Mittwoch, 23. September 2015

Momentaufnahme dreiundzwanzigster September

Wir leben schon in turbulenten Zeiten. Die Amerikaner wollen ein paar nagelneue Atomwaffen in Rheinland-Pfalz stationieren. Wieso eigentlich? Der Flüchtlingsstrom hält derweil an. Doch statt über eine Lösung der Syrienkrise nachzudenken, lässt die NATO ihre Eurofighter voll bewaffnet in Estland rumfliegen und wartet auf die Russen. Die aber werden nicht kommen, denn Putin ist gerade damit beschäftigt, seine Soldaten in Damaskus um Assad herum zu positionieren – leider zielen sie in die falsche Richtung. Währenddessen holt Innenminister de Maizière pensionierte Beamte zurück, um Asylanträge zu bearbeiten, obwohl bestimmt irgendwo in Deutschland noch genügend Beamten aufzutreiben wären, die zu wenig zu tun haben. Drittklassige Lösungen für ein Problem, das sowieso keine Priorität hat. Der Innenminister hält es für wichtiger, am europäischen Asylrecht rumzudoktern und der Pöbel hat endlich die Möglichkeit, die Angst vor unsicheren Straßen, fiktiver Islamisierung und Flüchtlingen in einen Topf zu werfen. Zur selben Zeit bedrohen Pegida-Anhänger Kinder in Dresden („Euch kriegen wir auch noch!“), weil sie die Teilnehmer des „Schultheaters der Länder“ für eine Gegendemonstration hielten. Demonstriert wird tatsächlich, nämlich wo zurzeit der Konflikt zwischen Kurden und Türken eskaliert. Türkisch-deutsche Online-Zeitungen, die ich eigentlich gerne lese, schießen gegen die (zu Recht oder zu Unrecht noch verbotene) PKK und für Erdoğan, kurdische Online-Quellen versuchen unterdessen nachzuweisen, dass Osama Abdul Mohsen („der Flüchtling, dem ein Bein gestellt wurde“) in Wirklichkeit ein Radikaler der al-Nusra-Front ist. Es geht drunter und drüber. Und immer mehr Menschen freunden sich wieder mit den simplen Weltsichten und einfachen Lösungen an, die wir hierzulande in einem jahrhundertelangen, äußerst schmerzhaften Prozess eigentlich zum großen Teil überwunden haben sollten. Aber ist es die Aufregung wert? Wahrscheinlich geht das Abendland sowieso unter – jetzt wo auch VW dem Untergang näher ist denn je…

Sonntag, 20. September 2015

Lech Wałęsa und die Flüchtlinge

Während in Europa die große Schlacht um die Quote tobt, traf eine Gruppe israelischer Journalisten kürzlich den großen Lech Wałęsa. Der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Staatspräsident Polens organisierte den politischen Wandel seines Landes nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, er verkörpert mit seiner Gewerkschaft Solidarność den demokratischen Aufbruch des Ostens. Was er aber über die aktuelle Situation Europas sagt, könnte die Zuhörenden wahrhaft ins Grübeln bringen.
Wałęsa äußert Verständnis für die ablehnende Haltung seiner Mitbürger gegen syrische Flüchtlinge: „Ich verstehe, weshalb Polen und Europa ihren Zustrom fürchten. Sie kommen von Orten, an denen Menschen enthauptet werden. Wir machen uns Sorgen, dass dasselbe auch uns zustoßen wird“, sagte er der Jerusalem Post. Der ehemalige Präsident hat Angst davor, dass Muslime anfangen könnten, Europäer zu köpfen. Genau davor hatte uns schon Pegida gewarnt, wenn wir uns an die aufreibenden Tage des letzten Dezember und Januar erinnern. Wałęsa hat eine sehr plausible Erklärung: „Wir in Polen haben kleine Wohnungen, niedrige Löhne und magere Renten. Als ich die Flüchtlinge im Fernsehen sah habe ich bemerkt, dass sie besser aussehen als wir. Sie sind gut genährt, gut angezogen und vielleicht sind sie sogar reicher als wir.“

(Reuters, 2015)

Was Wałęsa da sagt, erinnert ziemlich arg an die Facebook-Propaganda der „besorgten Bürger“, die sich regelmäßig auch davon entsetzt zeigen, dass syrische Flüchtlinge durchaus mit Smartphones umzugehen wissen. Doch natürlich zeigt er sich an manchen Stellen auch verständnisvoll für die Flüchtlinge, vor allem in Hinblick auf die Geschichte seines eigenen Volkes: „Ich verstehe sie. Wir Polen waren auch Immigranten und Flüchtlinge während des Kommunismus.“ Aber irgendwie war das dann doch etwas ganz anderes: „Wo immer wir hinkamen, haben wir die örtliche Kultur und die Gesetze geachtet. Diese Einwanderer sind anders. Sogar in der zweiten oder dritten Generation – schauen Sie sich z.B. Frankreich an – wenden sich jene, die gute Bildung genossen und Geld verdient haben, dennoch gegen ihre Gastländer.“
Mit Aussagen wie diesen dürfte Wałęsa den meisten Pegida-Sympathisanten – und eigentlich dem ganzen Osten Europas – aus dem Herzen sprechen. Dabei heroisiert er den osteuropäischen Freiheitskampf auch ein wenig: „Das kommunistische Regime hatte mir angeboten Polen zu verlassen und ein Flüchtling zu werden. Ich habe abgelehnt. Ich bin geblieben um für das zu kämpfen, an was ich geglaubt habe.“ Es ist immer richtig und ehrenhaft, für seine Überzeugungen einzustehen. Doch trotzdem dürfte es schwierig werden, das Polen der 1980er Jahre mit Syrien 2015 zu vergleichen. In Polen gab es – ebenso wie in der DDR – keinen Bürgerkrieg, Aleppo und Damaskus lassen sich heute eher mit dem Warschau von 1945 vergleichen als mit jenem des Jahres 1989. Außerdem dürfte es den meisten Syrern schwer fallen, in diesem unübersichtlichen Bürgerkrieg, in der Realität von heute, auf der richtigen Seite wiederzufinden. In Deutschland wagen es nur die Pegida-Spaziergänger und die NPD, die Frage zu stellen, wieso diese ganzen jungen Männer nicht in ihrer Heimat geblieben sind und kämpfen. Doch anders als der Gewerkschafter Wałęsa wissen die jungen Syrer eben nicht, in welcher Armee oder Miliz sie für ein demokratisches Syrien kämpfen sollen. Während die Welt größtenteils nur zusieht, geraten diese Menschen – egal ob sie vor dem Krieg an der Universität in Damaskus studierten oder in einem kleinen Laden auf dem Basar von Aleppo arbeiteten – zwischen die Fronten. Währenddessen strömen Marokkaner, Saudis und europäische Islamisten zum IS, versorgen Quellen aus der Türkei die Terroristen mit Waffen. Währenddessen unterstützt der Iran die Hizbollah und Deutschland die Peschmerga. Die Russen haben ihre Soldaten rund um Assad platziert, zielen aber in die falsche Richtung, und die Amerikaner sind nach ihrem Irak-Debakel meilenweit davon entfernt, noch aktiver als bisher in dieses Chaos einzugreifen. Erdoğan bombardiert PKK und Peschmerga gleichermaßen, nur will das keiner so wirklich laut sagen. Israel beobachtet, der Libanon schweigt und nimmt Millionen Flüchtlinge auf, die ganze Welt aber schaut im besten Fall zu – im schlechtesten hat sie ihre Finger mit im Spiel. Nein, Herr Wałęsa, diese Menschen könnten nicht für ihre Überzeugungen kämpfen, selbst wenn sie es wollten. Und deswegen kommen sie zu uns.


Das weiß der polnische Politiker selbst. „Es ist wahr, dass ein Teil der neuen Flüchtlinge und Immigranten flieht, weil sie um ihr Leben fürchten.“ Als Nachsatz fügt er natürlich hinzu: „Aber viele wandern auch ein um ihren Lebensstandard und ihre Lebensqualität zu verbessern.“ Okay, aber was machen eigentlich die Millionen Polen, die seit über 100 Jahren in die USA (v.a. 1870-1914), nach Deutschland (ab 1880) und nach Großbritannien (seit 2004) ausgewandert sind? Waren diese Menschen etwa nicht auf der Suche nach einer Verbesserung ihrer Lebensqualität? Und haben diese Menschen etwa nicht auch ihr Brauchtum gepflegt? Polnische Hochzeiten in Chicago waren vor einigen Jahrzehnten auch noch laut und haben den ganzen Tag in Anspruch genommen, Polen haben auch Kirchen gebaut, wenn sie wo hinkamen wo es für sie noch keine Kirche gab. Auch die Polen haben Amerika mit einem ethnischen Volksfest bereichert und so manche Straßenzeile um einen oder zwei oder auch zehn Metzgereien. Auch die Polen haben ihre Identität nicht bei der Einreise abgegeben.
Doch Wałęsa erklärt die Welt simpel und einfach, in wenigen Worten. „Es ist ein Problem. Wenn Europa seine Tore öffnet, werden bald Millionen durchkommen und anfangen, unter uns ihre eigenen Bräuche zu praktizieren, inklusive Enthauptungen.“ Was hat er nur mit diesen Enthauptungen? Sind die nicht eigentlich auch ein Grund, weshalb so viele Syrer fliehen? Leider scheint der polnische Altpräsident nicht zu erkennen, dass es für die Probleme unserer Zeit keine einfachen Lösungen, keine einfachen Antworten gibt. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß, nicht gut oder böse. Und es gibt nicht nur das christliche Abendland und die unzivilisierten Muslime. Es gibt nur eine einzige, riesige Grauzone, aus der man irgendwie seinen Weg heraus bahnen muss. Und Abschottung ist der Weg für all die, die gerne eine einfache Welt hätten, in der man nicht mehr kämpfen, sondern nur noch am lautesten schreien muss.