Samstag, 21. November 2015

Deutschland und die Einwanderung (Fundstück)

Ich bin auf einen sehr interessanten Text gestoßen, der im Hinblick auf die Einwanderung der türkischen Minderheit ganz gut erklärt, weshalb Deutschland beim Thema Migration und Integration anderen Ländern hinterherhinkt. Der Text stammt aus einem Länderporträt von Jürgen Gottschlich über die Türkei, doch im Kontext aktueller Diskussionen, die seit Jahren anhalten und heute aktueller denn je sind, lohnt sich die Lektüre einiger Auszüge:

[…] Die sogenannten Gastarbeiter der ersten Stunde erzählen heute noch kopfschüttelnd, wie sich damals in den Dörfern Anatoliens das Gerücht verbreitete, in diesem fernen Deutschland könne man unendlich viel Geld verdienen.
Doch der Weg dorthin war lang und schwierig. Es gab deutsche Anwerbekommissionen, die in den größeren Städten Stationen eingerichtet hatten, in denen die Leute vorsortiert und einem ersten Gesundheitscheck unterzogen wurden. Bevor jemand das Ticket zu einer Zugfahrt nach Norden bekam, musste er sich dann zumeist noch zwei weiteren gründlichen Untersuchungen stellen, um sicher zu gehen, dass die deutschen Firmen auch nur bestes „Material“ anwarben. Fast alle berichten, dass die Ankunft in Deutschland für sie ein Schock war. Der Mangel an Verständigung, die völlig andere Umgebung und die Unterbringung in tristen Baracken, die zum Teil schon als Unterbringung für die Zwangsarbeiter im Dritten Reich gedient hatten, machten ein Ankommen in Deutschland nicht leicht. Aber die Männer – es waren ja ganz überwiegend Männer, die angeworben wurden – hatten den sozialen Zusammenhalt untereinander, und sie hatten ihren Arbeitsplatz.
Ihre Arbeit gehörte durchgängig zu den körperlich schwersten, am schlechtesten bezahlten und mit dem geringsten Prestige verbundenen Tätigkeiten, die in Deutschland zu vergeben waren. Eine besondere Ausbildung war zumeist unnötig, auch Sprachkenntnisse brauchte man bis auf einige rudimentäre Brocken nicht. Es genügt, einige Befehle zu verstehen und „jawohl, Meister“ sagen zu können. Mehr war auch gar nicht gewollt, denn das Konzept der Anwerbung von Fremdarbeitern im südlichen Europa basierte auf dem Rotationsprinzip. Die Arbeiter sollten nach ein paar Jahren, die sie quasi wie auf Montage in Deutschland verbracht hatten, wieder zurückkehren und neuen „Gastarbeitern“ Platz machen. Die Rückkehr sollte vor allem so rechtzeitig geschehen, dass die Arbeiter nicht dem deutschen Sozialsystem zur Last fielen, also krank wurden oder gar Rente beziehen wollten.
Doch das Leben hält sich oft nicht an die ausgeklügelten Pläne. Mit den Jahren begnügten sich die „Gastarbeiter“ nicht mehr mit dem monotonen Wechsel zwischen Baracke und Schichtarbeit, sondern sie begannen, ihre neuen Umgebungen zu erkunden. Zuerst die Innenstädte und Bahnhöfe, dann kamen die ersten Kontakte zu Deutschen, die über den unmittelbaren Arbeitsplatz hinausgingen. Bekanntschaften, Freundschaften, eine eigene Wohnung folgten. Manchmal wurde aus Freundschaft Liebe, und die ersten binationalen Ehen wurden geschlossen, andere begannen, ihre Frauen und Kinder nachzuholen. Obwohl schon nach wenigen Jahren klar wurde, dass aus der gedachten Rotation längst eine Einwanderung geworden war, wurde dies von der bundesdeutschen Politik schlicht ignoriert.
Das Phänomen war in allen westeuropäischen Industrienationen das Gleich, doch zwischen Deutschland auf der einen und Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden auf der anderen Seite gab es einen großen Unterschied. Dort holte man sich den Arbeitskräftenachschub aus eigenen Kolonien oder ehemaligen Kolonien. Das hatte den Vorteil, dass man sich bereits ein wenig kannte und die Leute, die kamen, in der Regel auch Englisch, Französisch oder Niederländisch sprachen. Außerdem war man aufgrund seiner imperialen Vergangenheit nicht ganz so provinziell wie in Deutschland. Die Auslandserfahrungen der meisten deutschen Männer beschränkten sich in den 50er Jahren auf die Eroberungszüge der Wehrmacht, bei den Frauen auf Bekanntschaften mit Besatzungssoldaten. Die ersten schwarzen Gis wurden bestaunt wie Zirkusattraktionen. Der Faschismus war zwar durch eine Demokratie ersetzt worden, aber die Vorstellung vom deutschen Volk als ethnischer Einheit saß und sitzt oft bis heute noch in vielen Köpfen.
Wenn heute in Deutschland die mangelnde Integrationsbereitschaft der türkischen Einwanderer beklagt wird, unterschlägt man in der Regel, dass dazu auf der anderen Seite auch die Bereitschaft bestehen muss, vormals Fremde im eigenen Land aufnehmen zu wollen. Genau damit aber taten sich die Deutschen besonders schwer. Zu den überall existierenden Schwierigkeiten mit der Integration ethnischer Minderheiten kommt in Deutschland, anders als in Großbritannien oder Frankreich, oft bis heute noch ein völkisches Element hinzu.
Mit dieser Haltung sahen sich viele türkische Familien konfrontiert, als sie aus den Wohnbaracken der Anwerberfirmen auszogen, um sich selbst einen Platz in der Gesellschaft zu suchen. […]

(Text aus Jürgen GOTTSCHLICH: Türkei – Ein Land jenseits von Klischees, Sonderausgabe für die Zentrale für politische Bildung in Deutschland, 2008, S. 79-85)

Viele dieser Feststellungen lassen einen ersten Schluss zu, dass ein Großteil der Probleme, die wir heute in Deutschland haben, nicht nur an der Einwanderung selbst liegen, sondern am Umgang der deutschen Politik mit dem Zustrom von Arbeitskräften sowie mitunter auch an den national(istisch?)en Eigenarten der Deutschen. Mehr nachdenkliche (und teils erschreckende) Fakten und persönliche Beobachtungen aus dieser Zeit hat z.B. Günter Wallraff in seinem Buch „Ganz unten“ (1985) gesammelt.

Gastarbeiter (Foto: dpa, gesehen bei Sueddeutsche Zeitung)

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