Wir leben
schon in turbulenten Zeiten. Die Amerikaner wollen ein paar nagelneue
Atomwaffen in Rheinland-Pfalz stationieren. Wieso eigentlich? Der
Flüchtlingsstrom hält derweil an. Doch statt über eine Lösung der Syrienkrise
nachzudenken, lässt die NATO ihre Eurofighter voll bewaffnet in Estland
rumfliegen und wartet auf die Russen. Die aber werden nicht kommen, denn Putin
ist gerade damit beschäftigt, seine Soldaten in Damaskus um Assad herum zu
positionieren – leider zielen sie in die falsche Richtung. Währenddessen holt
Innenminister de Maizière pensionierte Beamte zurück, um Asylanträge zu
bearbeiten, obwohl bestimmt irgendwo in Deutschland noch genügend Beamten aufzutreiben
wären, die zu wenig zu tun haben. Drittklassige Lösungen für ein Problem, das
sowieso keine Priorität hat. Der Innenminister hält es für wichtiger, am
europäischen Asylrecht rumzudoktern und der Pöbel hat endlich die Möglichkeit,
die Angst vor unsicheren Straßen, fiktiver Islamisierung und Flüchtlingen in
einen Topf zu werfen. Zur selben Zeit bedrohen Pegida-Anhänger Kinder in
Dresden („Euch kriegen wir auch noch!“), weil sie die Teilnehmer des „Schultheaters
der Länder“ für eine Gegendemonstration hielten. Demonstriert wird tatsächlich,
nämlich wo zurzeit der Konflikt zwischen Kurden und Türken eskaliert. Türkisch-deutsche
Online-Zeitungen, die ich eigentlich gerne lese, schießen gegen die (zu Recht oder
zu Unrecht noch verbotene) PKK und für Erdoğan, kurdische Online-Quellen
versuchen unterdessen nachzuweisen, dass Osama Abdul Mohsen („der Flüchtling,
dem ein Bein gestellt wurde“) in Wirklichkeit ein Radikaler der al-Nusra-Front
ist. Es geht drunter und drüber. Und immer mehr Menschen freunden sich wieder mit
den simplen Weltsichten und einfachen Lösungen an, die wir hierzulande in einem
jahrhundertelangen, äußerst schmerzhaften Prozess eigentlich zum großen Teil überwunden
haben sollten. Aber ist es die Aufregung wert? Wahrscheinlich geht das
Abendland sowieso unter – jetzt wo auch VW dem Untergang näher ist denn je…
Herzlich Willkommen auf meinem Blog! Reiseberichte und Kommentare zu Politik und Gesellschaft.
Mittwoch, 23. September 2015
Sonntag, 20. September 2015
Lech Wałęsa und die Flüchtlinge
Während in Europa die große Schlacht um die
Quote tobt, traf eine Gruppe israelischer Journalisten kürzlich den großen Lech
Wałęsa. Der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Staatspräsident Polens
organisierte den politischen Wandel seines Landes nach dem Zusammenbruch des Kommunismus,
er verkörpert mit seiner Gewerkschaft Solidarność
den demokratischen Aufbruch des Ostens. Was er aber über die aktuelle Situation
Europas sagt, könnte die Zuhörenden wahrhaft ins Grübeln bringen.
Wałęsa
äußert Verständnis für die ablehnende Haltung seiner Mitbürger gegen syrische
Flüchtlinge: „Ich verstehe, weshalb Polen und Europa ihren Zustrom fürchten.
Sie kommen von Orten, an denen Menschen enthauptet werden. Wir machen uns
Sorgen, dass dasselbe auch uns zustoßen wird“, sagte er der Jerusalem
Post. Der ehemalige Präsident hat Angst davor, dass Muslime anfangen könnten,
Europäer zu köpfen. Genau davor hatte uns schon Pegida gewarnt, wenn wir uns an
die aufreibenden Tage des letzten Dezember und Januar erinnern. Wałęsa hat eine
sehr plausible Erklärung: „Wir in Polen haben kleine Wohnungen, niedrige Löhne
und magere Renten. Als ich die Flüchtlinge im Fernsehen sah habe ich bemerkt,
dass sie besser aussehen als wir. Sie sind gut genährt, gut angezogen und
vielleicht sind sie sogar reicher als wir.“
(Reuters, 2015) |
Was Wałęsa
da sagt, erinnert ziemlich arg an die Facebook-Propaganda der „besorgten Bürger“,
die sich regelmäßig auch davon entsetzt zeigen, dass syrische Flüchtlinge
durchaus mit Smartphones umzugehen wissen. Doch natürlich zeigt er sich an
manchen Stellen auch verständnisvoll für die Flüchtlinge, vor allem in Hinblick
auf die Geschichte seines eigenen Volkes: „Ich verstehe sie. Wir Polen waren
auch Immigranten und Flüchtlinge während des Kommunismus.“ Aber irgendwie war
das dann doch etwas ganz anderes: „Wo immer wir hinkamen, haben wir die örtliche
Kultur und die Gesetze geachtet. Diese Einwanderer sind anders. Sogar in der
zweiten oder dritten Generation – schauen Sie sich z.B. Frankreich an – wenden
sich jene, die gute Bildung genossen und Geld verdient haben, dennoch gegen
ihre Gastländer.“
Mit Aussagen
wie diesen dürfte Wałęsa den meisten Pegida-Sympathisanten – und eigentlich dem
ganzen Osten Europas – aus dem Herzen sprechen. Dabei heroisiert er den
osteuropäischen Freiheitskampf auch ein wenig: „Das kommunistische Regime hatte
mir angeboten Polen zu verlassen und ein Flüchtling zu werden. Ich habe
abgelehnt. Ich bin geblieben um für das zu kämpfen, an was ich geglaubt habe.“ Es
ist immer richtig und ehrenhaft, für seine Überzeugungen einzustehen. Doch trotzdem
dürfte es schwierig werden, das Polen der 1980er Jahre mit Syrien 2015 zu
vergleichen. In Polen gab es – ebenso wie in der DDR – keinen Bürgerkrieg,
Aleppo und Damaskus lassen sich heute eher mit dem Warschau von 1945
vergleichen als mit jenem des Jahres 1989. Außerdem dürfte es den meisten
Syrern schwer fallen, in diesem unübersichtlichen Bürgerkrieg, in der Realität
von heute, auf der richtigen Seite wiederzufinden. In Deutschland wagen es nur
die Pegida-Spaziergänger und die NPD, die Frage zu stellen, wieso diese ganzen
jungen Männer nicht in ihrer Heimat geblieben sind und kämpfen. Doch anders als
der Gewerkschafter Wałęsa wissen die jungen Syrer eben nicht, in welcher Armee
oder Miliz sie für ein demokratisches Syrien kämpfen sollen. Während die Welt größtenteils
nur zusieht, geraten diese Menschen – egal ob sie vor dem Krieg an der
Universität in Damaskus studierten oder in einem kleinen Laden auf dem Basar
von Aleppo arbeiteten – zwischen die Fronten. Währenddessen strömen Marokkaner,
Saudis und europäische Islamisten zum IS, versorgen Quellen aus der Türkei die
Terroristen mit Waffen. Währenddessen unterstützt der Iran die Hizbollah und
Deutschland die Peschmerga. Die Russen haben ihre Soldaten rund um Assad
platziert, zielen aber in die falsche Richtung, und die Amerikaner sind nach
ihrem Irak-Debakel meilenweit davon entfernt, noch aktiver als bisher in dieses
Chaos einzugreifen. Erdoğan bombardiert PKK und Peschmerga gleichermaßen, nur
will das keiner so wirklich laut sagen. Israel beobachtet, der Libanon schweigt
und nimmt Millionen Flüchtlinge auf, die ganze Welt aber schaut im besten Fall
zu – im schlechtesten hat sie ihre Finger mit im Spiel. Nein, Herr Wałęsa,
diese Menschen könnten nicht für ihre Überzeugungen kämpfen, selbst wenn sie es
wollten. Und deswegen kommen sie zu uns.
Das weiß der
polnische Politiker selbst. „Es ist wahr, dass ein Teil der neuen Flüchtlinge
und Immigranten flieht, weil sie um ihr Leben fürchten.“ Als Nachsatz fügt er natürlich
hinzu: „Aber viele wandern auch ein um ihren Lebensstandard und ihre
Lebensqualität zu verbessern.“ Okay, aber was machen eigentlich die Millionen
Polen, die seit über 100 Jahren in die USA (v.a. 1870-1914), nach Deutschland (ab 1880) und
nach Großbritannien (seit 2004) ausgewandert sind? Waren diese Menschen etwa
nicht auf der Suche nach einer Verbesserung ihrer Lebensqualität? Und haben
diese Menschen etwa nicht auch ihr Brauchtum gepflegt? Polnische Hochzeiten in
Chicago waren vor einigen Jahrzehnten auch noch laut und haben den ganzen Tag
in Anspruch genommen, Polen haben auch Kirchen gebaut, wenn sie wo hinkamen wo
es für sie noch keine Kirche gab. Auch die Polen haben Amerika mit einem
ethnischen Volksfest bereichert und so manche Straßenzeile um einen oder zwei
oder auch zehn Metzgereien. Auch die Polen haben ihre Identität nicht bei der
Einreise abgegeben.
Doch Wałęsa erklärt
die Welt simpel und einfach, in wenigen Worten. „Es ist ein Problem. Wenn
Europa seine Tore öffnet, werden bald Millionen durchkommen und anfangen, unter
uns ihre eigenen Bräuche zu praktizieren, inklusive Enthauptungen.“ Was hat er
nur mit diesen Enthauptungen? Sind die nicht eigentlich auch ein Grund, weshalb
so viele Syrer fliehen? Leider scheint der polnische Altpräsident nicht zu
erkennen, dass es für die Probleme unserer Zeit keine einfachen Lösungen, keine
einfachen Antworten gibt. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß, nicht gut oder
böse. Und es gibt nicht nur das christliche Abendland und die unzivilisierten Muslime.
Es gibt nur eine einzige, riesige Grauzone, aus der man irgendwie seinen Weg
heraus bahnen muss. Und Abschottung ist der Weg für all die, die gerne eine
einfache Welt hätten, in der man nicht mehr kämpfen, sondern nur noch am
lautesten schreien muss.
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