Solidarität als Begriff ist bis
heute zunehmend in Vergessenheit geraten. Dabei sprach Richard von Weizsäcker,
der damalige Bundespräsident, schon 1986 diese Worte: „Nur eine solidarische
Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein.“ – Haben wir uns diesen Satz,
in dem auch eine klare Aufforderung steckt, zu Herzen genommen?
Im
Jahre 1986 bestimmte noch der Kalte Krieg das politische Klima in Europa und Solidarität
war – mit der oben zitierten Ausnahme – vor allem im Osten ein Begriff. Die
Arbeiterbewegung beschreibt sie als „Tugend der Arbeiterklasse“, in der
sozialistischen DDR war Solidarität daher ein wichtiges Schlagwort. Nach der Wiedervereinigung
scheint mit dem Sozialismus auch das einschlägige Vokabular verschwunden zu
sein. In unseren Tagen begrenzt sich Solidarität deshalb in erster Linie auf
Finanzspritzen: Bankenrettung in Griechenland, „Solidaritätszuschlag“ an
Ostdeutschland – dies alles geschieht stets unter lautem Protest, die Geber
suhlen sich im Selbstmitleid der angeblich Betrogenen. Dabei muss Solidarität noch
viel mehr sein als Geld und finanzielle Zuwendung. Günter Grass hat einmal so
etwas Ähnliches gesagt wie: „Die Werte einer Solidargemeinschaft lassen sich
nicht an der Börse handeln.“ – Und er hatte Recht.
Doch
was ist Solidarität eigentlich? Als die Familie meines Vaters in den 1980er
Jahren aus Rumänien nach Westdeutschland übersiedelte, war Europa durch den Eisernen
Vorhang geteilt. Man bezahlte mit D-Mark und es gab auch noch die gelben
Telefonzellen, die heute fast gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden sind. In
einer solchen Telefonzelle fand einer meiner frisch in der Bundesrepublik
angekommenen Verwandten drei Mark, die dort einfach so lagen, oben über der
Telefonhalterung. Jemand hatte sie dort liegen gelassen. Ob es nun eine uneigennützige
Gabe für bargeldlose Anrufer war, aus einer guten Laune heraus, oder ob der
unbekannte Telefonbenutzer sie einfach dort vergessen hatte – eine winzige, nahezu unbedeutende Spende, die
jedoch viel bewirkt hat: Diese kleine, stets als Akt der Solidarität
interpretierte Tat ist bis heute im Gedächtnis meiner Familie geblieben, auch
nach mehr als dreißig Jahren. Daraus wird deutlich, welch große Wirkung Solidarität
haben kann, auch wenn sie im Kleinen beginnt. Etwas Ähnliches findet man in einigen
Cafés, in denen man zwei Getränke kaufen kann, aber nur eines selbst trinkt. Bedürftige
Personen können sich auf diese Weise einen heißen Drink abholen, für den eine
gute Seele schon aufgekommen ist. „Nimm eins, zahl zwei“ – kein Sonderangebot
in einer konsumgesteuerten Zeit, sondern der erste Schritt zu einer wärmeren
Gesellschaft, deren Kraft auch frierende Obdachlose im Magen spüren können.
Doch
was im Kleinen beginnt muss wachsen. Nur eine solidarische Welt kann eine
gerechte und friedvolle Welt sein. Richard von Weizsäcker starb im Jahr 2015, als
die Flüchtlingskrise ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte. Seit seiner Rede 1986
hat sich die Welt gewandelt. Sie ist nicht besser und nicht schlechter
geworden, doch sie ist mit Sicherheit nicht solidarisch. Dass selbst die, die
sich dieses Wort einst auf die Fahnen geschrieben haben, sein großes Gewicht
vergessen zu haben scheinen, zeigt auch ein Blick nach Polen: Der Elektriker
Lech Wałęsa hatte in den 1980ern aus einer Streikbewegung die Gewerkschaft Solidarność (dt. „Solidarität“) gegründet,
die mit der Unterstützung von Intellektuellen und der Kirche einen Zusammenhalt
über die Standesgrenzen hinweg schuf. Obwohl selbst aus dem Geiste des
Kommunismus entsprungen, brachte diese Solidarität das ungerechte kommunistische
Regime in Polen neun Jahre später zu Fall. Derselbe Lech Wałęsa, der einen
Friedensnobelpreis trägt, sprach sich 2015 in erschütternder Deutlichkeit gegen
die Aufnahme von Flüchtlingen aus. Aus seinen in einem Interview getätigten
Aussagen, die einen an mehreren Stellen heftig schlucken lassen, lässt sich schließen,
dass Solidarität selbst im sozialistischen Osten in erster Linie eine nationale
Angelegenheit war und bis in unsere Tage eine solche geblieben ist.
Solidarität wird auch heute
noch zu oft ausschließlich national begriffen, dabei sollte sie doch
grenzüberschreitend sein. Sowohl Länder- und Staatsgrenzen als auch Barrieren
innerhalb unserer eigenen Gesellschaft könnten durch eine Verbundenheit der
Menschen auf der untersten, menschlichen Ebene überwunden werden. Denn Solidarität
ist nichts, was von der Politik gesetzlich verordnet werden kann. Sie ist dennoch
einer von den Werten, über die alle reden, an denen es uns aber mangelt.
Solidarität als Mutter des Mitgefühls,
der Feinfühligkeit und des Respekts ist nicht nur in Notzeiten gefragt, nach
Tsunamis oder Erdbeben. Feingefühl will den Verletzten, den Missbrauchten der
Gesellschaft jeden Tag entgegengebracht werden. Mitgefühl und Verständnis
benötigen heimatlose Flüchtlinge, genauso wie die Diskriminierten, die
hierzulande noch immer leiden müssen, weil sie anders sind. Die Bedingung für
ein solidarisches Miteinander ist der Respekt. Doch er fehlt so oft, wenn wir
Debatten über die Köpfe derjenigen hinweg führen, die eigentlich am meisten
betroffen sind und die dennoch kaum zu Wort kommen. Solidarität muss im Zentrum
der Gesellschaft verwurzelt sein, doch hier verläuft jene Kluft, welche sich in
diesen stürmischen Tagen immer weiter vor uns und zwischen uns auftut. Wir müssen heute dringender als irgendwann
zuvor im kleinen Rahmen wieder lernen, was wir im Großen umsetzen sollten: Das „Wir“
entdecken, ohne das „Andere“ auszustoßen. Das Boot, in dem wir alle sitzen, beginnt
nur dann zu sinken, wenn wir uns gegenseitig zerfleischen. Solidarität ist keine
harte Arbeit und sie muss auch nicht teuer sein. Sie ist eine Frage des Willens
und des Loslassens all der Einwände, die uns und anderen noch das Leben schwer
machen. Und sie ist für jede Gesellschaft überlebenswichtig.