Interview mit Philipp, Istanbul
Philipp, Du bist seit letztem Sommer im Rahmen des
ERASMUS-Programmes für Studierende in Istanbul. An welcher Universität
studierst Du?
Ich studiere an der İstanbul Üniversitesi, bin an der
İlahiyat Fakültesi eingeschrieben, studiere aber vor allem an der İletişim
Fakültesi und Arabisch.
Mittlerweile sind zwei Wochen seit dem Ausbruch der
Proteste gegen die Regierung vergangen. Wo hast Du die Anfänge der
Demonstrationen erlebt?
Bei den ersten Parkräumungen am Mittwoch, dem 29.05,
und Donnerstag, dem 30.05, habe ich noch nicht viel vom Protest mitbekommen.
Das hat sich am Freitag geändert, als uns unsere Dozentin von der gewaltsamen
Parkräumung erzählte, nach der die Polizei die Zelte der Demonstranten in Brand
gesteckt hat. Da ich hier noch nicht dabei war, handelt es sich dabei um
Berichte von Bekannten. Am Freitag aber habe ich bereits in Kabatas (1km von
Taksim) die Wirkung des Tränengases zu spüren bekommen und mich selbst nach
Taksim begeben, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Dort kam es den ganzen
Abend zu unverhältnismäßig heftigen Einsätzen der Polizei, die ich aus
unmittelbarer Nähe miterlebt habe. Vereinzelt habe ich in Harbiye Steine
werfende Demonstranten gesehen, in Cihangir jedoch, wo ich zu den Protesten
stieß, habe ich das Verhalten der Demonstranten als vorbildlich und vollkommen
gewaltfrei erlebt. Die Behauptung, die Polizei habe ohne Abwägung der
Möglichkeiten und Beurteilung der Situation Pfeffergas eingesetzt kann, ich für
die Lage in Cihangir als Augenzeuge unterschreiben.
Am Samstagmorgen, als die Polizeieinsätze
weitergingen, war ich nicht in Taksim. Ab dem Abend war ich vor Ort, bis in die
Nacht haben tausende Menschen auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park den Rückzug
der Polizei gefeiert. Vereinzelt haben Provokateure Wägen von Fernsehsendern
demoliert, bis auf diese Ausnahmen war die Stimmung ausgelassen und friedlich.
Am Sonntag sind wir nach Besiktas gegangen, um uns von
den dortigen Protesten ein Bild zu machen. Die Zahl der Demonstranten schätze
ich auf 3000. Die große Masse blieb in einiger Entfernung der Kampflinie von
Demonstranten und Polizei, skandierte Parolen und war organisiert und
friedlich. Etwa 20 Demonstranten befanden sich ca. 30 Meter vor der
Hauptprotestgruppe in direkter Auseinandersetzung mit der Polizei, errichteten
Barrikaden und warfen ausgerüstet mit Gasmaske und Handschuhen die Gaspatronen
zurück in Richtung der Einsatzkräfte. Soweit ich dies miterlebt habe, beschränkten
sich die Aktivisten dabei tatsächlich auf das Zurückschleudern der
Polizeimunition (Pfefferpatronen), ich habe niemanden Steine oder schweres
Material werfen sehen. Nach einer Weile begann die Großgruppe der Aktivisten
die vorderste Linie des Protests mit Baumaterial zu versorgen (Sandsäcke, Holz,
Ziegel) mit deren Hilfe eine Barrikade gegen die Polizei errichtet wurde. Die
Barrikade und die Pfeffergas-Strategie der Demonstranten erwies sich als so
effektiv, dass die Einsatzkräfte für etwa eine Stunde nicht weiter vorrücken
konnten. Schließlich wurde ein Wasserwerfer angefordert um die Barrikade zu
überwinden, was nach ca. einer weiteren Stunde gelang. Als die Demonstranten
das Areal weiterhin nicht räumten, gaben sich in der großen Gruppe der ca. 3000
nur mit Slogans protestierenden Demo-Teilnehmer etwa 15 Zivilpolizisten zu
erkennen, in dem sie mitten in der Menschenmenge Pfeffergas-Granaten zündeten.
Unmittelbar von der Wirkung des Gases außer Kraft gesetzt, zogen wir - und 3000
andere Demonstranten - uns schnell aber organisiert in einige Seitenstraßen
zurück. Dort öffneten uns Anwohner die Türen um uns vor dem Gas und der Polizei
in Sicherheit zu bringen. Insbesondere den Einsatz des Pfeffergases innerhalb
der friedlichen Masse der Demo-Teilnehmer beurteile ich als ein unverhältnismäßig
heftiges und hochgefährliches Vorgehen. Dass beim fluchtartigen Rückzug niemand
zu Schaden kam ist lediglich der Besonnenheit und Organisation der
Demonstranten selbst zu verdanken, die trotz der Wirkung des Gases die Ruhe
bewahrten. Nach etwa einer weiteren Stunde zog die Polizei ab und wir konnten
die Wohnung wieder verlassen.
Wie viel bekommst Du selbst von den Demonstrationen
mit? Haben die Proteste auch Einfluss auf das Leben auf dem Campus?
Da gerade Klausurvorbereitungen sind, finden
weitgehend keine Vorlesungen statt. Was ich miterlebt habe, ist dass viele
Studenten ihrer Arbeit nachgehen, ohne sich umfassend für die Proteste zu
interessieren. Neben einem sicherlich entscheidenden Teil der Bevölkerung, der
sich an den Protesten beteiligt gibt es auch einen Teil, der die Eskalation der
Proteste Provokateuren unter den Demonstranten zuschreibt oder sich schlicht
nicht beteiligen möchte.
Wie berichten die türkischen Medien seit Beginn der
Proteste über die Vorkommnisse? Hat sich ihre Haltung während der letzten
Wochen verändert?
Das türkische Fernsehen hat bis auf wenige Ausnahmen
in den ersten Tagen nichts von den Protesten gezeigt und diese auch nicht in
den Nachrichten erwähnt. Als Medienstudent ist dies für mich in selbem Maße
verwerflich wie die Heftigkeit der Polizeieinsätze, ein Gegenbeweis für eine
freie Berichterstattung und ein Missbrauch der Pflicht, die Bürger objektiv
über die Vorkommnisse im Land zu informieren.
In den Tageszeitungen war ein etwas anderes Bild zu
sehen. Diese haben die Eskalation am Freitag und Samstag weitgehend kritisch
und unverblümt thematisiert, zum Teil auch über Interviews und Zitate die
Regierung in die Pflicht genommen und Unmut über die Heftigkeit des Vorgehens
geäußert.
Ministerpräsident Erdoğan hat sich nach der Rückkehr
von seiner Afrika-Reise wenig kompromissbereit gezeigt. Wie reagieren die
Demonstranten?
Soweit ich das beurteilen kann hat der Großteil der
Demonstranten mit keiner anderen Haltung des Ministerpräsidenten gerechnet. Sie
führen ihren friedlichen Protest im Gezi-Park fort und äußern ihre Meinung.
Wenn Erdoğan Gesprächsbereitschaft zeigen würde, denke ich nicht, dass sich die
Demonstranten einem Dialog verweigern würden.
Wie lässt sich der Hintergrund derjenigen beschreiben,
die auf die Straße gehen? Sind es spezielle Gruppen, die demonstrieren?
Es sind vor allem Studenten, Künstler, Kurden,
Kemalisten und Linke würde ich sagen, wobei sich auch Nationalisten und die
"Muslime gegen Kapitalismus" beteiligen. Was den sozialen Stand und
das Alter betrifft sind alle Schichten vertreten.
Man kann nicht leugnen, dass die Demonstrationen nun
schon eine ganze Weile andauern. In den deutschen Medien erschien der eine oder
andere Kommentar, der die Proteste am Taksim-Platz schnell in Verbindung mit
dem Arabischen Frühling gebracht hat. Was denkst Du darüber?
Ich sehe den Vergleich mit dem Arabischen Frühling
sehr kritisch. Erdoğan ist erst kürzlich mit beinahe 50 Prozent der
Volksstimmen im Amt bestätigt worden und erfährt auch weiterhin großen
Rückhalt. Es handelt sich hier nicht um einen Protest des gesamten Volkes gegen
eine totalitäre Regierung, sondern um einen Teil des Volkes der sich erzürnt
nicht gehört zu werden. Soweit ich das beurteilen kann, ist es ein Novum, dass
sich ein so großer Teil der Bevölkerung geschlossen Gehör verschafft und das
ist unter demokratischen Gesichtspunkten ein immenser Gewinn. Die Türkei ist
allerdings kein Nordafrikanisches Königreich sondern eine Republik inklusive
Verfassung und Parteienvielfalt. Meiner Meinung nach ist das richtige Mittel
gegen die Autoritätsansprüche der im Moment starken AKP kein Sturz, Putsch oder
Bürgerkrieg, sondern Aufklärung und politische Bildung - ein Prozess der mehr
Zeit in Anspruch nimmt als einen Frühling.
Danke für das Gespräch!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen