Dienstag, 19. März 2013

Teil 10: Istanbul

Der Schriftsteller und Poet Alphonse de Lamartine schrieb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: "Wenn jemand nur einen einzigen Blick auf die Welt richten könnte, sollte er auf Istanbul blicken". Davon wollte nun auch ich mich endlich überzeugen können. Als einer der letzten "Orientalisten" und sogar als vorletzter meiner ganzen Familie war ich noch nie in dieser Stadt gewesen. Mit Verlaub, aber auch ich habe meinen Stolz - also nix wie in die Metro und vom Flughafen aus in die Innenstadt.
Ich bin auf diesen letzten Tagen meines diesjährigen Urlaubs bei meinem guten Freund Max untergekommen, der in der Stadt am Bosporus zwei Auslandssemester absolviert und schon nahezu fließend auf Türkisch konversieren kann. In der an sich ganz komfortablen Wohnung im Stadtteil Fatih konnte ich für eine Woche mein Lager aufschlagen, nachdem wir den kaputten Koffer vier Stockwerke in die Höhe geschleppt hatten.
Am ersten Tag war meine Auffassungsgabe noch etwas lädiert. Zu hektisch waren die letzten Tage gewesen und zu viele Kilometer hatten wir in den vergangenen eineinhalb Wochen zurückgelegt. An Istanbul musste ich mich erst gewöhnen. Und so ließ ich beim ersten Stadtrundgang mit meinem nunmehr ortskundigen Tübinger Kommilitonen alle großen Attraktionen eher gleichgültig links bzw. rechts liegen, während sich meine Seele gewissermaßen danach sehnte, von einem Tee gewärmt und vom dampfigen Rauch einer Wasserpfeife umwabert zu werden. Das Wetter tat sein Übriges, meine Laune in Grenzen zu halten und so verstrich der Tag meiner Ankunft in einer der großartigsten Städte der Welt eher unspektakulär.


Am nächsten Morgen sah die Lage aber wieder ganz anders aus. Mein Elan war wieder da. Ich legte erneut genau dieselbe Strecke wie am Vortag zurück und hatte dieses Mal den allwissenden LonelyPlanet dabei, der mich samt Stadtplan und Zusatzinformationen durch die Gassen führte und mich über die Baugeschichte des Galata-Turms aufklärte, vor gierigen Taxifahrern warnte und zu allem Überfluss noch betonte, dass die beste Reisezeit zwischen April und Mai angesiedelt sei. Im März sei noch mit Regen zu rechnen.

Bis auf meinen ersten und meinen letzten Tag in Istanbul war die Woche von Regen gezeichnet. Wolken bedeckten den Himmel und ließen keine Sonne durch. Das Wasser war aufgewühlt, als wir mit einer Fähre von Eminönü auf die asiatische Seite nach Üsküdar übersetzten und von dort nach Kadıköy spazierten, um uns auf dem Weg den Hafen, die Zoll-Gebäude und die containerbeladenen LKWs anzusehen. Wir kamen auch am Haydarpaşa-Bahnhof vorbei, von wo aus man per Zug in alle möglichen Städte der Türkei aufbrechen kann. Früher verkehrte hier auch die Anatolische Eisenbahn, in deren Fortsetzung man dann ab Konya mit der Bagdadbahn weiter nach Südosten fahren konnte. Für die eingefleischten Liebhabern des Nahen Ostens, zu denen auch mein Vater gehört, stellt die Reiseroute der Bagdadbahn einen Traum dar. Leider kann man aufgrund der politischen Lage in naher Zukunft wohl kaum damit rechnen, auf dieser Strecke zu den Endpunkten Aleppo oder Bagdad zu gelangen. Heute machen Istanbuler Paare ihre Hochzeitsfotos vor der fesselnden Kulisse der Bahnhofshalle und ziehen die Blicke auf sich.


Doch der Regen ist wirklich ein Urlaubskiller. Haare nass, Schuhe nass, trotzdem ungetrübter Optimismus. Der nächste Tee wartet schon. Außerdem, vielleicht erlebt man eine Stadt nur dann wirklich, wenn man sie bei Regen gesehen hat, wenn sie sich nicht von ihrer gezwungen-strahlenden Seite präsentieren muss. Tiefhängende Wolken, Wind und Regenschauer vertreiben die klassischen Fotomotive von der Bühne und die meisten Angler von der Galata-Brücke. Doch bei Nacht glitzert und strahlt die Stadt in den Millionen Pfützen um so mehr.


Nichtsdestotrotz, ich musste mir die Hauptsehenswürdigkeiten ja schließlich anschauen. Da sich mein Vater und eine seiner Reisegruppen zufällig zur selben Zeit wie ich in Istanbul befanden, konnte ich mich an eine Führung durch den Topkapı-Palast anschließen. Die vielen Pavillons und mosaikverzierten Räumlichkeiten konnten durchaus vermitteln, in welcher Architektur die großen osmanischen Herrscher vor Jahrhunderten hier residiert hatten. Das Bild wurde nur durch die - aufgrund der Jahreszeit noch recht überschaubare - Anzahl der Touristen beeinträchtigt.


Zeit für eine Mittagspause. Istanbul ist eine riesige Metropole mit einer unglaublichen gastronomischen Infrastruktur, die sich auf kleine Imbissbuden, Köftecis und Fischrestaurants stützt. In dieser Stadt ist noch nie ein Weltenbummler verhungert. Der eine oder andere wird aber arm in die Heimat zurückgekehrt sein, denn die Preise sind - gerade für Touristen - gepfeffert. Gerade in Sultanahmet, wo Reisegruppen nach dem Besuch der Hagia Sophia oder der Blauen Moschee (Sultanahmet-Moschee) die Restaurants füllen, rollt sprichwörtlich die Lira.

In unmittelbarer Nähe zum Topkapı-Palast liegt die Hagia Sophia, eine ehemals christliche Kirche des antiken Byzanz, die im 15. Jahrhundert nach der Eroberung der Stadt durch die Osmanen zur Moschee umgewandelt wurde und bis heute durch ihre Architektur beeindruckt.


Die Blaue Moschee, die ein echter Istanbuler nur unter dem Namen Sultanahmet-Moschee kennt, konnte ich leider nur von Außen bewundern, da ich das unheimliche Glück habe, bei berühmten Moscheen immer zur Gebetszeit aufzutauchen und die Tür vor der Nase zugeschlossen zu bekommen.


Dafür war ich aber in der Nuruosmaniye-Moschee aus dem 18. Jahrhundert, die von Innen (mutmaßlich) nicht weniger beeindruckt.


Abschließend besuchte ich noch einmal den ägyptischen Gewürzbasar in der Nähe der Galata-Brücke, um mich ein letztes Mal vom Orient flashen zu lassen. Obwohl die beiden überdachten Istanbuler Basare unvergleichlich bunt sind und mit Teppichen und jeder Art von orientalischer Seife beeindrucken, sind sie für meinen Geschmack schon fast etwas zu sauber. Außerdem erzählt man mir hier überschwänglich: "Ah, Mister, you look like a carpet buyer!" - Da Teppiche nicht unbedingt in mein Budget passen, ließ ich den Mann stehen und schaute mich lieber nach den richtig kitschigen Istanbul-Souvenirs um. Dafür ist der Basar auf jeden Fall gut.


Das echte Leben findet man jedoch nur in den Straßen außerhalb der geschlossenen Basare, in den engeren Straßen, wo sich die Märkte noch nicht so zwanghaft rausgeputzt für die Millionen Touristen präsentieren. Hier hängen die Lämmer noch halbiert von den Haken und das Gemüse beeindruckt durch seine Frische. Während sich drinnen im Kapalı Çarşı, dem Großen Basar, die Teppichhändler vor den geputzten Glasscheiben ihrer Geschäfte im Gespräch mit Touristen die Hände reiben, kann man draußen in der einheimischen Bevölkerung abtauchen und Tee trinken.


Tee getrunken habe ich wirklich viel in den letzten drei Wochen. Es war aber auch immer angemessen. Eigentlich sollte man immer Tee trinken, denn das nimmt einerseits den Druck aus dem Alltag und erhöht andererseits den Druck auf die Blase. Zum Glück habe ich reichlich Tee eingekauft und konnte mit einem gefüllten, notdürftig mit Klebeband zusammengeklebten Koffer den Gang zum Flughafen antreten. Von Istanbul habe ich einiges, aber viel zu wenig gesehen. Ein guter Grund, in naher Zukunft wieder einmal hierher zurückzukommen und die Sache mal bei Sonnenschein zu betrachten.

Montag, 18. März 2013

Teil 9: Ein Stopp in Mardin

Nach zehn Tagen im Nordirak war unsere Middle East Excursion zu Ende und wir machten uns an die Rückfahrt nach Diyarbakır. Die ersten von uns verließen die Gruppe schon am Abschlussabend, um die Weiterreise nach Amman anzutreten. Von unseren beiden kurdischen Begleitern trennten wir uns an der türkischen Grenze; sie wollten in den nächsten Tagen weiter ins kriegsgeschüttelte Syrien.
Der Grenzübertritt kostete uns über zwei Stunden. Irgendwann gelang es den Fahrern, mit den Zuständigen zu sprechen. Wir hätten einen Flug zu erreichen in Diyarbakır, die Zeit drängte. Irgendwann kam der berüchtigte Vorgesetzte und winkte uns weiter. Unsere Koffer wurden durchleuchtet, die zwei uns schon bekannten Kleinbusse wurden von den Grenzbeamten gecheckt. Die Uhr wurde umgestellt, der türkische Stempel kam in den Pass. Dem Zeitdruck zum Trotze legten die beiden Fahrer am Duty-Free-Shop eine Pause ein, schickten uns zum Teetrinken und gingen erst einmal ihren eigenen Geschäften nach. Als es jedoch auf legaler Basis nicht möglich war, zehn Tüten zu je drei Stangen Zigaretten einzukaufen, wurden wir hinzugezogen und trugen zusammen grob geschätzt 6.000 Zigaretten zu unseren Bussen. War ich nun wirklich aktiv in Zigarettenschmuggel an der irakisch-türkischen Grenze beteiligt? Das war mag der geneigte Leser selbst beurteilen.

Hinter der Grenze teilten wir uns auf in zwei Gruppen: Die eine Gruppe fuhr schnurstracks zum Flughafen. Die andere wollte sich Zeit lassen und erstmal in Mardin zu Mittag essen.  Da mein Flug erst am nächsten Tag ging gehörte ich zu jenen, die sich noch ein wenig Kultur und Geschichte einverleiben wollten.


Mardin sollte man allerdings auch wirklich gesehen haben. Die jahrtausendealte Stadt war u.a. schon von den Hurritern bewohnt gewesen. Von ihr aus kann man bei guter Sicht einen großen Teil der mespotamischen Ebene überblicken. 


Unsere erste Station war das syrisch-orthodoxe Kloster Zafaran, das idyllischer kaum liegen könnte. Es wurde im 5. Jahrhundert an einem Berghang errichtet, auf dem schon vor 4.000 Jahren ein Sonnentempel gestanden hatte. In die angeblichen Reste jenes Tempels, die heute unterirdisch liegen, wird man von dem örtlichen Reiseführer geführt. Er erklärt, dass die Steinquader, die die Decke bilden, zwei Meter lang und eine Tonne schwer seien und ohne Mörtel, sondern nur durch ihr eigenes Gewicht und eine raffinierte Bauweise festgehalten werden. Sowohl faszinierend als auch bedrohlich. Aber die Decke hält. Seit tausenden von Jahren.


Oben über den antiken Mauern befindet sich eine Kirche, die wunderbar restauriert wurde und noch heute den Mönchen als Ort des Gottesdienstes dient.


In einem weiteren Raum kann man einige Artefakte vergangener Zeiten begutachten: Eine Druckerpresse aus dem späten 19. Jahrhundert, die Überrreste zweier Kutschen sowie ein Modell des Klosters, das ein Mönch in jahrelange Arbeit aus Zahnstochern zusammengeklebt hatte.


Wir machen unser letztes Gruppenfoto und halten den nur noch neun Personen zählenden Rest unserer Delegation digital fest. Danach geht es weiter in die Stadt, zum Mittagessen.

Mardin wird heute von Kurden, Arabern und einigen Aramäern bewohnt. Ursprünglich war Mardin eine christliche Stadt. Während des Ersten Weltkrieges wurden hier 1915/16 jedoch die meisten Christen der Stadt umgebracht, ganz gleich ob sie armenische, arabische oder aramäische Christen waren. Heute leben in der Region höchstens noch 10.000 Christen, deren Oberhaupt der Bischof von Mardin ist.


Wir lassen uns unser Dürüm in einem kleinen Imbiss in der Vorstadt schmecken. Die Straßen von Mardin sind sehr belebt. Wir sind froh, dass wir diesen kleinen Abstecher noch gemacht haben, und brechen nach dieser Pause wieder auf, um die letzten 90 Kilometer nach Diyarbakır zurückzulegen, wo sich unsere Wege dann endgültig trennen.

Sonntag, 17. März 2013

Teil 8: Lalisch

Ein Ort von besonderem Interesse ist das Heiligtum der Jesiden, Lalisch. Weder die Religion selbst noch die damit verbundenen spirituellen und kulturellen Besonderheiten sind im Westen wirklich bekannt. Hier zunächst einmal ein kurzer Überblick:

Die Jesiden sind eine religiöse Minderheit innerhalb der Kurden. Sie nehmen für sich in Anspruch, die ursprüngliche Religion aller Kurden zu sein. Im Irak lebt heute ungefähr eine halbe Million Jesiden. Die mit 60.000 Mitgliedern zweitgrößte Gruppe ist in Deutschland angesiedelt. Die Jesiden sprechen Kurmandschi, den nördlichen Dialekt des Kurdischen, während die Mehrheit der Kurden im Nordirak Sorani spricht.
Die Religion der Jesiden ist sehr alt, wurde aber in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden durch die umliegenden Religionen bedeutend beeinflusst. Einflüsse aus dem sufischen Islam sowie Elemente der iranischen Religionen wie z.B. dem Zoroastrismus haben das Jesidentum geprägt. Es herrscht jedoch ein strikter Monotheismus, der Gott als Schöpfer über alles stellt. Eine zentrale Rolle spielen aber auch sieben Engel, von denen einer (der Taus-i Melek) zum Wächter der Welt und Mittler zwischen Gott und den Menschen erhoben wurde. Er wird durch einen Pfau symbolisiert.
Man kann zudem nicht Jeside werden, sondern wird als solcher geboren. Es gibt keine Konversionen und es wird normalerweise auch nicht außerhalb der Gemeinschaft nicht geheiratet. Einerseits macht diese Praxis den Fortbestand einer Religionsgemeinschaft schwierig, andererseits werden Bräuche und Sitten so konserviert.


Gleich am Anfang des kleinen Rundgangs mussten wir unsere Schuhe ausziehen. Der heilige Boden darf - wie auch z.B. eine Moschee - nicht mit dem Dreck der Straße beschmutzt werden. An einem speziellen Brunnen wird eine der Exkursionsteilnehmerinnen, eine Jesidin aus Deutschland, unter laufender Kamera getauft. Eine Seltenheit, die vom kurdischen TV festgehalten werden muss.
Die Türschwellen sind etwas erhöht, doch man darf sie nicht mit den Füßen berühren. Wir machen einen großen Schritt, als wir das Hauptgebäude betreten. Im ersten Saal stehen einige Säulen, um die Tücher gewickelt sind. Vergleichbar mit den christlichen Fürbittengebeten bringt man hier Wünsche, Anliegen und Bitten vor, während man einen der vielen Knoten in den Tüchern löst und der Knotensammlung wieder einen anderen hinzufügt. Danach steigt man eine kleine Treppe hinauf zu einem weiteren Raum, in dem ein Schrein mit dem Grab von Adi ibn Musafir steht, einem jesidischen Scheich uns Glaubensreformer des 12. Jahrhunderts. Er führte u.a. das Kastensystem im Jesidentum ein. Dreimal muss man den Schrein bei der Pilgerfahrt umgehen. Das Grab des Scheichs ist Jahr für Jahr Ziel jesidischer Pilger, denn einmal im Jahr soll man als Jeside den Weg nach Lalisch zurücklegen. Für die weiter entfernt lebenden Jesiden gilt - wie für Muslime auf Mekka bezogen - der Vorsatz, die Reise zum zentralen Heiligtum mindestens einmal in ihrem Leben zu unternehmen. Die meisten Pilger kommen zwischen September und Oktober zur siebentägigen Pilgerfahrt. Im Rahmen der Feierlichkeiten wird auch ein Ochse geschlachtet.
Nachdem man den Raum mit dem Schrein des Scheichs hinter sich gelassen hat, kommt man in zwei längliche Räume, in denen es nach ranzigem Öl riecht. An den Wänden stehen große Gefäße mit dem heiligen Olivenöl, das für rituelle Zwecke hier lagert und das sich Frauen mitunter auch in die Haare schmieren.

 
Einst bildete das Jesidentum den spirituellen Kern der Region. Heute ist die kleine Glaubensgemeinschaft weitgehend isoliert und politisch unbedeutend. Als Minderheit wurden sie in den letzten Jahrhunderten oft zur Zielscheibe von Hass und Vernichtung. Den ersten Höhepunkt bildete der osmanische Völkermord an den Armeniern, in dessen Vollzug auch die Jesiden systematisch verfolgt wurden. In jüngerer Zeit (besonders seit Ende des Irakkrieges 2003) wurden jesidische Dörfer vermehrt Ziele bewaffneter Angriffe und Anschläge vonseiten der Al-Qaida. Einige Anschläge waren Racheakte für den Mord an einer jungen Jesidin, die - laut muslimischen Fundamentalisten - zum Islam übergetreten sein soll und angeblich infolgesessen von ihrem Stamm gesteinigt worden war. Der Fall machte international Schlagzeilen.


Lalisch ist ein hochinteressanter Ort, der auf jeden Fall einen Besuch wert war und der Interesse am Jesidentum weckt. Vor allem aber ist eine Besichtigung des Heiligtums notwendig, um das Puzzle der religiösen Landschaft Kurdistans und auch des Irak zu vervollständigen.

Teil 7: Ein Kloster bei Dohuk

Eine kleinere Exkursion in der Umgebung von Dohuk führte uns nach Al-Qosh zum chaldäischen Rabban-Hormizd-Kloster. Der kleine Ort Al-Qosh liegt etwas abseits der Straße nach Mossul und somit in der umstrittenen Zone. Das Dorf selbst ist irakisch verwaltet, d.h. die sonst so präsenten Kurdistan-Flaggen weichen hier der irakischen Fahne und die Soldaten am Checkpoint tragen andere Uniformen. In den neueren Gebäuden des Klosters, die sich unten im Ort befinden, empfängt uns der Vorsteher, der aus dem Libanon stammt und mal auf Englisch, mal auf Französisch zu uns spricht. Da die Chaldäische Kirche zu den unierten - also mit der römisch-katholischen Kirche verbundenen - Ostkirchen gehört, hängt hier noch der deutsche Papst Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger. Der Klostervorsteher klärt uns knapp über die Lage der Christen im Irak auf und meint, dass es in Kurdistan - im Gegensatz zu Bagdad - sehr sicher sei und man keinerlei Bedenken habe.


Das eigentliche Kloster aus den frühen Jahrhunderten des Christentums - genauer gesagt aus dem Jahre 640 n. Chr. - liegt oben am Berghang. Wir fahren die größte Strecke des Weges dieses Mal mit dem Bus - in der Nähe von Erbil dagegen waren wir unvorbereitet ein paar stattliche Höhenmeter gewandert - und sehen uns im Kloster um. Eine kleine Höhle diente den ersten Mönchen als Eremitage. Sogar das Wasserloch ist erhalten. Zu den Heiligenfesten tummeln sich hier hunderte christliche, aber auch einige muslimische Pilger. Im Inneren der Klostergebäude kann man sich leicht verlaufen; uralte Gänge führen durch den Fels. In einem Korridor kann man an der Wand eine rostige Kette begutachten. Geistig Behinderte wurden hier vor hunderten von Jahren - oder vielleicht auch bis ins vorige Jahrhundert - angekettet und exorziert. Die Wirkung dieser Praxis ist fraglich. Doch auch die Mönche selbst waren nicht zimperlich: In einer Zelle hängen Ketten von der Decke. Dort hatte sich der Klosterbegründer höchstpersönlich über Nacht an den Armen und schließlich auch an den Haaren aufgehängt. Wer da keine Erleuchtung bekommt...


Neben interessanten historischen Fakten und architektonischen Schmuckstücken lohnt sich der Besuch des Klosters allein schon wegen der bezaubernden Aussicht. Wenn es nicht gerade dunstig ist, steht dem Blick nichts mehr im Wege.

Teil 6: Bei den Barzanis in Barzan

Eine Etappe unserer Tour führte uns von Erbil nach Dohuk. Auf dem Weg dorthin machten wir in Barzan halt, dem Herkunftsort des Barzani-Clans, dem der derzeitige Premierminister Massoud Barzani und sein berüchtigter Vater Mustafa entstammen. Das Dorf diente den kurdischen Guerillas während der 1960er Jahre als Rückzugsort. Hier in den Bergen lieferten sich die Peshmerga Gefechte mit der irakischen Armee. Barzan selbst wurde schon 1961 Ziel mehrerer Luftangriffe.


Wir besuchten das Grab von Mustafa Barzani, der 1979 in den USA starb und hier bestattet wurde. Neben ihm liegt sein Sohn Idris. Osterglocken schmücken die Gräber. Als offizielle deutsche Delegation legen wir einen Kranz nieder, jemand hält eine Rede. Der Ort ist sehr geladen mit Pathos und ich kann nicht behaupten, dass ich mich so richtig wohlfühle, als Unbeteiligter in die Position des Rebellen-Verehrers geworfen zu werden. Doch aus Respekt gegenüber den Toten akzeptieren wir unsere Rolle und lassen uns auch dieses Mal nicht vom kurdischen Fernsehen stören, das die Szene filmt.
Mustafa Barzani (1903-1979) war die bedeutendste kurdische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts. Als Kind wurde er mit seiner Familie nach Diyarbakır verschleppt. Schon in seiner Jugend beteiligte er sich an Aufständen gegen die verschiedenen Machthaber der Region. Sein ganzes Leben war vom Kampf geprägt, doch heute wird vor allem die diplomatische Figur Barzani hervorgehoben. Er stand ständig in Verhandlungen mit Bagdad, auch als er sich mit seinen Kämpfern in die Berge Kurdistans zurückgezogen hatte. - Als wir später, nach der kurzen Zeremonie am Grab des Nationalhelden, in einem großen Zelt sitzen und mit Lamm, Huhn und Tomatensuppe verwöhnt werden, erfahren wir im Gespräch ein wenig mehr über die Region. Neben der Tatsache, dass hier früher Muslime, Christen und auch Juden friedlich zusammenlebten, erzählt man uns auch, dass die Caritas beim Wiederaufbau des Gebiets geholfen hatte. Nachdem hier 1983 bis zu 8.000 Mitglieder des Barzani-Clans deportiert worden waren und die Gegend weitgehend zerstört wurde, kam mit der Caritas ein Mann namens Eberhard nach Barzan. Die tiefe Dankbarkeit der Kurden sei heute noch spürbar, da viele Familien ihre Söhne auch Eberhard nennen würden.
Vom Essenszelt ziehen wir um ins Teezelt und bekommen neben einem mehr als propagandistischen Barzani-Button auch einen großen Bildband überreicht. Er enthält Fotos eines französischen Fotografen, der hier in den 1960er Jahren mit den kurdischen Rebellen unterwegs gewesen war und deren Leben in den Bergen dokumentierte. Er hatte Mustafa Barzani persönlich kennengelernt und war auch Zeuge seiner Verhandlungen mit Bagdad.

Der Chef unseres "Empfangskomitees".
Neben dem Grab Barzanis wird demnächst ein großer Gebäudekomplex fertiggestellt, der wohl so etwas wie eine Gedenkstätte oder ein Museum werden soll. Denn noch liegt der Ort Barzan ziemlich abgelegen. Auf unserer Weiterreise nach Dohuk kommen wir an einigen kleinen Nomadendörfern vorbei. Kleine Lehmhütten mit blauen Kunststoffplanen auf den Dächern schmiegen sich auf den grünen Wiesen an die felsigen Füße der Berge an. Die Landschaft ist - wie auch schon auf der Strecke zwischen Halabja und Sulaymaniya - einfach atemberaubend. Barzan selbst liegt nur auf 700 Metern Höhe, die Gegend macht jedoch einen fast alpinen Eindruck.


In Dohuk haben wir den letzten offiziellen Termin des Tages. Der Kulturbeauftragte der Stadt klärt uns - wie dutzende offizielle Personen zuvor - über das Leid des kurdischen Volkes in der Vergangenheit auf und betont den Blick in die Zukunft. Es gebe keine Minderheiten in Kurdistan, meldet er auf Nachfrage. Alle seien hier gleich. Und auch auf die Tatsache angesprochen, dass in allen Ländern zuerst beim Kulturetat gespart werde, kann er uns nur das genaue Gegenteil versichern. Nun gut, es mag vieles stimmen. Aber in Dohuk angekommen befinden wir uns schon fast am Ende unserer Reise und haben zu oft die selben Phrasen gehört. Kurdistan ist ein fortschrittliches Land, eine junge Deomkratie mit viel Potential. Aber es ist beileibe nicht das Paradies auf Erden.
Das Essen in dem vornehmen 5-Sterne-Hotel, in dem wir uns mit dem Kulturbeauftragten getroffen haben, schmeckte dennoch vorzüglich. Was die Kulinarik angeht, waren wir auf unserer Reise immer ausnahmslos gut versorgt.

Teil 5: Auf den Spuren von Halabja

Unseren Besuch in der Gedenkstätte von Halabja wollten wir von Sulaymaniya aus antreten. So saßen wir schon am Tag davor in Anzug und Krawatte in unserem Bus und fuhren von Erbil aus weiter in Richtung Südosten. Die etwa 200 Kilometer legten wir bei Dunkelheit zurück, was einerseits natürlich bedauerlich war. Andererseits konnten wir so die brennenden Öltürme von Kirkuk sehen. Für den Irak selbst braucht man zwar ein Visum, doch wir mussten trotzdem irgendwie über die Vororte von Kirkuk fahren. Der Bezirk ist gerade wegen des Öls sehr umstritten und die Zugehörigkeit ist nicht ganz geklärt. Über eine kurze Strecke befuhren wir auf dem Highway irakisches Gebiet und beanspruchten sogar irakische Toiletten auf einer raststättenähnlichen Institution am Rande der Straße. So mancher hob bei dieser Gelegenheit einen Kieselstein auf. Ein Stein aus dem "echten" Irak.
Nach kurzer Zeit wechseln die Soldaten an den Checkpoints wieder und die gewohnten kurdischen Peshmerga haben wieder das Kommando. Auf direktem Weg geht es zu unserem Zielort weiter, wo der Busfahrer uns dann quasi noch vor den Toren der Stadt auf einem Berg ablädt, damit wir die wunderschöne nächtliche Aussicht über Sulaymaniya genießen können. Es war eine Nacht ohne Regen, doch der Wind war gefühlte minus tausend Grad kalt und bließ uns fast über die Klippen. Etwas Vergleichbares habe ich selten erlebt; man konnte sich kaum auf den Beinen halten. Dementsprechend verwackelt sind die Fotos jener Nacht.


Unser Motel in der Stadt war erste Sahne, es gab Zimmer mit Küche und die islamische Gebetsrichtung war durch ein foliertes Schild mit Pfeil an der Wand angezeigt, wie in jeder Unterkunft im Nordirak. Sogar ein Teppich lag für das Gebet bereit. 
Und so präsentierte sich Sulaymaniya am nächsten Morgen, bei Betrachtung vom Fenster aus.


Nächster Tag, acht Uhr. Mein Hals kratzt und ich trage das selbe Hemd wie am Tag zuvor. Irgendwie fühle ich mich miserabel, aber ein einheimisches Frühstück in der Stadt macht wieder einiges gut. Es gibt Fladenbrot mit zwei verschiedenen quark- oder käseähnlichen Zubereitungen, die beide jeweils auf ihre eigene Art erfrischend wirken und eine gute Basis für den Tag bilden. Gut gestärkt geht es dann los in Richtung Halabja.

Die kleine Stadt Halabja liegt keine zehn Kilometer von der iranischen Grenze entfernt und hat vor über 20 Jahren traurige Berühmtheit erlangt. Gegen Ende des Ersten Golfkriegs wurde sie von iranischen Truppen und kurdischen Rebellen besetzt, woraufhin die Regierung in Bagdad ein Exempel statuieren wollte. In einem etwa 45minütigen Angriff mit Giftgas wurden am 16. März 1988 bis zu 5.000 Menschen getötet. Kinder starben in den Armen ihrer Eltern, Menschenströme wurden gezielt bei ihrer Flucht aus der Stadt auf Straßen und Feldwegen bombardiert. Der mörderische weiße, schwarze und gelbe Qualm tötete tausende in Minutenschnelle, weitere Menschen starben einen qualvollen Tod in den Stunden, Tagen und Wochen danach. Verletzte, die teilweise erblindet waren, suchten sich ihren Weg heraus aus Halabja. Viele der Verwundeten kamen in Krankenhäusern im Iran unter, wo nicht wenige von ihnen starben und weit entfernt von ihrer Heimat begraben wurden.
Die Gedenkstätte in Halabja hat angefangen, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Es gibt einen Saal mit den Namen der Getöteten. In einem weiteren Raum sind die Szenen nachgestellt, die man von Fotos kennt: Tote liegen auf der Straße, sitzen auf der Ladefläche eines Transporters.


Der Jeep, den man von einem der bekannten Bilder aus Halabja kennt, steht draußen vor dem Eingang der Gedenkstätte, so als hätte ihn jemand dort geparkt und sei zum Mittagessen gegangen. 
In einer Galerie hängen die Fotos der Journalisten, die unmittelbar nach dem Angriff vor Ort waren und der Welt berichteten, was geschehen war. Viele der Bilder sind unheimlich grausam, doch sie zeigen eine Wahrheit, die man nicht schönen kann.
Die Gedenkstätte tut jedoch mehr als nur zu dokumentieren. Sie erzählt Geschichten. In der Halle mit den Namen der Opfer sind ganze Familien aufgelistet, die innerhalb von Minuten ausgelöscht wurden. Doch es sind auch (wenige) positive Geschichten dabei. Auf der Tafel ist ein Name grün umrandet. Es ist ein Mensch, der für tot gehalten wurde, dann aber irgendwann in einem der zwanzig iranischen Flüchtlingslager wieder aufgetaucht ist.


Im Archiv der Gedenkstätte finden sich weitere Bilder, Artikel und Doppelseiten aus westlichen Zeitungen, emotional geladene Bildmotive und einige interessante Artefakte aus der jüngeren Geschichte. Der Schuh, der auf George W. Bush geworfen wurde, ruht in einer Vitrine. Seinem Besitzer sollen 10.000 US-$ für den Verkauf geboten worden sein, doch er gab ihn der  Gedenkstätte. In einer anderen Vitrine liegt ganz unscheinbar der Strick, an dem man Ali Hasan al-Majid at-Tikriti aufgehängt hat. Der Vetter Saddam Husseins, der in den westlichen Medien typischerweise einigermaßen geschmacklos Chemie-Ali genannt wurde, musste den Preis für seine Unmenschlichkeit zahlen. Er wurde 2010 in Bagdad hingerichtet. Dabei spielte Halabja in seinem Prozess zunächst gar keine allzu gewichtige Rolle. Vielmehr wurde al-Majid verantwortlich gemacht für die dutzenden anderen Angriffe auf kurdische Dörfer und Städte. Alleine auf 40 Orte gab es Attacken mit dem gleichen Giftgas. Zwischen Februar und August 1988 waren etwa 180.000 Kurden im Rahmen der Anfal-Operationen getötet worden, eineinhalb Millionen wurden in den Süden des Irak umgesiedelt.


Die Gedenkstätte spielt mit einer Symbolik, die große Hoffnung für die Kurden ausdrückt. Das Dach des Gebäudes stellt vier Hände dar, die vereinigt für die vier Teile Kurdistans in den Ländern Türkei, Irak, Iran und Syrien stehen. In der Ausstellung selbst findet sich jedoch keine anti-arabische Rhetorik. Man schaut in die Zukunft, gedenkt den Opfern von damals und wehrt sich gegen das Vergessen.
In der Gedenkstätte bekommen wir noch jeweils ein Buch mit Bildern über die Geschehnisse von damals. Die Fotogensten und Redegewandtesten von uns müssen Interviews geben und passende Worte anlässlich unseres Besuchs finden. Abends wird unsere Gruppe auf KurdSat zu sehen sein, das Fernsehteam hat eifrig gefilmt - ob wir wollten oder nicht. Zum Zeitpunkt der Ausstrahlung werden wir aber mit großer Wahrscheinlichkeit im Bus sitzen und über die kurvigen Straßen poltern, zurück nach Erbil, gestärkt mit Flussfisch und Sonnenschein.

Zunächst geht es aber weiter zum Friedhof, wo sich die Massengräber von 1988 finden. Zur Zeit des Angriffs hatte Halabja etwa 70.000 Einwohner. Heute sind es mit 57.000 deutlich weniger, die Stadt wirkt gemütlich. Am Eingang des Friedhofs wird darauf hingewiesen, dass Mitglieder der Baath-Partei, der Partei Saddam Husseins, keinen Zutritt haben.


Das Wetter ist gut und macht die Last der Geschichte erträglicher. Auf einem Gräberfeld mit cremefarbenen Grabsteinen lassen sich die Namen der Opfer lesen. Die meisten von ihnen sind kurdisch, doch immer wieder liest man auch die Namen arabischer Zivilisten, die hier umkamen.


Nach 25 Jahren ist Halabja heute ein Mahnmal für die Welt. Zu viele Verbrechen wurden begangen und blieben unentdeckt. Einige wenige ausländische Journalisten waren vor Ort, darunter auch ein türkischer Reporter. Sie berichteten der Weltöffentlichkeit von dem grausigen Massaker, das ein Diktator gegen seine Nachbarn im eigenen Land verübte - in einem Angriff, bei dem 75% der Opfer Frauen und Kinder waren. 
Heute, im Jahr 2013, gibt es Frieden in diesem Teil Kurdistans. Doch Halabja ist nicht nur ein Mahnmal für die Vergangenheit. Seit mehr als zwei Jahren tobt ein fürchterlicher Bürgerkrieg in Syrien, in dem auch Massaker verübt werden, vonseiten eines realitätsfernen und zukunftslosen Regimes, aber vermutlich auch von Rebellen. - Es ist egal, von welcher Seite Verbrechen verübt werden. Entscheidend ist, wann es der Weltgemeinschaft gelingen wird, dem einen Riegel vorzuschieben. Wann will die Welt endlich gegen die unmenschliche Gewalt in Syrien vorgehen? Oder zieht sie es vor, weiterhin wegzusehen? - Wir sollten aus der Vergangenheit lernen. Denkt an Halabja.

Samstag, 16. März 2013

Teil 4: Ein Tag in Erbil

Mein erster Eindruck von Kurdistan-Irak war ein dunkler. Es war tiefste Nacht, als wir das Kings Motel (genau gegenüber vom mutmaßlich besser gestellten Kings Hotel) in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, bezogen. Der kurdische Name der Stadt ist Hawler, doch die irakischen Autokennzeichen tragen den arabischen Namen. - Unser Motel war relativ dürftig. Es gab eine große Lobby mit Sofas, dafür aber nur ein kleines Frühstück. Ein Ei, ein Brot, ein Keks. Dazu ein Schüsselchen Suppe. Kurdische Suppe ist unvergleichlich. Leider (?) weiß ich bis heute nicht, was die genauen Bestandteile sind.


Der erste Stadtrundgang führte uns über den großen Platz und durch den Basar. Die belebten Straßen sind staubig, hier und da gibt es ölige Schlaglöcher oder verstopfte Rinnsteine. Für den romantisierenden Orientalisten ist das mehr als beruhigend: In Bagdad, also im "echten" Irak, kann es kaum anders aussehen.
Der Basar von Erbil wird zurzeit mit einer arkadenähnlichen Backsteinkonstruktion umschlossen. In seinem Inneren gibt es Seife aus Aleppo, Musik-CDs mit den kurdischen Charts, Stoffe für feine Anzüge und eine ganze Menge Gold. Frisch gepresster Orangensaft wird zu einem fairen Preis angeboten, neugierige Passanten wollen sich mit den hübschen deutschen Frauen fotografieren lassen. Und selbst mit uns Männern, die wir zwei Köpfe größer und ein ganzes Stück blonder sind als der städtische Durchschnitt. Doch der erste Eindruck vermittelt nicht das Bild von aufdringlichen Händlern, sondern eher von neugierigen bis gleichgültigen Einheimischen, die in ihrer Stadt selten Touristen sehen.
Wir erklimmen die Zitadelle, von der aus man den zentralen Platz mit seinen Springbrunnen und dem Glockenturm überblicken kann. Die Stadt hat knapp über 800.000 Einwohner, also etwas größer als Stuttgart. Die meisten Einwohner sind Kurden, es gibt aber auch einige assyrische Christen, von denen viele aus dem Irak geflohen waren und sich nun im Norden ansiedelten. - Auf der Zitadelle wird renoviert und restauriert. Mit europäischen Geldern will man hier jahrtausendealtes Erbe retten, was scheinbar auch ganz gut gelingt. Eine riesige kurdische Flagge weht über den Lehmziegeldächern der teils noch sehr ruinösen Gebäude, ein Textilmuseum mit life geknüpften Teppichen verbirgt sich in einem der Häuser. Im Souvenirshop stoßen wir verwundert auf einen Teller mit dem Antlitz des ehemaligen und zwischenzeitlich exekutierten Herrschers Saddam Hussein. "Die nehmen das hier locker", sagt unser "Reiseleiter".


In Erbil spürt man stellenweise förmlich den Aufschwung. Es gibt keine Privatautos, die nicht strahlend weiß und übergroß wären. Die Straßen der Stadt sind fast ausschließlich überschwemmt mit fetten, ostasiatischen SUVs und Familienwagen. Eine Menge großer Unternehmen, auch aus der Türkei, siedeln sich in den Vororten an. Wir besichtigen sowohl eine riesige, eindrucksvolle Moschee (Baujahr 2007) mit frischen, bunten Farben, als auch eine Shopping-Mall. Hier gibt es eigentlich alles, was es bei uns auch gibt. Nur die Menschenmassen lassen noch auf sich warten; es stellt sich die Frage, ob hier wirklich jeder die Möglichkeit hat, in den Genuss dieses Wohlstandes zu kommen. Dem ein oder anderen kommen da Zweifel...


Doch scheinbar ist der Wohlstand Kurdistans nicht nur Schau. Normale Angestellte zahlen hier keine Steuern. Und das Universitätsstudium sei kostenlos, sagt uns der Rektor der Salahaddin University. Die Studenten bekämen kostenlose Unterkunft und darüber hinaus noch 50 US-$ Taschengeld monatlich. "Hier muss niemand neben dem Studium arbeiten. Anders als in Deutschland", meint er an einer Stelle lachend und bietet uns an, für zwei Monate nach Erbil zu kommen für einen Kurdisch-Crashkurs.
Der Reichtum Kurdistans rührt natürlich auch vom Öl her. Die Automone Region wird an den irakischen Ölgeldern beteiligt. Alleine und ohne den Bezirk Kirkuk, dessen brennende Öltürme man schon aus der Ferne sieht, sobald man Erbil nach Süden hin verlässt, wäre das Land wohl lange nicht so gut gestellt wie im Moment. Hinsicht der finanziellen Zukunft der Region würde eine Unabhängigkeit Kurdistans im Moment wohl eher wenig nützen.
Ist Kurdistan das neue Dubai? Ölreichtum, Investoren aus dem Ausland, dicke Autos. Das alles könnte auf eine ähnliche Entwicklung hindeuten. Allerdings gibt es noch weitere Parallelen: Südostasiaten als Verkäufer in den kleinen Cafés im Inneren der Mall, deren glänzender Boden gerade von Turkmenen und Pakistanis gewischt wurde. Der Billiglohnsektor scheint mit asiatischen Gastarbeitern gefüllt zu werden, zumindest ist das an diesem Nachmittag mein Eindruck. Und wer Dubai kennt, der kennt auch die unmenschlichen Strukturen und die antisozialen Verhältnisse, von denen die neue Wohlstandsgesellschaft gestützt wird. Kurdistan hätte noch die Chance, es anders zu machen.


In Erbil besuchen wir das Parlament, wo uns der Parlamentsvizepräsident empfängt und sich erstaunlich viel Zeit für unsere Fragen nimmt. Wir machen Fotos, posieren mit der kurdischen und der irakischen Flagge. Den provisorischen Sitzungsraum des Parlaments - der große Saal wird renoviert - überragt das Gemälde von Mustafa Barzani, mit Turban und Munition, gemalt von einem französischen Künstler.
Barzani ist überall präsent. Wir stoßen auf seine Portäts, Büsten, Statuen und Ölgemälde in jedem offiziellen Gebäude  und in jedem Universitätssekretariat. Das Andenken an den 1979 in den USA verstorbenen Freiheitskämpfer wird von den irakischen Kurden hochgehalten. Für den westlichen Betrachter ist dieser Personenkult manchmal mehr als gewöhnungsbedürftig.
Ansonsten gibt sich das moderne Kurdistan sehr westlich. Bei den offiziellen Besuchen wurden unsere Fragen nach den Rechten der Frau und der Minderheiten schon fast ungefragt beantwortet. Und sogar auf die Behinderten kam man ungefragt zu sprechen. Das war dann schon etwas auffällig. Man will einer deutschen Delegation natürlich einen guten Eindruck vermitteln. Und wir sollten diesen Eindruck dann auch nach Deutschland bringen, das wurde uns ganz klar deutlich gemacht. Dabei machten die Repräsentanten der verschiedenen Einrichtungen, die wir besuchten, keinen Hehl daraus, dass auch ihre junge Demokratie nicht perfekt sei. Wie könne sie denn, wo es auch in Deutschland alles seine Zeit gebraucht hätte. Obwohl man leicht zum überzeugten Nicken verleitet wird, klingt dieses Statement ein wenig nach einer Ausrede.
Nichtsdestotrotz gibt es in Kurdistan sowohl kurdische als auch arabische Zeitungen, die Menschen können scheinbar ihre Meinung frei äußern und vor einiger Zeit wurde das schwedische Schulsystem eingeführt. Man hasst die Amerikaner nicht, man hat sie als Befreier gefeiert. Der Kurs der Autonomen Region Kurdistan geht zielstrebig nach Westen.


Nun gut, an was sich unserereins neben der allgegenwärtigen Barzani-Präsenz außerdem gewöhnen musste, war das ständige Sakko-Tragen. In Hemd, Krawatte und Anzug ging es von einem Termin zum nächsten. Irgendwann gewöhnt man sich daran, hatte ich den Eindruck. Und da im Nahen Osten erstaunlich viele (vor allem ältere) Männer gut gekleidet unterwegs sind, kann es nicht schaden, einen halbwegs anständigen Eindruck zu hinterlassen. Doch trotz allem ist man erleichtert, wenn man sich, wieder im Hotel angekommen, der lästigen Etikette entledigen kann und ganz leger zu einer der seltenen, nachmittäglichen Freizeiteinheiten in die Stadt aufbrechen kann. Denn der Ausblick von der Zitadelle bei Abend, untermalt vom Gesang der Muezzine und abgerundet durch die wechselnden Farben der Wasserfontänen, ist unbezahlbar.

Freitag, 15. März 2013

Teil 3: Überblick über Geschichte und Politik der Autonomen Region Kurdistan

An dieser Stelle ist es vielleicht von Nutzen, einen kurzen Einblick in die Geschichte der heutigen Autonomen Region Kurdistan zu geben. Die Thematik ist äußerst komplex, deshalb vielleicht zunächst ein paar grundlegende Angaben:

Die Autonome Region Kurdistan wurde 1970 nach langen Kämpfen und Verhandlungen zwischen Saddam Hussein und dem Kurdenführer Mustafa Barzani gegründet. Sie ist untergliedert in drei Provinzen: Erbil (Hawler), Dohuk und Sulaymaniya. Umstrittene Gebiete sind Mossul und Kirkuk.
Das irakische Kurdistan hat 3,5 Millionen Einwohner, davon sind die meisten Kurden. Vereinzelt leben hier auch Araber, Turkmenen und Assyrer. Amtssprache ist der kurdische Dialekt Sorani, der mit persischen Buchstaben und Sonderzeichen geschrieben wird.


Die Geschichte der Region ist geprägt durch Kriege und militärische Konflikte zwischen den kurdischen Freiheitsbewegungen und den irakischen Regierungen. Die größten Auseinandersetzungen gab es unter der langen Herrschaft Saddam Husseins.

Die Anfänge der langjährigen Auseinandersetzungen liegen lange zurück. Eng verknüpft ist die Geschichte des kurdischen Freiheitskampfes mit dem Namen Mustafa Barzani. Schon im Jahre 1946 wurde Barzani Präsident der neu gegründeten KDP (Kurdisch-demokratische Partei), musste jedoch ins iranische Exil fliehen. Als die irakische Monarchie in einer Revolution 1958 gestürzt wurde, beorderte der damalige Premierminister Abdelkarim Qasim den Kurdenführer zurück nach Bagdad. Es entstand zunächst eine Kooperation, die jedoch in Feindschaft umschwang, als Barzani die kurdische Sprache als erste Amtssprache in den Gebieten der Kurden durchsetzen wollte. Im Laufe der entstehenden Auseinandersetzungen wurde 1961 die Heimatstadt Barzanis, Barzan, bombardiert - zusammen mit weiteren 1270 kurdischen Dörfern und Städten. Viele Kurden zogen sich mit Mustafa Barzani als Peshmerga (Guerilla-Kämpfer) in die Berge zurück.
Nach langen Auseinandersetungen und Verhandlungen mit der irakischen Regierung wurde 1970 schließlich die Autonome Region Kurdistan gegründet, die den Kurden als Teilautonomie grundlegende nationale Rechte (wie z.B. das Sprechen der kurdischen Sprache) zusichern sollte. Die meisten der politischen Regelungen wie etwa die Autonomie des regionalen Parlaments waren nur eine Farce. In Wirklichkeit hatte weiterhin Bagdad die Kontrolle. Schon 1973 kam es zu erneuten Auseinandersetzungen: Die USA und der Iran wollten Einfluss auf die irakische Politik nehmen und unterstützten die kurdischen Rebellen im erneut aufflammenden Konflikt. Als Reaktion verstärkte die Regierung in Bagdad ihre Anstrengungen, die kurdischen Gebiete z.B. durch die Verschleppung von kurdischen Bevölkerungsteilen zu arabisieren. Das Abkommen von Algier zwischen Saddam Hussein und dem Schah von Persien beendete 1975 die Auseinandersetzungen vorerst wieder.
Schon 1983 kam es zu neuen Kämpfen. Während des Irakisch-iranischen Krieges 1980 bis 1988 gerieten die Kurden zwischen die Fronten und sympatisierten nicht selten mit dem Iran. Bagdad reagierte mit gezielten Vernichtungsaktionen gegen kurdische Dörfer. Als Anfal-Kampagne gingen diese Operationen als Völkermord in die Geschichte ein. Ihren Höhepunkt erreichten die Aktionen am 16. März 1988, als die Stadt Halabja mit Giftgas bombardiert wurde und mehr als 5.000 Menschen ihr Leben verloren.
Im Zuge des Zweiten Golfkriegs 1991 kam es zu einem Aufstand der Kurden (und auch der Schiiten) gegen die Herrschaft Saddam Husseins. Im Zuge heftiger Kämpfe gegen die von Bagdad entsandten irakischen Truppen errangen die Kurden die Hoheit über weite Teile des Nordiraks. Nach zähen Verhandlungen und der Einrichtung einer Schutzzone durch die Alliierten zogen sich die irakischen Streitkräfte aus dem Norden zurück und eine de-facto-Autonomie für das irakische Kurdistan begann sich zu etablieren. Vier Jahre lang bekämpften sich jedoch die Fraktionen der KDP (Barzani) und der PUK (Patriotische Union Kurdistans, unter Talabani). Der Krieg endete erst 1998 durch ein Abkommen in Washington.
Die Autonomie hält bis heute an und ermöglichte es den irakischen Kurden, ein weitgehend friedliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Der aktuelle Premierminister ist Massoud Barzani, der Sohn des berüchtigten Freiheitskämpfers. Präsident des Irak ist der Kurde Jalal Talabani, der sich derzeit in der Berliner Charité befindet. An seiner Gesundheit könnte sich die Zukunft des ganzen Irak entscheiden.

Auf unserer Tour durch die Empfangssäle irakisch-kurdischer Politiker bekamen wir natürlich meist die kurdische Version der Geschichte zu hören. Das ganze Ausmaß der Problematik zu begreifen erscheint auch unmöglich. Fest steht jedoch, dass es in der Vergangenheit viel Leid gegeben hat - meist auf Seiten der Zivilbevölkerung. Die Schuldigen der Massaker von Halabja und anderswo sind jedoch größtenteils verurteilt. Man schaue in Kurdistan nicht so sehr in die Vergangenheit, sondern vielmehr in die Zukunft, so sagt man uns.

Doch wie sieht das Verhältnis der Region Kurdistan zum Irak heute aus? - Diese Frage stellten wir den entsprechenden Personen mehr als einmal.
Der Außenminister der Region Kurdistan, Falah Mustafa Bakir, der das Department of Foreign Relations in Hawler/Erbil aufgebaut hatte, ließ die Frage nach einer Unabhängigkeit Kurdistans mehr oder weniger offen. Die Zukunft des Irak sei abhängig vom Staatspräsidenten Talabani, der in der Vergangenheit oft Streit zwischen Schiiten und Sunniten geschlichtet hätte. Mit Bagdad müsse sich Bakir selbst immer abstimmen, denn schließlich sei der Irak mit Bagdad als Hauptstadt der äußere Rahmen. Im Hinblick auf die Türkei sagt der Minister, der sehr gut Englisch spricht, dass sich Fortschritte und Verbesserungen abzeichnen würden. Der türkische Ministerpräsident Erdoğan sei sogar zu Besuch in Erbil gewesen. 
Während der Außenminister sehr diplomatische Worte findet, weisen uns die Zuständigen der kurdischen Partei KDP auf einige schwierige Aspekte hin. Ungefähr zwei Monate bevor wir in Kurdistan angekommen waren entstand in einem umstrittenen Gebiet eine brenzlige Situation: Im Streit um die Nutzung des Flughafens in Kirkuk, das zu den umstrittenen Regionen gehört, ließ die irakische Armee 50.000 Soldaten aufmarschieren. Die Kurden hatten 200.000 Mann zu bieten (wenn man einem Sprecher der KDP glauben mag) und die Lage wurde wieder entschärft. Der KDP-Sprecher wollte uns jedoch nicht erläutern, wer genau Schuld an der Situation gehabt hatte.

Während unserer Reise trafen wir ausschließlich Mitglieder der KDP oder Persönlichkeiten, die aus der Kaderschmiede der KSU (Kurdistan Student Union) stammten. Die kurdische Perspektive war immer klar: Unendliches Leid in der Vergangenheit, langjähriger Kampf, blühende Zukunft. Eine noch junge Demokratie mit Fehlern und Mängeln, die jedoch Gleichberechtigung für alle bereithält. - Diese Ansicht klingt plausibel und optimistisch. Doch vor allem die Tatsache, dass man sehr viel Wert auf Gleichberechtigung jeder Art lege, wurde für meinen Geschmack ein paar Mal zu oft erwähnt...

Donnerstag, 14. März 2013

Teil 2: Hasankeyf und Weiterfahrt in den Irak

Als die Gruppe schließlich im teuren und durchaus komfortablen Birkent Hotel vereinigt war, brachen wir früh auf. Auf unserer heutigen Etappe sollten wir mehr als 550 Kilometer, einige Haltstationen sowie eine internationale Grenze zu bewältigen haben. Die 20 Leute wurden auf drei Kleinbusse verteilt, deren Fahrer nur Kurdisch und Türkisch verstanden. Das war jedoch kein Problem, denn die meiste Zeit ist man sowieso damit beschäftigt, aus dem Fenster zu sehen, die türkische Militärpräsenz zu bewundern und Atatürk-Zitate auf Bannern über der Straße zu entziffern. Interessant sind auch die kleinen Uhrtürme, denen man auf den zentralen Straßenkreuzungen mancher kleiner Städte begegnet.


Hinter Batman, einer unglaublich einfallslosen und hässlichen Stadt - so zumindest mein Eindruck -, kommen wir durch die Täler des Tigris und bewegen uns auf geschlängelten Straßen dem Ort Hasankeyf entgegen.
Von der Straße aus kommen einem zuerst die Häuser auf den Felsen über dem steilen Tigrisufer in den Blick. Aus dem Wasser ragen zwei gewaltige Brückenpfeiler. Hier war zu Beginn des 12. Jahrhunderts eine Brücke errichtet worden, um einen neuen, sicheren Übergang für die Handelsströme von Mesopotamien nach Anatolien zu schaffen. Heute sind nur noch die Überreste dieses mächtigen Bauwerks geblieben.


Nach dem Bau der Brücke war die Stadt zu stattlichem Reichtum gekommen. Als Residenzstadt der Artukiden bekam Hasankeyf eine wichtige Bedeutung. Später regierten hier die Ayyubiden, die die Stadt nach den Zerstörungen des Mongolensturms wieder aufbauten.
In der Unterstadt von Hasankeyf findet sich eine Reihe bedeutender Baudenkmäler, die derzeit vom Deutschen Archäologischen Institut untersucht werden. Darunter befindet sich auch die um 1409 erbaute Rızq-Moschee, ein von den Ayyubiden errichtetes Gotteshaus. Auf dem hohen Minarett haben Generationen von Störchen ihr Nest gebaut.


Durch die verschiedenen Erweiterungen zieht sich die Altstadt bis hoch in die kluftigen Felsen hoch über dem Tigris. Leider konnten wir die Felsenstadt mit ihren Höhlen nicht besichtigen, da das Areal aus Sicherheitsgründen gesperrt wurde. Eine Felswand weist bedrohliche Risse auf.


Irgendwann entluden die dicken Wolken ihre Ladung und begannen, uns mit fetten Regentropfen zu bombardieren. Wir hatten nicht wirklich Lust nass zu werden und machten uns daran, weiter zu fahren. Von einem Tässchen Tee ließen wir uns jedoch nicht abhalten. Der Tee sollte zu einem unserer ständigen Begleiter werden.

Weiter ging es in Richtung Südosten. Und natürlich wäre eine Reise nur halb so spannend und auch lehrreich, wenn es nicht ab und zu den einen oder anderen Zwischenfall geben würde. Wie wäre es zum Beispiel, wenn auf der parallel zur etwa zwei Kilometer enttfernten syrischen Grenze verlaufenden Straße ein Reifen platzte? Da legt man dann unfreiwillig eine Toilettenpause ein, sucht den Wagenheber - obwohl reichlich starke, junge Männer vorhanden - und schraubt ein nicht wirklich vertrauenserweckenderes Reserverad an. Dann geht es weiter in Richtung Cizre, wo sich türkische und syrische Grenze treffen. Eine typische Grenzstadt. Je nach Wetterlage staubig oder schlammig, voller LKWs und Ölpfützen. Schnell ein Lahmacun verdrückt und dann weiter gen Osten.


Hinter Cizre folgt man zunächst der syrischen Grenze. Die Straße führt am Tigris entlang, ein paar Wachtürme säumen das Ufer. Ansonsten könnte man über die knapp 300 Meter den syrischen Dorfbewohnern auf der anderen Seite bei ihrem Alltagsleben zuschauen. Morgens hört man auf der türkischer Seite wohl sogar die Hähne vom syrischen Ufer her krähen.
Irgendwann beginnt auf der rechten Spur eine lange Schlange türkischer LKWs. Der Grenzstau hat begonnen. Möglicherweise warten die Lastwagen einen ganzen Tag auf den Grenzübertritt. Wir fahren an ihnen vorbei und reihen uns in eine kürzere Schlange ein. Erste Kontrolle, dann Ausreise aus der Türkei, vorzeigen des Stempels, aussteigen, warten, endlich die Brücke über den Fluss, dann nochmal warten auf den Einreisestempel. Während wir in der modernen Empfangshalle sitzen und King Kong schauen, wird es draußen dunkel. Und es beginnt zu stürmen. Obgleich die Region Kurdistan autonom ist, weht hier neben der bunten Flagge mit der goldenen Sonne auch die irakische mit dem Schriftzug "Allahu Akbar", der früher einmal in Saddams Handschrift geschrieben war, was man mittlerweile natürlich behoben hat. Irgendwie ist es ein merkwürdiges Gefühl, hier zu sein.
An der Grenze werden wir eine ganze Weile aufgehalten. Einer der Teilnehmer ist Syrer, hat aber nur eine Einreiseerlaubnis über den Flughafen. Es dauert über eine Stunde bis wir wissen, wie es weitergeht. Am Schluss ist die Gruppe jedoch wieder komplett und wir setzen uns in den kleinen Bus, in dem alle 22 Plätze belegt sind. Mit dem Gepäck auf dem Dach geht es nach Zaxo zum Abendessen mit der KSU (Kurdistan Student Union). Das erste richtig gute Essen in einer Reihe vieler richtig guter Essen. Mit vollem Magen fahren wir nun in einem Rutsch nach Hawler (Erbil) durch. Unsere Reise hat endgültig begonnen.

Mittwoch, 13. März 2013

Teil 1: Diyarbakır

Der Flug in die Türkei hat schon die ersten entscheidenden Eindrücke bei mir hinterlassen: Es gab etwas zu essen bei Turkish Airlines. Es ist ja bekannt, dass man mich durch gutes Essen beeindrucken kann. Im Flugzeug sind meine Erwartungen aber nicht sonderlich hoch. Umso erfreuter war ich über den gewaltigen Köfte-Klops, das Kartoffelgratin und die Tomaten-Auberginen-Kreation, die zusammen mit einem Stückchen Kuchen, einem Tee und Hirtensalat auf dem kleinen Klapptischchen die gesammte Breite der türkischen Küche zu manifestieren versuchten. (Eine spezielle Anmerkung an die Leserin und den Leser, die mich großgezogen haben: Ja, ich habe Auberginen gegessen und ich werde es ab jetzt immer wieder tun.) - Jedenfalls, ich war zufrieden mit der Aerogastronomie, die meinen Weg nach Südosten verkürzte.

Es sei angemerkt, dass ich noch nie zuvor in der Türkei gewesen bin. Nachdem mich sowohl das Volk der Palästinenser als auch das Volk der Israelis durch ihren Unwillen, auf meine politischen Ratschläge zu hören, bitter enttäuscht hatten, schwor ich der Levante ab und wollte meinen Horizont in die türkischen Gebiete und alles östlich davon verlagern. So saß ich also am Istanbuler Atatürk-Flughafen und wartete auf meinen Anschluss gen Diyarbakır. In der Wartehalle am Gate traf ich auch einen jungen Mann namens Murat, der in Istanbul studierte und ebenfalls meinen Flug nahm. Ich demonstrierte ihm, dass ich wohl türkische Boulevardzeitungen verstehen konnte, aber keinen einzigen anständigen Satz auf seiner Sprache zu sprechen imstande war. Wir verstanden uns ganz gut und er wollte mir in Diyarbakır mit dem Taxi helfen. Als wir schließlich gestartet und wieder gelandet waren, bot er mir an, mich doch direkt ins Hotel zu fahren. Sein Bruder sei Polizist und hole ihn vom Flughafen ab. Ich dachte mir: Entweder Du sparst Dir das Geld für's Taxi und kommst wohlbehalten ins Hotel - oder Du wachst morgen früh im Straßengraben ohne Geld, Koffer und Socken wieder auf. Was soll ich sagen? Der erste Fall von Gastfreundschaft schon am ersten Tag. Denn wie man unschwer erkennen kann, bin ich wohlauf.

Da ich etwas zu früh dran war, konnte ich die zwei ersten Tage in Diyarbakır nutzen, um mir die Stadt anzusehen. Tom, der ebenfalls zu früh dran und direkt aus dem Sudan (!) gekommen war, hatte schon eine Teestube ausgecheckt und einen Käseladen, in dem man auch Arabisch verstand. Er hat mich auch per Notiz in dem für uns vorreservierten Hotel abgefangen und mich ins schäbige Hotel zwanzig Meter daneben umleiten lassen. So konnte auch ich dutzende Liras sparen und mich schon einmal mit Alaturka-Toiletten und verrauchten Gardinen anfreunden. 

Die ersten Tage gingen für uns auf der Stadtmauer sitzend und Olivenkerne ausspuckend vorüber. Diyarbakır ist eine hochinteressante Stadt. Die Altstadt (Suriçi) ist von einer sechs Kilometer langen Mauer umschlossen, die von 82 (!) Türmen gesäumt wird. Abends treffen sich außerhalb der Mauern Drogendealer und sonstige Zeitgenossen, aber tagsüber gibt es keinen eindrucksvolleren Platz als einen der Türme mit seiner Aussicht über die Tigris-Ebene. Hier beginnt Mesopotamien. Und schon der osmanische Reisende Evliya Çelebi war im 17. Jahrhundert begeistert von den riesigen Wassermelonen, die auf den Feldern vor der Stadt mit Hilfe des Taubendungs aus den örtlichen Taubenzüchtervereinen sprießten.
Tauben spielen in der kurdischen Sagentradition eine wichtige Rolle. So landen z.B. Geister in Taubengestalt bei Brunnen und verwandeln sich in schöne Mädchen. Später verwandeln sie sich wieder zurück und fliegen davon. Die Taubenzucht an sich hat in Diyarbakır eine 500 Jahre allte Tradition.


In Diyarbakır betrachten sich nur 14% der Menschen als ethnische Türken. Die meisten Bewohner sind Kurden und Zazas. Einige wenige Christen sind geblieben, ansonsten sind die Menschen überwiegend sunnitische Muslime.
Seit 2004 gibt es kurdische Radio- und Fernsehsender. Vor Jahren noch war der Gebrauch der kurdischen Sprache strafbar. Heute ist Privatunterricht auf Kurdisch an Schulen in der Türkei erlaubt, auch kulturelle Ereignisse sind legal.
Tom und ich haben beim Abendessen einen Mann namens Ali C. getroffen, der uns (s)einen Standpunkt zur Politik erläuerte. Anders als viele Menschen in Diyarbakır ist er nicht gegen den Ministerpräsidenten Erdoğan und seine AKP. In der Stadt selbst stellt die kurdische Barış ve Demokrasi Partisi (BDP) den Bürgermeister. Ali beschuldigt den Bürgermeister jedoch, Geld zu veruntreuen bzw. falsch zu investieren und Hotels an der Küste zu bauen. Die BDP würde von den Ladenbesitzern fordern, an Tagen der Parteiversammlungen ihre geschäfte früher zu schließen. Das würde den Alltag verkomplizieren. Auch die PKK und alle ihre Untergruppierungen seien nicht gut für die Kurden. Ein Staudammprojekt, das laut Ali sehr gut für die Region sei, wäre von der PKK durch die Zerstörung von 80 Lastwagen verhindert worden. Erdoğan und die AKP seien gut für die Türkei und auch für die Kurden, meint Ali. Er betont die Reformen des letzten Jahrzehnts und erzählt uns, dass er aufgrund seiner AKP-Sympathien von manchen Leuten verdächtigt wird, kein Kurde zu sein, was er jedoch zu 100% leugnet. Währenddessen essen wir, trinken Ayran und sehen im Fernsehen, wie ein türkisches Publikum den rundlichen Koreaner beim Gangnam Style unglaublich textsicher begleitet. Ali stellt uns ein interessantes Bild dar. Was man ihm jedoch glauben kann oder wie ernst er zu nehmen ist, wissen wir nicht.

Am nächsten Tag werden wir von einer Jesidin, die in Oldenburg eine Änderungsschneiderei betreibt, zum Kaffee ins Deliler Han eingeladen, eine ehemalige Karavanserei im für die Stadt typischen schwarz-weißen Baustil. Basalt war hier als Baustoff sehr beliebt. Die Frau ist sichtlich froh, Deutsche zu treffen und erzählt überschwänglich, dass sie hier Verwandte besuchen würde und so schnell wie möglich wieder nach Deutschland zurück wolle. Auf Muslime ist sie nicht gut zu sprechen. Auch unsere Begeisterung für Diyarbakır kann sie nicht teilen. 
Ich bleibe aber trotzdem dabei: Diyarbakır ist eine überraschende Stadt mit dicken Mauern und einem gewissen Reiz. Leider bleiben wir hier nicht allzu lange. Nachdem die Gruppe am Abend des 1. März eingetroffen ist, brechen wir am nächsten Morgen in aller Frühe auf.

Middle East Excursion: Kurdistan - Prolog

Vor zwei Tagen bin ich in Istanbul gelandet und habe beim Max aus Tübingen Quartier bezogen, der hier gerade sein Auslandsjahr macht. Somit habe ich den Südosten der Türkei und auch die Autonome Region Kurdistan hinter mir gelassen. Zusammen mit 20 anderen Leuten hatte ich zehn unvergessliche Tage mit ziemlich viel Input, einer Menge offizieller Termine und unendlich vielen neuen Eindrücken. Wir waren zu Gast bei Politikern, der Universität von Hawler/Erbil, dem Geheimdienstchef und sogar bei unserem Busfahrer. Die unbeschreibliche Landschaft hat uns auf stundenlangen Fahrten durch Kurdistan begleitet, genauso wie die sich ständig wiederholenden Hits von Shakira, die hier und da durch kurdische Volks- und Mitklatschmusik abgelöst wurde.
Begleitet wurde die Middle East Excursion (MEE) auch von den Organisatoren der KSU (Kurdistan Student Union), die unsere Treffen mit einigen politischen Akteuren ermöglichten. Natürlich hatten wir selbst so nur wenig Einfluss auf die Auswahl der Personen, die wir trafen. Ein Fazit zur Organisation der Reise möchte ich aber erst am Schluss geben. Alles in allem haben die engagierten Studenten einen guten Job gemacht und uns viele Einblicke ermöglicht, die man als Durchschnittstourist im Nordirak (sollte es so etwas geben) nicht bekommen hätte.

Um meinen folgenden Berichten einen geografischen Rahmen zu geben, werfen wir einmal einen Blick auf die Route, die unsere Gruppe in den letzten zwei Wochen zurückgelegt hat:
Der Treffpunkt und Beginn unserer Reise war Diyarbakır, eine weitgehend von Kurden bewohnte Stadt im Südosten der Türkei. Von hier aus ging es schon am nächsten Tag weiter in Richtung Irak. In Hasankeyf legten wir einen Zwischenstopp ein. An einem Tag legten wir die komplette Strecke von über 550 Kilometern nach Hawler (Erbil) zurück, über einen Grenzübergang sowie auf türkischen und kurdisch-irakischen Straßen. Von Hawler aus unternahmen wir Ausflüge zu Wasserfällen in der bergigen Umgebung und nach Rawandoz, einer Stadt unweit der iranischen Grenze. Dann ging es weiter nach Sulaymaniya, von wo aus wir Halabja besuchten. Die Kleinstadt wurde 1988 von irakischen Truppen mit Giftgas attackiert und über 5.000 Menschen mussten ihr Leben lassen. Auf dem Rückweg legten wir wieder einen Halt in Hawler ein, bevor wir über Barzan, den Sitz des Barzani-Clans, weiter nach Dohuk fuhren. Hier gab es wieder einige Ausflugsziele in der Umgebung, darunter das Jesidenheiligtum Lalisch und ein christliches Kloster. Am letzten Tag konnten einige von uns noch einen Abstecher nach Mardin machen, nachdem wir an der irakisch-türkischen Grenze mehr als zwei Stunden gewartet hatten, bevor die Tour für fast alle von uns wieder in Diyarbakır endete.

Wir haben das gesamte irakische Kurdistan durchquert. In den folgenden Beiträgen werde ich versuchen, euch (meine unverzichtbaren Leser und Leserinnen) ein wenig teilhaben zu lassen an den Eindrücken und Erfahrungen, die ich hier gemacht habe.