Sonntag, 23. November 2014

Der "Tanz um die Toleranz" - Kommentar zur Horizonte-Sendung

In den letzten Tagen hat die Horizonte-Sendung vom 15. November 2014 im Hessischen Rundfunk  mancherorts für einige Diskussionen und oft auch für große Empörung gesorgt. Als Auftakt einer ARD-Themenwoche gedacht, begann der Moderator Meinhard Schmidt-Degenhardt mit den Worten: „Man kann ja über Deutschland denken, was und wie man will. Sie dürfen gerne mäkeln, sie dürfen meckern, aber komme mir bitte keiner und sage, Deutschland sei kein tolerantes Land. Im Gegenteil! Wer, wenn nicht wir?“ Ihm gehe dieser „Tanz um die Toleranz“ auf den Geist. Und das erste Einspieler-Video polarisiert, was es nur zu polarisieren gibt: „Sind wir nicht längst das toleranteste Land der Welt?“ Dabei werden Frauen mit Kopftuch zusammen mit dem Bundespräsidenten gezeigt. „Schmeißen wir nicht bewährte Ansichten über Bord und jeder wird glücklich?“ Im Bild: Eurovision-Songcontest-Gewinner Conchita Wurst. In diesem Fall heißt altbewährt scheinbar nicht homosexuell. Ist diese Art von Intro überhaupt noch provokant oder ist das schon strafbar? Dann: Bilder von gewaltbereiten, tobenden Nazis, kommentiert mit den Fragen „Doch wie lange geht das gut? Was brodelt unter der Oberfläche? Geht der Schuss nach hinten los?“ Als Zuschauer zögert man. Ist das ernst gemeint, kommt da noch ein großer Umschwung zur Objektivität? Man vermutet, dass sich hier etwas wenig konstruktives anbahnt. 


Geladen sind Ellen Ueberschär, Generalsekretärin des Evangelischen Kirchentags, und Matthias Matussek, katholischer Journalist und Autor. Gleich zu Beginn geht es um Salafisten und den Umgang mit dem Islam. Das Einspieler-Video zu diesem ersten Themenblock: „Nie wieder Schweineschnitzel, nie wieder Bier, kein Kreuz an der Wand“ – eine Realität wird suggeriert, die angeblich den deutschen Alltag schon lange bestimmt. Und das alles aus Toleranz? Matussek spricht von „tolerant bis zur Prinzipienlosigkeit“, gerade im Umgang mit dem Islam. Anstatt Nazis den Protest gegen den Salafismus zu überlassen, solle lieber die Mitte der Gesellschaft – die Christen – auf die Straße gehen und ihren Glaubensbrüdern zur Seite stehen. Welche Glaubensbrüder er hier meint wird nicht deutlich. Das Publikum darf sich hier wohl eine bedrohte christliche Minderheit aussuchen. Ueberschär will die ziellose Diskussion weg von den wahllosen Beispielen Matusseks hin zu konstruktiven Ansätzen lenken. Wir würden Toleranz mit Beliebigkeit verwechseln, meint sie. Und genau das könnten wir der Gesellschaft nicht deutlich machen. Doch hier Lösungsansätze zu entwerfen ist von Anfang an ein aussichtsloses Unterfangen.
Weiter geht es mit Themenblock zwei: Sex. Im Intro-Einspieler geht ein nachdenklicher Mann über den Kiez, überall das gleiche Bild: Jeder mit jedem. Seine Freundin hat 5 unbeantwortete Anrufe auf dem Handy – er muss eben akzeptieren, dass es neben ihm noch andere gibt, denkt er sich. Der arglose Zuschauer runzelt hier die Stirn, die Darstellung ist schon ziemlich verstörend. Doch hier werden gesellschaftliche Problematiken oder Phänomene zusammengefasst und bewertet aus der Sicht einen erzkonservativen Christen. Die Welt wird so gezeigt, wie sie durch eine äußerst religiöse Brille gesehen wird. Und auch Matussek macht sich Sorgen über dieses Thema: Sex sei ja fast die neue Religion, meint er. Über nichts werde so viel gequatscht. Und natürlich läuft dieser Themenblock auf die Homo-Ehe hinaus. Matussek scheint in einen Sack zu stecken, was Ueberschär zum Glück deutlich zu unterscheiden weiß: Prostitution und Menschenhandel sind eine Sache, die Heirat homosexueller Paare sei eine ganze andere. Matussek verteidigt sofort – ohne direkt angegriffen worden zu sein – die katholische Kirche in ihrem Umgang mit den Homosexuellen, indem er darauf verweist, in Teheran würden Schwule an Kränen aufgehängt. Mehrmals lenkt er die Diskussion auf den Islam, um die katholische Kirche in Schutz zu nehmen. Ohne sichtlichen Zusammenhang wirft er dem Moderator, der so tut, als würde er kritisch nachfragen wollen, entgegen: „Ehrenmord gibt’s auch hier!
Im dritten Themenblock dann: Eine Art Kapitalismuskritik, der Zuschauer fühlt seine Aufmerksamkeit wieder auf die wirklich wichtigen christlichen Werte gelenkt. Welch eine Erlösung…

Was spielt sich in dieser Sendung eigentlich ab? Islam, Homosexuelle – und immer wieder dieselbe Frage: Müssen wir denn überall tolerant sein? Dürfen wir da überhaupt tolerant sein? Beantwortet wird durch die Videobeiträge von alleine: Nein, denn es läuft aus dem Ruder. Der Islam regiert unsere Straßen, Schwule heiraten und paaren sich an jeder Ecke, vor den Augen unserer Kinder.

Nun, das Entscheidende ist aber: Bei der Sendung Horizonte im Hessischen Rundfunk handelt es sich um ein offensichtlich christliches Programm, die Diskussion zwischen Matussek und Ueberschär ist eine Auseinandersetzung unter Christen. Hier wird nicht von einer säkularen Gesellschaft ausgegangen, sondern von einem christlichen Deutschland, das alles außerhalb dieses Rahmens vielleicht dulden, im seltensten Fall aber tolerieren kann. Und diese christliche Auseinandersetzung mit Problemen der modernen Gesellschaft ist nicht nur äußerst homophob, sondern auch enorm Islam-fixiert. Horizonte entlarvt sich an dieser Stelle aber nicht als hetzerisches Anti-Toleranz-Programm, was von vielen Beobachtern vielleicht so aufgenommen wurde. Vielmehr zeigt die Sendung, was für ein klägliches Minimum an Toleranz unter großen Teilen der deutschen Christenheit vertretbar erscheint – nicht mehr und nicht weniger. Bewerten kann man das jetzt auf unterschiedliche Art und Weise – von skandalisierend bis achselzuckend. Verstörend und auch ein wenig beschämend ist es aber auf jeden Fall.

Es kann eigentlich nur festgestellt werden: Fernsehsendungen wie Horizonte, die scheinbar nur mit den und für die christlichen Zuschauer sprechen, sind alles andere als geeignet, um in einer gesellschaftlichen Diskussion über Salafismus und Scharia-Polizei angehört zu werden. Selten habe ich erlebt, dass Stereotypen über Kopftuchfrauen und Schwule so fahrlässig (oder beabsichtigt?) zu einem Toleranz-Brei vermischt wurden, der natürlich jedem konservativem Publikum eklig erscheinen muss. Es wird propagiert, dass der eigentliche Grund für den Verfall der Gesellschaft und den scheinbaren Aufwind rechtsextremer Kräfte die Toleranz gegen Andersgläubige und Andersdenkende sei. Erneut muss man die Frage stellen, ob Thesen, Behauptungen und emotional-unsachliche Auswüchse wie die des Herrn Matussek sowie die auf unverschämte Art und Weise polarisierende Anmoderation von Herrn Schmidt-Degenhardt einen Platz haben dürfen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Ein sinnvoller Auftakt zur ARD-Themenwoche hätte wohl anders ausgesehen. Der eigentliche Skandal an der ganzen Geschichte ist es, dass jede/-r BürgerIn in Deutschland für diese Art des Fernsehens eine Zwangsabgabe namens G.E.Z. leisten muss.
Für jede inhaltliche Auseinandersetzung ist die Sendung eigentlich ungeeignet. Nur so viel: Toleranz – das ganze Wochenende hätten wir jetzt Zeit und Pflicht, darüber nachzudenken, meint der Moderator. Oh ja, das sollten wir, lieber Herr Schmidt-Degenhardt.


(Ein Artikel, der einigermaßen investigativ vorgeht und auf den Kern der Sache zu sprechen kommt:

Samstag, 8. November 2014

Makel der Einheit - Kritik an einem Erfolgsmodell

Ich wollte diesen Artikel schon lange schreiben, doch nie ergab sich der finale Motivationsschub oder gar die Notwendigkeit. Vielleicht ist er auch etwas provokant, was durchaus etwas Gutes sein kann. Angesichts des 25. Jahrestages des Mauerfalls scheint mir nun jedenfalls die passende Zeit dazu gekommen. An so einem denkwürdigen Tag neigen die Großen der Politik nämlich zu überschwänglichen Reden und vor allem dazu, sich selbst für etwas zu feiern, das auch nur deshalb so gut und makellos scheint, weil sich niemand das Gegenteil für möglich zu halten erdreistet. Denn was ist die deutsche Einheit? Und wieso neigt der politische Duktus dazu, sie als Erfolgsmodell zu verkaufen? Doch eins nach dem anderen.

Was ist Einheit. Nirgendwo ist die deutsche Un-Einheit so sichtbar wie auf der demografischen Landkarte, wo sich die Grenzen zwischen den beiden Staaten von damals noch heute abzeichnen. Helmut Kohl hatte vor zwei Jahrzehnten blühende Landschaften versprochen und ein Vierteljahrhundert später haben wir diese blühenden Landschaften tatsächlich: Nirgendwo ist der demografische Wandel deutlicher zu sehen als in der ostdeutschen Provinz, wo es seit einigen Jahren wieder Wolfsrudel gibt, wo Kleinstädte langsam aussterben und wo der Mensch wieder der Natur das Feld zu überlassen scheint. Zwar hat Dortmund vor kurzem Leipzig als „Armutshauptstadt“ der Republik abgelöst – was man vielleicht als innerdeutsche Annäherung bezeichnen könnte –, doch das Bild ist immer noch verheerend: Stellt man Ost und West in den direkten Vergleich, so sind in den neuen Bundesländern die Arbeitslosenzahlen höher, die Menschen älter, die Neugeborenen weniger und die Perspektivlosigkeit größer. Auch wenn bereits eine ganze Generation kein geteiltes Deutschland mehr kennt – die Teilung auf der statistischen Karte kann schwerlich ignoriert werden. Angesichts dieser Tatsache drängt sich nahezu die Vermutung auf: Es müssen Fehler gemacht worden sein.

Und Fehler wurden eine ganze Menge gemacht im Zuge der Wiedervereinigung. Das Grundgesetz sah ursprünglich zum Beispiel vor, dass als Folge der Einheit eine gemeinsame deutsche Verfassung per Volksabstimmung angenommen werden sollte. Doch Helmut Kohl und die CDU befürchteten, dass sozialistische Elemente Eingang in die Struktur der Bundesrepublik finden könnten – und schoben das Thema so lange auf, bis es vergessen und irrelevant geworden war. Sowohl der Koalitionspartner FDP als auch SPD und Grüne forderten eine Verfassungsdebatte, aber der entscheidende Artikel des Grundgesetzes wurde dennoch übergangen (beziehungsweise uminterpretiert). Das GG wurde Verfassung. Und Günter Grass äußerte sich noch 1998 über die auf diese Weise verpassten Chancen: „[Eine neue Verfassung] schafft zwar keine Arbeitsplätze, [sie] hilft uns auch ökologisch kein Stück weiter, aber die damit verbundene Verfassungsdiskussion, die natürlich von allen Gruppen der Gesellschaft getragen werden müsste, wäre eine nachzuholende Chance, die Deutschen in Ost und West wieder in grundsätzlichen Sachen ins Gespräch miteinander zu bringen.“ – Eine verpasste Chance, die man kreativ hätte nutzen können und wie man sie in der Gunst der Stunde schlicht hätte ergreifen müssen, denn die Bereitschaft zu neuen, gemeinsamen Veränderungen war durchaus da.
Die Frage der deutschen Verfassung ist nach 25 Jahren wohl tatsächlich unbedeutend geworden. Sie hat in einem vom Nationalstaat gelösten, europäischen Bewusstsein an Stellenwert und auch an Relevanz verloren. Es sind deshalb vielmehr die wirtschaftlichen Aspekte der Wende, die bis heute ihre Wirkung zeigen. Denn anstatt einer Verfassungsdiskussion bekamen die Ostdeutschen das, was sie neben politischer Teilhabe noch viel mehr begehrten: Mit der D-Mark kam die persönliche Freiheit – und vor allem neue Kaufkraft. Mit den neuen Einkaufsmöglichkeiten verschwand dann alsbald auch das Verlangen nach politischer Partizipation. Doch hier wird auf traurige Weise deutlich: Nicht Westen und Osten haben sich vereinigt, sondern Ost wurde von West aufgekauft. Alles Bestehende – ob schlecht oder gut – wurde ausradiert und ersetzt. Die Treuhandanstalt (THA), eine „bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts“, schlachtete ostdeutsche Betriebe der Reihe nach aus, einen nach dem anderen. Angeschlagene Westfirmen kauften mit ihrer Hilfe teilweise makellos arbeitende Werke im Osten und strichen staatliche Subventionen ein, mit denen sie zuhause die gefährdeten Arbeitsplätze sicherten. Gleichzeitig schalteten sie effektiv die mögliche Konkurrenz auf dem nunmehr gemeinsamen Markt aus. Millionen von D-Mark versickerten in zweifelhaften Kanälen, während viele Firmen im Osten zunächst günstig aufgekauft und schließlich aufgelöst wurden. Tausende Menschen in der ehemaligen DDR fielen aus diesem Grund der Arbeitslosigkeit zum Opfer und – abstrakt gesprochen – dem unbarmherzigen Kapitalismus, den sie eigentlich begrüßt hatten. Die Talfahrt ging noch weiter: Ungeklärte Eigentumsverhältnisse führten dazu, dass Familien sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten konnten. Noch heute gibt es in ostdeutschen Großstädten ganze Stadtteile, in denen dutzende von Mehrfamilienhäusern leer stehen und dem Verfall ins Auge blicken. – Unterdessen hatte man auf westdeutscher Seite im Grunde nur Arroganz übrig für die neuen Mitbürger. Das System der Bundesrepublik hatte sich in der Vergangenheit bewährt, es lief und läuft bis heute – ein Modell, das seine eigenen Makel durch die Vielzahl seiner Vorzüge übertüncht und den Regierten das Regiertwerden annehmlicher macht. Und so stülpte man einer Gesellschaft, die neben all den heute oft betonten Mängeln, Ungerechtigkeiten und Verbrechen auch 40 Jahre lang eine eigene Daseinsberechtigung entwickelt hatte, einfach ein neues (altes) Modell über – auf allen Ebenen. Dabei wurde die gesamte ostdeutsche Kultur zusammen mit dem SED-Regime in einen Sack gesteckt und im Mülleimer der Geschichte entsorgt. Journalisten bekamen keinen Arbeitsplatz, sogar normale Schriftsteller hatten es in den ersten Jahren schwer, in einer neuen Welt Gehör zu finden. Fußballvereine aus dem Westen kauften den DDR-Mannschaften die Spieler weg; bis heute spielt nur selten eine Ost-Mannschaft in der Bundesliga. NVA-Generäle dürfen den Namenszusatz „a. D.“ nicht tragen – eine Ehre, die nicht einmal ehemaligen Wehrmachtsoffizieren im westlichen Nachkriegsdeutschland versagt war.

Diese Tatsachen, die man sich angesichts der in diesen Tagen gefeierten schillernden Facetten der deutschen „Erfolgsstory Wiedervereinigung“ gar nicht zu erwähnen traut, könnten durchaus als Ungerechtigkeit bezeichnet werden. Doch die Missachtung eines Artikels des Grundgesetzes, die Abwicklung eines Systems mitsamt seiner Menschen und die Entsorgung einer Gesellschaft – an alledem kann man heute nicht viel mehr ändern als sich einfach einzugestehen, dass der Anfang der gesamtdeutschen Geschichte nicht ganz gerecht vollzogen worden ist. Als ersten von zwei wichtigen und großen Fehlern der Einheit sollte man vielmehr anerkennen, dass Millionen von nach Veränderung strebende Menschen einfach in ein neues, nur aus dem Westfernsehen bekanntes System gesetzt wurden, ihre Wünsche und Erwartungen hingegen wurden oft übergangen. Die Folgen kommen heute in Form der tiefsitzenden Politikverdrossenheit ans Tageslicht, die sich in Sachsen und Thüringen in Gestalt einer schockierend niedrigen Wahlbeteiligung niederschlägt. Eigentlich gehört zum Gedenken an die Widervereinigung mehr Tadel als Lob: Man hat den Menschen den Willen zur Demokratie madig gemacht. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR bekamen 1990 einen neuen Pass und wurden zwischen den vollen Regalen der Supermärkte stehen gelassen. Dabei waren sie es doch, die damals den Anfang machten. Der SPD-Politiker Egon Bahr, der unter Willy Brandt die bundesdeutsche Ost-Politik nach dem Gedanken Wandel durch Annäherung entscheidend gestaltete, bekannte sieben Jahre nach der Wiedervereinigung: „Wir verdanken […] den DDR-Bewohnern die Einheit. Das ganze deutsche Volk hat nach Westen geguckt. Die Westdeutschen haben nach Westen geguckt, und die Ostdeutschen haben auch nach Westen geguckt. Die Ostdeutschen wollten die Einheit. Die Westdeutschen wollten die Einheit gar nicht. Niemand hat gedrängt.“ So kam es auch, dass man sich für die neuen Bürgerinnen und Bürger nicht einmal genug interessierte, um ihnen zu erklären, wie „Deutschland“ eigentlich funktioniert. Dass man mit dem Begriff „Solidarität“ hierzulande nichts anfangen kann, dass hier jeder für sich selbst verantwortlich ist und dass sogar das Selbstverständnis von „Deutschland“ im Westen eben ein anderes ist. Vielleicht hätte man der breiten Masse auch erklären müssen, dass Deutschland schon lange multikulturell ist. Und dass diese Tatsache nicht negativ sein muss. Die Ignoranz, die man von westdeutscher Seite den Erwartungen der Ostdeutschen – und dazu gehörte auch ein gewisser unter der Oberfläche brodelnder und von der SED-Führung verleugneter Nationalismus – entgegenbrachte, ist einer der Gründe für die Mischung aus orientierungsloser Unsicherheit, Enttäuschung und Hass, die tausende Menschen zum Beispiel in Rostock-Lichtenhagen dazu trieb, in einer pogromähnlichen Jagd ein Wohnheim für vietnamesische Asylbewerber anzugreifen. Naive Arglosigkeit und beschämendes Desinteresse von westdeutscher Seite könnten indirekt auch förderlich gewesen sein für den Nährboden, auf dem Jahre später Unkraut wie der NSU gedieh.
Der zweite der zwei großen Fehler, die im Zuge der Einheit begangen wurden, ist der fehlende Wille, sich in Konfrontation mit einem anderen System auch mit dem eigenen auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt durch die pauschale Ablehnung alles Ostdeutschen war man unfähig, von den neuen Bundesbürgern zu lernen und zu profitieren – vor allem von deren Erfahrungen, die ja andere waren als im Westen, aber auch von den (aktuellen) Errungenschaften. Die aktuellste der ostdeutschen Tugenden war der Wille zur Teilhabe an der gelebten Demokratie. Im Osten herrschte eine Aufbruchsstimmung, die den Westdeutschen eher fremd war. Während die Freiheitshungrigen begannen, sich auf dem Boden der sterbenden DDR in neuen politischen Gruppierungen zu organisieren und an Runden Tischen zusammenzukommen, scheint der Westen verglichen zur neuen ostdeutschen Dynamik überfordert und ihr gegenüber gleichgültig gewesen zu sein. Es lässt sich also zusammenfassend sagen: Das größte Versäumnis der Wende ist wohl das Unvermögen von Politik und Gesellschaft, die dynamische Bewegung im demokratisierten Ostdeutschland in die verkrusteten westdeutschen Strukturen hineinzutragen. Diese neue Dynamik hätte den Mächtigen wahrscheinlich sogar gefährlich werden können. Das an vielen Enden krankende System hat sich selbst geschützt, indem es aller anfänglicher Euphorie einen Dämpfer vorsetzte und die Bevölkerung schnell wieder an die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten erinnerte. Doch als Trost wird bis heute jenes Minimum an Errungenschaften, das aus gemeinsamer Regierung, Währung, Fußballmannschaft und bundesdeutscher Routine besteht, als erfolgreich vollzogene Einheit gefeiert – in einem derartigen Pomp und Glanz, dass die begangenen Fehler, Versäumnisse und verpassten Chancen genau dieser Einheit in den Schatten gestellt werden und ihre Berechtigung, erwähnt zu werden, verlieren. Zurück bleiben jene, die damals mehr verändern wollten als sie letztlich imstande waren und sich mit der breiten Masse in die Politikverdrossenheit zurückgezogen haben.

Doch das ist nur (m)eine Lesart. Natürlich ist der 9. November 2014 ein Tag zum Feiern. Vielleicht ist es aber nicht die Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit, die wir mit Champagner begießen sollten, sondern lediglich jener erste Schritt, der 1989 getan wurde, und auf den zu viele Schritte schlussendlich nicht mehr folgten und auch nie mehr folgen werden. Wir sollten den heutigen Tag zum Anlass nehmen, uns der doch so nötigen, aber in Vergessenheit geratenen Dynamik der Ostdeutschen zu erinnern – auch im europäischen Kontext. Denn Europa ist nicht geeint. Europa ist nicht einmal gerecht. Europa gleicht vielmehr einer riesigen bürokratischen Baustelle mit perspektivlosen jungen Menschen im Süden, stolzen Verweigerern auf den Britischen Inseln und ertrinkenden Bürgerkriegsflüchtlingen an den Außengrenzen. Männer und Frauen auf der Flucht, die vor Hunger nach persönlicher Freiheit und aus Sehnsucht nach einem besseren Leben genau dieses verlieren. Wird in 25 Jahren irgendjemand auch diesen Menschen so gedenken, wie man es heute für die Mauertoten in Berlin tut? Auch Europa hat dichte Grenzen. Demokratie ist nur ein Wort, solang man sie nicht lebt. Viel weniger noch als ein Wort. Ein Schein, eine Farce.
Heute wollen wir niemandem die Feierstunde verderben. Aber vielleicht fangen wir morgen endlich an, uns diese Gedanken zu machen. In diese Sinne: Happy Mauerfall...!