Samstag, 28. September 2013

Die einzige Errungenschaft der FDP

Deutschland hat gewählt, die Koalitionsverhandlungen laufen. Es gab eine überragende Gewinnerin und ein paar Verlierer. Für die FDP war das Ergebnis der letzten Bundestagswahl allerdings ein Desaster. Die Folge von fehlgeleiteter Parteipolitik und einem enormen Vertrauensverlust in die Führungsspitze ist gravierend: In der neuen Legislaturperiode werden die Liberalen zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht mehr im Bundestag vertreten sein. Ganze 95,2% der Wählerinnen und Wähler haben ihr Kreuzchen nicht bei der FDP gemacht – infolgedessen werden die meisten von ihnen die Partei auch nicht sonderlich vermissen.

Szenenwechsel. Am 22. August 2013 legte der NSU-Untersuchungsausschuss seinen Abschlussbericht vor. Im Januar letzten Jahres war das Gremium unter Vorsitz des Abgeordneten Sebastian Edathy (SPD) einberufen worden, um seinen Beitrag zur gründlichen und zügigen Aufklärung der Taten der Terrorgruppe zu leisten. Schlussfolgerungen für die Qualifizierung der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden und für eine effektive Bekämpfung des Rechtsextremismus sollten gezogen und Empfehlungen ausgesprochen werden. Elf Abgeordnete des 17. Deutschen Bundestages arbeiteten parteiübergreifend zusammen und setzten sich mit den Versäumnissen aufseiten der bundesdeutschen Behörden zusammen. Nach 16 Monaten voller Zeugenanhörungen lag ein Bericht vor, der über 1.300 Seiten füllte. Das Ergebnis war erschreckend: Der Vorsitzende Edathy sprach von einem „historisch beispiellosen Behördenversagen“. Was noch schlimmer ist: Der Ausschuss hatte im Laufe seiner Untersuchungen mit erheblichen Widrigkeiten, Vertuschungen und Urkundenunterdrückungen zu kämpfen.

Mitglied dieses Ausschusses war auch Hartfrid Wolff von der FDP, der diese Aufgabe mit unübersehbarem Ernst wahrnahm und auch die 250 Seiten starke FDP-Stellungnahme unterzeichnete. Das Fazit bescheinigt den Sicherheitsbehörden ein mangelhaftes Zeugnis. Sowohl im FDP-Bericht als in einigen anderen Stellungnahmen betonte Wolff, dass es immer noch mehr Fragen als Antworten gebe. Doch der Ausschuss hat seine Untersuchungen mit dem Abschlussbericht offiziell abgeschlossen.
Manche mögen die Arbeit des Untersuchungsausschusses vielleicht als beendet ansehen, aber Wolff tut das nicht. Nach Veröffentlichung des Berichts sagte er: „Überall geht die Aufklärung weiter, nur der Ausschuss des Deutschen Bundestages will seine Arbeit beenden – das kann nicht sein und dafür werde ich auch weiter kämpfen.“

Aus Sicht der FDP ist die Aufklärung der Missstände und Behördenversagens noch nicht abgeschlossen. Es ist jedoch fraglich, ob der NSU-Untersuchungsausschuss im nächsten Bundestag fortgeführt wird. Die FDP wird in der kommenden Legislaturperiode nicht mehr vertreten sein. Selbst wenn man den Liberalen politisch in den letzten Jahren kaum etwas abgewinnen konnte – hier werden sie sicherlich fehlen. Wenn es auch nur eine einzige Sache gibt, die man der FDP zu Gute halten sollte, dann ist es die Vehemenz, mit der sie im Namen der Gerechtigkeit die politische Aufarbeitung der NSU-Mordserie vorangetrieben hat.

„Wir plädieren dafür, nach der Bundestagswahl wieder einen Untersuchungs-
ausschuss zur NSU-Mordserie einzusetzen.“ (Foto: Homepage der FDP-Fraktion)

Freitag, 13. September 2013

Gefühlsduseliges Internet

Macht man morgens seinen Email-Postkasten auf, erwarten einen schon freudige Nachrichten. Man hat meistens bei etwas gewonnen, bei dem man gar nicht mitgespielt hat. Wie angenehm! Und man trifft so viele nette andere Menschen. Ein Mr. Morrison schreibt mich mit Dear Friend an, erbittet meine persönlichen Daten und verspricht, dass ich am Schluss reicher sein werde als zuvor. Und ein Verlag, von dem ich früher eine deutsch-französische Zeitschrift bezogen habe, fragt mich besorgt: „Wie sieht es mit Ihrer Grammatik aus, Herr M***?“ (Es gab auch schon dynamischere Ansätze… „Vokabeln direkt ins Hirn, Herr M***!“, zum Beispiel.) Sogar Facebook fragt nicht mehr nur „Was machst Du gerade?“, sondern will neuerdings auch wissen, was ich fühle. Alle sorgen sich um mich. Gut zu wissen. Da kauft man doch gern ein bisschen mehr als nötig.
Nur der böse NSA sitzt vor seinem PC und lacht sich schlapp angesichts dieses virtuellen Kasperletheaters. Und Recht hat er…


Dieses gefühlsduselige, personalisierte Internet macht einen noch ganz meschugge…


Mittwoch, 11. September 2013

Die Qual der Bundestagswahl 2013

Die Einstellung des SPD-Spitzenkandidaten Peer Steinbrück gleicht einer Mischung aus Mut, Wahnsinn und bewundernswertem Optimismus, denn dieser Mann will Kanzler werden. Ohne Große Koalition und auch ohne Rot-Rot-Grün. Lange wussten die Umfragewerte etwas ganz anderes zu berichten, doch zwei Wochen vor der Wahl hat Steinbrück bei der Frage, welchen Kanzler bzw. welche Kanzlerin sich die Deutschen wünschen würden, ordentlich zugelegt und die 35-Prozent-Marke geknackt. Währenddessen verliert Angela Merkel ein paar Punkte – um genau zu sein: zwei – und findet sich nun bei 50 Prozent wieder, immer noch weit vor ihrem Herausforderer.
Der Wahlkampf, der dieses Jahr nicht heftiger geführt wurde als sonst auch, spitzt sich langsam aber sicher zu. Wir haben dutzende von Interviews gesehen und gelesen, mussten ein Kanzlerduell über uns ergehen lassen und durften anderntags die Spitzenkandidaten aller dritt- oder schlechter platzierten Parteien anhören. Und dennoch bleibt eine der bedeutendsten Fragen bestehen, mit denen sich der oder die deutsche/r Bundesbürger_In dieser Tage konfrontieren muss:
Was, wen und um Himmels Willen warum soll ich im September wählen? (Hilfe)

Grund genug um einmal den Rundumschlag an Informationen einzukassieren. Inhalte sind gefragt! Was sind die zentralen Themen des Wahlkampfes und worin besteht eigentlich der Unterschied? Lohnen die gefühlt wenigen Differenzen überhaupt, etwas anderes zu wählen – oder überhaupt eine Stimme abzugeben?

„Stillstand“

Ein Hauptargument der Herausforderer in diesem Wahlkampf ist die Tatsache, dass sich angeblich nichts tut in Deutschland. Es gebe keine Veränderung, keine Verbesserungen. Franz Müntefering (SPD) bringt im Interview mit der ZEIT zum Ausdruck, an was es vor allem der deutschen Politik momentan fehlt: „Wenn man nicht mehr die Leidenschaft hat, Dinge zu verändern, wenn man nichts mehr will, sondern nur verwaltet, dann muss man besser aufhören. Leider ist das im Moment der Zustand in der deutschen Politik. Da ist keine Perspektive, keine Vision von dem, was eigentlich passieren muss.“ Und dies werfe er vor allem der Kanzlerin vor, sagt Müntefering.

Im TV-Kanzlerduell musste sich Bundeskanzlerin Angela Merkel von Herausforderer Steinbrück anhören, die amtierende Regierung hätte nichts erreicht. Steinbrück nahm vor allem den sozialen Bereich als Angriffsfeld wahr. Obwohl 2011 das „Jahr der Pflege“ ausgerufen worden sei, hätte sich in der Branche nichts positiv verändert. Doch Merkel verweist auf die vielen Gesetze, die unter ihrer Regierung verabschiedet worden waren: Der Demenz-Begriff zum Beispiel sei schon längst in das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz mit eingenommen worden.
Steinbrück und auch seinen Bündnispartnern ist das deutlich zu wenig. Auch die linke Ver.di-Zeitschrift „Publik“ schreibt, dass zu wenig getan wurde, vor allem für den kleinen Mann. Aufstockung und Altersarmut als Bedrohungen im Alltag – während die schwarz-gelbe Koalition keinen Handlungsbedarf sehe, bliebe Steuerungerechtigkeit bestehen. Ein stark unterfinanziertes Bildungssystem, marode öffentliche Infrastruktur, Defizite bei der Versorgung Pflegebedürftiger.
Auch die Grünen sehen vor allem Aufholbedarf bei Infrastruktur, Familien und Bildung. Angela Merkel erweckt zwar bisweilen den Anschein, ihnen wichtige Wahlkampfthemen geklaut zu haben – der Atomausstieg ist in vollem Gange, die Homo-Ehe ist auf dem Weg, über den Mindestlohn wird geredet – doch der Schein trügt! So zumindest die Meinung der Grünen. Die Kanzlerin widmet sich den meisten Themen nur widerwillig oder ganz einfach weil sie es muss. Zum Atomausstieg sei sie durch die Geschehnisse in Fukushima gedrängt worden, kurz nachdem sie die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke durchgebracht hatte. Der gesetzliche Mindestlohn werde bisher genauso verhindert wie z.B. die Mietpreisbremse. Und was die Homo-Ehe angeht, musste die Regierung ganze acht Mal vom Bundesverfassungsgericht zu Fortschritten gezwungen werden. Es werde viel geredet, aber nur wenig getan. Der Eindruck einer mehr verwaltenden als regierenden Kanzlerin – zumindest was die innerdeutschen Angelegenheiten angeht – hat sich bei den Wählerinnen und Wählern festgesetzt.

Aus Perspektive der Bundesregierung sieht die Lage bedeutend anders aus. Deutschland sei in den letzten zehn Jahren ein gutes Stück vorangekommen, sagt Merkel. Sie verschiebt den Fokus vor allem auf die Wirtschaft. Man habe im Übrigen auch von Schröders Agenda 2010 einiges mitgetragen und in der Großen Koalition z.B. die Rente mit 67 beschlossen, um auf die gestiegene Lebenserwartung zu reagieren – was ja grundsätzlich eine sehr positive Entwicklung sei. Sie bemerkt zudem, dass „die sozialen Sicherungssysteme Rente, Pflege und Gesundheit […] wegen der erfreulichen Beschäftigungslage zurzeit recht gut“ dastünden. Merkel hat jedoch erkannt, dass sich mit der Alterung der Gesellschaft neue Probleme ergeben werden: In unserem Land gäbe es „bis 2025 rund sechs Millionen Arbeitskräfte weniger“ als heute. Man müsse reagieren und z.B. Uni-Vorkenntnisse von Studienabbrechern in einer Ausbildung berücksichtigen. Dies reiche jedoch nicht, gesteht sie ein. Deshalb hätte die Bundesregierung die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse vorangetrieben, was zehntausenden in Deutschland lebenden Migranten zugutekommen würde. Europa bräuchte nicht nur einen Binnenmarkt, „sondern in Zukunft einen gemeinsamen Arbeitsmarkt“.

Arbeit

Peer Steinbrück zeigt sich als Vertreter der sozialdemokratischen Ur-Werte: „Ich will Kanzler eines Landes sein, in dem jeder, der Vollzeit arbeitet, auch davon leben kann.“ Dies sei im Moment nicht der Fall – ein gutes Argument. Doch es kommt auf die Perspektive an, auf die Art und Weise, wie man die Zahlen liest. Die Bundeskanzlerin zieht ein sehr positives Fazit der letzten vier Jahre. Die Arbeitslosenzahlen seien von fünf Millionen auf weniger als drei Millionen gesunken. Die Regierung wolle aber „noch mehr Menschen in Beschäftigung bringen, faire Beschäftigung….“ Was ist faire Beschäftigung? Merkel meint, man sei bei der Leiharbeit ein gutes Stück vorangekommen. „Für diesen Bereich bedeutet der tarifliche Mindestlohn einen echten Fortschritt.“ Es gehe insgesamt fairer zu auf dem Arbeitsmarkt. Auch was die Managergehälter angeht, sei man nicht komplett untätig gewesen und habe bei der Festlegung der Vorstandsvergütung den Aktionärshauptversammlungen mehr Verantwortung gegeben. „Das ist nicht mehr nur den Aufsichtsräten überlassen.“ Nur der Bundesrat müsse das Gesetz noch verifizieren.

Mit ihrem Wahlkampfthema Nr. 1 scheint sich die Bundeskanzlerin auf gesichertem Terrain zu bewegen. „Sichere Arbeit“ ist der Wahlkampfslogan, drei Millionen minus X die Referenz. Die Gewerkschaften haben andere Zahlen vorliegen. Ver.di macht Wahlkampf in seinem Sprachrohr „Publik“ und klagt an: „In unserem Land ist manches aus den Fugen geraten“, heißt es da. „Weil der geringe Verdienst zum Leben nicht reicht, müssen hunderttausende Beschäftigte in Deutschland zusätzlich staatliche Hilfe beantragen. Allein in den fünf Jahren zwischen 2005 und 2010 hat der Staat 50 Milliarden Euro für die Aufstockung der Niedriglöhne gezahlt, wie aus Zahlen des Bundesarbeitsministeriums hervorgeht.“ Das Blatt weist berechtigterweise auch darauf hin, dass aus Lohnarmut irgendwann Altersarmut wird, beschimpft die Bundesrepublik jedoch auch als Steueroase – ein wenig hoch gegriffen.

An dieser Stelle kollidieren die Weltbilder: „Arbeit um jeden Preis“ gegen „drohende Altersarmut“. Die Zahlen lassen sich unterschiedlich deuten. Am Ende scheint sich der Wähler auf sein Bauchgefühl verlassen zu müssen und die Partei zu wählen, die mehr Vertrauen schafft.

Europa und sein Geld

Europa und der Euro sind auch in diesem Wahlkampf ein zentraler Themenblock. Doch wie kann man die Europapolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel bewerten? Zu Beginn der Euro-Krise hat die Kanzlerin ihre eiserne Haltung konsequent durchgezogen. Ohne ihre Unnachgiebigkeit hätten überfällige Reformen in den südeuropäischen Staaten wohl nie begonnen. Mark Schieritz, Wirtschaftsredakteur der ZEIT, ist jedoch auch der Meinung, dass die Kanzlerin selbst Mitschuld daran trage, dass aus der „griechischen Misere ein Flächenbrand“ werden konnte. Mit ihren harten Sparauflagen habe sie die Wirtschaft in Griechenland erdrückt. Die Drohung, Schuldenstaaten im Notfall aus der Euro-Zone auszuschließen, hätte dazu geführt, dass internationale Investoren ihr Kapital aus betroffenen Ländern abgezogen hätten. Kredite wurden teuer und die Talfahrt begann. Wie sehr die europäische Wirtschaft an Zusagen und Versprechen hängt, zeigt auch die jüngste Verbesserung der Lage: Die Panik an den Finanzmärkten sei beendet worden, als Notenbankpräsident Mario Draghi versichert hatte, die Währungsunion um jeden Preis vor dem Zerfall zu bewahren. Dieser Politikwechsel wird von der Kanzlerin mitgetragen, obwohl sich ihre Rhetorik kaum verändert hätte, so der Wirtschaftsexperte Schieritz. Für die Zukunft prophezeit er, dass die Deutschen irgendwann wissen wollten, für was ihre Kanzlerin steht – eine berechtigte Forderung in Zeiten, wo es manchmal einfacher ist, sein Fähnchen in den Wind zu hängen.

Beim Thema Euro treffen wir auf die „Alternative für Deutschland“ (AfD), die mit dem ungeliebten, für viele Nostalgiker immer noch neuen Geld nichts anfangen können und einer „alternativlosen“ Politik trotzen wollen. Mit Wirtschaftsprofessoren und einer handvoll Experten appellieren sie an die Vernunft der Deutschen. Das Wahlprogramm der Partei, die um eine Koalition mit der CDU buhlt, hat noch mehr zu bieten als die Euro-Krise. Doch Europa ist das Hauptanliegen. Mehr Demokratie bei wichtigen Entscheidungen, Volksabstimmungen auf Bundesebene – Deutschland soll souverän bleiben und seine eigene Stimme schützen. Zwar will sich die AfD nicht in die rechtsextreme Ecke drängen lassen und empfindet Vergleiche mit der NPD „lächerlich“, doch Beobachter sehen durchaus Parallelen zur Rhetorik rechtspopulistischer Parteien. Alles in allem wird man die „Alternative“ wohl rechts von der CDU im Bundestag platzieren müssen – sollte es soweit kommen.

Unterdessen meldet sich Angela Merkel im FOCUS zur Euro-Krise zu Wort und sagt, man sei ein gutes Stück vorangekommen. „Den Investoren in aller Welt ist klar geworden, dass die Euro-Zone zum Euro steht. Es war richtig, dass die Bundesregierung seit Beginn der Staatsschuldenkrise konsequent auf eine Stabilitätsunion und nicht auf eine Schuldenunion gesetzt hat.“ Außerdem definiert sie das Bild eines geeinten Kontinents: „Europa ist für uns nicht nur als Wirtschaftsraum wichtig, sondern als Wertegemeinschaft.“ Europa sei auch in der Krise keine Opfergemeinschaft, sondern eine „Friedensgemeinschaft, wie sie dieser Kontinent zuvor nie erlebt hat.“

„Neuland“ und die NSA

Das aufregendste Eigentor, das sich Angela Merkel kürzlich geschossen hat, ist die „Neuland“-Aussage. Das Internet als unbekanntes Terrain – vielleicht nur ein Vorwand, um sich bei der NSA-Affäre aus der Verantwortung zu ziehen? So zumindest sieht es Jürgen Trittin. Das Internet sei für die Grünen kein Neuland, fügt er in einem FOCUS-Interview an und verweist auf das Versagen der Bundesregierung im Umgang mit der Ausspähaffäre. Die Menschen hätten zwar das Gefühl gehabt, es geahnt zu haben. Neu sei aber, „dass eine Regierung stumm und tatenlos zusieht, wie elementare Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger von befreundeten Staaten verletzt werden.“ Damit holt er sich in der fiktiven Diskussionsrunde einen wichtigen, aber für die Opposition recht leicht verdienten Punkt. Die abwartende und übervorsichtige Haltung der Regierung hat viele Bürger verunsichert. Später, im Kanzlerduell, machte die Bundeskanzlerin jedoch deutlich, dass sie nichts halte vom unüberlegten Vorpreschen.

Der Arabische Frühling

Syrien und Ägypten sind keine Wahlkampfthemen – wohl deshalb, weil man sich über alle Lager hinweg, in allen EU-Staaten und Regierungen bis vor kurzem unklar war über ein weiteres Handeln. Vom FOCUS zu den mutmaßlichen Giftgasangriffen in Syrien befragt, verweist Bundeskanzlerin Merkel auf Russland und China, die eine Aufforderung des UN-Sicherheitsrats an das Assad-Regime, den Kontrolleuren freien Zugang zu gewährleisten, verhindert haben. „Wir werden aber weiterhin auf Aufklärung drängen.“ – Beim Gipfel der G20-Nationen einige Wochen später hielt sie sich zurück, unterzeichnete eine Erklärung zur Unterstützung des Vorgehens der USA nicht. Am nächsten Tag schloss sich Deutschland dann doch noch an, mit einiger Verzögerung. Man wolle einen einheitlichen europäischen Kurs fahren.
Der Arabische Frühling gehört nicht in den Wahlkampf. Doch die Politik sollte sich darüber klar werden, dass die Maßstäbe der europäischen Demokratie von außerhalb gut beobachtet werden. Wer sich in einer grausamen Welt als Verfechter der moralischen Werte sieht und angesichts politischer Umstürze im Mittelmeerraum ins Schwanken kommt, riskiert seine Glaubwürdigkeit. Auch was z.B. Wafenexporte angeht: Der Linke Jan van Aken prangert schon seit längerem das Verkaufen von Waffen an Staaten mit zweifelhaftem Demokratiestatus an. Mit ihrer Forderung „Waffenexporte verbieten!“ steht die LINKE jedoch ziemlich alleine da.

Der Veggie-Day

Die Grünen sorgten mit dem Veggie-Day für Schlagzeilen. An Freitagen soll es in deutschen Kantinen nur noch vegetarische Gerichte geben – oder wie war das? „Wir wollen, dass die Kantinen zeigen, dass ein fleischloser Tag pro Woche gut möglich ist. Es soll ein Angebot zum Ausprobieren sein“, sagt Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckhardt im Interview mit dem FOCUS. „Wir schaffen Wahlfreiheit und wollen, dass die Leute wissen, was sie tatsächlich auf dem Teller haben.“ Aus dieser Perspektive klingt das Vorhaben dann doch etwas weniger erschreckend für Fleischgenießer. Dennoch dürfte der Veggie-Day vor allem den freiheitsliebenden Liberalen von der FDP ein Dorn im Auge sein. Sogar die Kanzlerin meldete sich in einem Interview zu Wort und erläuterte ihre Ansicht zu der Debatte: „Auch viele CDU-Wähler interessieren sich sehr für gesunde Ernährung, alternative Medizin oder Umweltthemen, aber wir schreiben niemandem vor, was richtig und falsch ist und was er oder sie zu tun hat.“ Ihre Partei wolle sich nicht einmischen in die Belange der Einzelnen.
Das Schicksal Deutschlands wird vermutlich nicht in den Kantinen und Suppenküchen entschieden, weshalb der Veggie-Day-Faktor beim Ausgang der Bundestagswahl auch so gut wie keine Rolle spielen wird. Und doch werden wir uns in einigen Jahren vielleicht schmunzelnd zurückerinnern an dieses kleine kulinarische Intermezzo.

PKW-Maut

Ebenso verhält es sich mit der PKW-Maut: Ein Thema, das bis zum Ende der Legislaturperiode keinen interessiert, kurz vor Schluss jedoch doch noch aus dem Waffenschrank geholt wird. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) erhoffte sich wohl, einige Stimmen zu sichern, indem er (den Fakten nach völlig ungerechtfertigt) ausländische Autofahrer auf deutschen Autobahnen zur Kasse bitten will. Im Kanzlerduell machte Angela Merkel (auf vehementes Nachfragen der Moderatoren) jedoch eine klare Ansage: „Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben.“ Die Kanzlerin hat keine Angst vor den Drohgebärden des bayerischen CSU-Querulanten. FDP-Generalsekretär Patrick Döring hatte kurz zuvor die Idee einer PKW-Maut als „bayerisches Wahlkampfgetöse“ bezeichnet – mehr ist sie auch nicht.

Weitere (Nicht)Themen

Was kam in diesem Wahlkampf zu kurz? Um Waffenexporte kümmern sich wie gesagt nur die Linken. Was Integration und Migranten angeht sah sich die SPD lange Jahre in einer gesicherten Position: Arbeiter – auch Gastarbeiter – wählen die SPD. Deshalb lohnt es sich scheinbar nicht, in dieser Bevölkerungsgruppe gezielt Wahlkampf zu machen – ein Fehler? Das Thema Integration und Zuwanderung bleibt wieder einmal fest in der Hand der NPD, der es bekanntlich weniger um die in Deutschland lebenden Menschen geht, sondern ausschließlich um die Müllers und Mayers unter uns. Auch um die Rente kümmern sich die Rechten: Unter ihrer Herrschaft soll es weniger Geld für Sinti und Roma geben und mehr für die sympathische Großmutter von nebenan…
Es wurde zwar über Arbeit gesprochen und über Soziales, über Kitas und Altersarmut, aber Bildung als solche war selten im Blickpunkt. Wahrscheinlich will sich niemand dafür rechtfertigen, dass überall Lehrer eingespart werden. Die CDU spart Lehrer ein, die Grünen in Baden-Württemberg neuerdings auch, obwohl sie sich früher – als sie noch in der Opposition waren – immer dagegen gewehrt haben.

Markt der Koalitionen

Für alle Beteiligten sind die Optionen für die kommende Regierung klar: Merkel will weiter christlich-liberal regieren. Dazu bedarf es aber wohl zuerst einer Wiederbelebung der FDP. Für die Bundeskanzlerin kommt ein Bündnis mit den Grünen nicht infrage, versichert sie dem FOCUS. Sie gesteht ein, dass durch das Thema Kernenergie „ein großes Streitthema unserer Gesellschaft ausgeräumt“ wurde, ansonsten sieht sie jedoch viele Unterschiede zwischen dem Programm der CDU und denen der SPD und der Grünen. Von der Krisenpolitik der Grünen (Schuldentilgungsfonds für alle Euro-Staaten) hält sie genauso wenig wie von Vermögenssteuer, höheren Belastung der Einkommen oder Streichung des Ehegattensplittings. An anderer Stelle hat sie schon oft behauptet, dass sie sich durchaus gern an die Zeit der Großen Koalition zurückerinnert. Merkel hält sich die Option offen, unter Schwarz-Gelb noch eine Amtszeit hinzulegen.
Steinbrück hält unterdessen an Rot-Grün fest. Er will keine Große Koalition. Und auch mit der Linken lehnt er jede mögliche Zusammenarbeit für einen Regierungswechsel ab und hat die Partei u.a. im Kanzlerduell als „kommunistische Plattform“ bezeichnet. Die Linke würde aber wahrscheinlich über diese Beleidigung hinwegsehen und trotzdem koalieren wollen. Vielleicht werden Ende September die Karten nochmal gemischt. Vielleicht überlebt die FDP, vielleicht fordern die Piraten einige Sitze im Bundestag? Vielleicht erstickt das Pflänzchen der AfD schon im Keim? Wir wissen es nicht.

Letztlich lässt sich nur sagen, dass es am 22. September durchaus noch spannend werden kann. Wie seufzte schon der Volksmund: „Jeder hat sein Kreuz zu machen…“ – Und weil ich jedem Demokraten die aktive Partizipation an dieser lebenserhaltenden Maßnahme unseres nicht perfekten, aber immer noch im weltweiten Vergleich als am tauglichsten erwiesenen Systems gönne, kommt an dieser Stelle meine Aufforderung:

Liebe Leserinnen und Leser, geht wählen!


 (Fußnoten sind bei Interesse beim Autoren anzufordern.)