu bekommen, und auf irgendwelche Abkommen drängten, die in der Welt der Geheimdienste lediglich beschriebenes Papier ohne nennenswerten Inhalt darstellten? Am Ende wäre der durchschnittliche Europäer, ob er jetzt Leichen im Keller oder Bomben in der Garage hat, genauso transparent einsehbar wie im Moment. Um die Wahrung unserer Rechte zu garantieren, müssen wir anders reagieren – nicht nur als einzelne Nationalstaaten, sondern als starkes, geeintes Europa.

Europa braucht eine transnationale Souveränität – heute mehr denn je

Heute Morgen hat der SPD-Politiker Martin Schulz bei Beckmann einen interessanten Aspekt angesprochen, den ich aufgreifen und gegebenenfalls erweitern möchte: Ein Land wie Malta hätte heute keine Chance, den USA auf Augenhöhe begegnen zu können. Selbst ein größerer Staat wie Deutschland hat diese Chance nur noch scheinbar, meinte er. Was Europa brauche, sei eine transnationale Souveränität.
Und damit hat er Recht. In der Realität müssen auch wir kuschen, wenn es hart auf hart kommt. Mit unseren amerikanischen Freunden verbindet uns zwar vieles, aber kaum jemand kann ihnen bei politischen Streitthemen auf gleicher Höhe begegnen. Angelegenheiten wie die aktuelle Ausspäh-Affäre sind nur ein weiterer ein Beweis dafür. Solange die europäischen Staaten sich eher voneinander entfernen als sich anzunähern, haben wir keinen sicheren Stand auf dem Weg in die Zukunft. Ob Malta, Rumänien, Deutschland oder Frankreich – wir schaffen es nur gemeinsam. Einzeln betrachtet sind wir ein Flickenteppich von Nationalstaaten, von denen alle einer oft widersprüchlichen Politik folgen. Dies hat es den USA in der Vergangenheit zu oft ermöglicht, sich seine Verbündeten gezielt herauszupicken. Als es beispielsweise 2003 gegen den Irak ging, wurden Deutschland und Frankreich kurzerhand als das „alte Europa“ deklariert. Das „neue Europa“ (Polen) hingegen bekam das Oberkommando über eine der Besatzungszonen südlich von Bagdad.

Mehr denn je befindet sich Europa heute in einer Krise. Der Euro wackelt bedenklich, die Skeptiker scheitern selbst in Deutschland nur noch knapp an der 5-Prozent-Hürde. Nach der totalen Zerstörung 1945 hatten Adenauer und De Gaulle eine Vision, heute dagegen ziehen die ersten wieder den Schwanz ein. Doch ist uns überhaupt klar, was wir mit unserer Skepsis aufs Spiel setzen? Wir sind nur als geeintes Europa überlebensfähig – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Wenn wir auch nur anfangen mit dem Gedanken zu spielen, das Projekt Europa für gescheitert zu erklären, dann haben wir bereits verloren. Wenn wir uns wieder zersplittern, um danach innerhalb der eigenen, dichten Grenzen – geografisch wie kulturell – vor uns hin zu vegetieren, finden wir uns dort wieder, wo wir am Beginn des 20. Jahrhunderts schon waren, während die Konkurrenz schon darauf wartet, uns aufzukaufen. Aus Angst vor zu viel Europa suchen wir uns verzweifelt die letzten deutschen Werte zusammen, mit denen wir uns identifizieren können, und pflegen sie dann, ohne sie zu leben, ausgestellt und ausgestopft wie in einem Museum. Und dieses Museum schützen wir vor jungen, arbeitswilligen und überdies schutzbedürftigen Asylsuchenden, aus Angst vor Überfremdung und vor allem aus Angst um unser Geld.
Doch wie kann man von einem Bürger oder einer Bürgerin erwarten, Asylbewerber als gleichwertige Individuen zu betrachten, wenn er oder sie doch sogar gegen diejenigen noch Vorurteile hegt, die schon seit vierzig Jahren hier leben? Oder gar gegen europäische Nachbarn wie Franzosen oder Italiener? Während die einen über Europa fantasieren und den Blick für den Alltag verloren haben, denken die anderen immer noch, Deutschland sei ein autarker Organismus, der ohne Zuwanderung auskommt oder sich gegen diese gar zu schützen hätte. Beide Gruppen reden aneinander vorbei und entfernen sich voneinander. Und irgendwann blockiert der eine den anderen. Europa droht immer wieder an unserer eigenen Engstirnigkeit zu scheitern, in Berlin genauso wie in London oder Brüssel. Dabei bietet der Gedanke Europa jedem die Chance, sich einzubringen und Dinge zum besseren zu verändern. Da diese Chance jedoch zu selten eingefordert und gelebt wird, gerät sie immer mehr in Vergessenheit und wird mit der Zeit so irrelevant, dass sie als Möglichkeit zu bestehen aufhört.

Einheit in Vielfalt

Wir sind nicht die USA, heißt es. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ seien eine Illusion. Viel zu vielseitig seien die europäischen Länder, viel zu verschieden. – Doch wollen wir so werden wie die USA? Der Große Bruder sollte seine Vorbildfunktion schon lange verloren haben. Wir wollen nicht so oberflächlich und blind vor Patriotismus sein wie unsere westlichen Nachbarn. Trotzdem ist ein vereintes Europa möglich. Unterschiede und Differenzen sind nur faule Ausreden, um sich der Herausforderung zu entziehen.
Es gibt ein Land im Süden Asiens, das sich den Grundsatz „Einheit in Vielfalt“ seit jeher zur Devise gemacht hat. Indien ist die bevölkerungsreichste Demokratie dieser Erde und ein Land, das 28 Bundesstaaten und 23 offizielle Sprachen in sich vereint. Obwohl Hindi die Amtssprache ist, wird es von kaum jemandem im Süden des Landes verstanden. Indien ist so groß, dass es von London bis Moskau reichen würde und vom Süden Norwegens bis nach Tunesien. Die Menschen sind topmotiviert und erfüllt von einem uns ungewohnten Nationalstolz, der auch vom gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre herrührt.
Dieses Land hat noch sehr große Probleme, viele Menschen leben in Armut, die Slums sind überfüllt. Wahrscheinlich findet man dutzende Gründe, weshalb man Indien nicht mit Europa vergleichen kann. Und doch ist es ein Land, das genauso viele Staaten in sich vereint wie die EU, in denen sich Menschen in fast genauso vielen verschiedenen Sprachen unterhalten, unter einer gemeinsamen Flagge.

Europa steckt in einer Krise, die mit dem Euro begann und bei Bürgerrechtsverletzungen noch nicht zu Ende ist. Oft mangelt es am gemeinsamen Kurs, der an großen Meinungsverschiedenheiten scheitert. Doch das Projekt Europa ist noch nicht zu Ende, es steht vielmehr am Anfang einer Erneuerung. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis sich jeder Deutsche mit dem Gedanken einer europäischen Einheit anfreunden kann oder bis ein Ungar seine Vorurteile gegen einen Rumänen abbaut. Doch wir haben keine andere Wahl als flexibel, offen und nachhaltig zu agieren, wenn wir unser Ansehen, unsere Werte, unseren Frieden und vor allem unseren Wohlstand auf lange Dauer wahren wollen. Um unsere europäische Freiheit zu sichern, müssen wir einen Teil unserer nationalen Souveränität aufgeben und der Verantwortung der europäischen Allgemeinheit anvertrauen. Erst eine transnationale europäische Souveränität bringt uns mit den Großen der Welt endgültig auf Augenhöhe. Zusammen bilden wir mit knapp 507 Millionen Einwohnern den größten Binnenmarkt der Erde und einen verlässlichen Partner. Nur geschlossen könnten wir uns dauerhaft behaupten gegen aufstrebende Wirtschaftsriesen wie China oder Indien – und gegen Menschenrechtsverletzungen auf eigenem Territorium, durch die eigenen, übermächtig erscheinenden Freunde in Washington.


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