Sonntag, 16. Juni 2013

16.06.2013: Gezi-Park über Nacht geräumt

Das Auge Europas und der ganzen, von Revolutionen geschüttelten Mittelmeerregion liegt im Moment auf der Türkei und besonders auf Istanbul. Hier ist etwas Größeres im Gange, etwas sehr Europäisches: Gelebte Demokratie, die Demokratie der Straße. Doch die Regierung zeigt wenig Kompromissbereitschaft.
Dabei titelte die Süddeutsche am 14. Juni noch mit der Schlagzeile „Erdogan kommt den Demonstranten überraschend entgegen“. Er habe sich in der türkischen Hauptstadt mit Vertretern der Protestbewegung aus Istanbul getroffen. Im Artikel heißt es: „Noch am Tag zuvor hatte der Regierungschef mit drastischen Worten eine Eskalation der Proteste befürchten lassen. Binnen 24 Stunden werde der Taksim-Platz und der Gezi-Park im Herzen Istanbuls geräumt, drohte Erdogan noch am Donnerstagmittag. Davon war nach dem Gespräch in Ankara keine Rede mehr.“[1] Die Zeitung rechnete mit Entspannung statt Eskalation.
Es kam jedoch etwas anders.

Die Lage in der Türkei eskaliert immer weiter. In der Nacht zum 16. Juni wurde der Gezi-Park am Istanbuler Taksim-Platz von der Polizei geräumt. Aus dem Munde des Stadtgouverneurs Hüseyin Avni Mutlu hört sich das so an: „Es ist erfreulich, dass unsere Aktion im Gezi-Park äußerst ordentlich und problemlos binnen kurzer Zeit abgeschlossen werden konnte. Auch, dass die Demonstranten und Besucher den Park nach unseren Ankündigungen weitgehend geräumt haben. Nach einer kurzen Auseinandersetzung zwischen der Polizei und marginalen Gruppen wurde der Park geräumt. Ansonsten hat es keine Probleme gegeben.“[2]
Es habe keine Probleme gegeben und wenn, dann nur mit marginalen Gruppen. – Die Wahrheit? Wir könnten die Grünen-Chefin Claudia Roth fragen, die im Gezi-Park mit dabei war und von „Krieg gegen die eigene Bevölkerung“ spricht. Oder die zahlreichen Journalisten, die von der Polizei verprügelt wurden. Oder die ausländischen Erasmus-Studenten, die jene Proteste entweder aus sicherer Entfernung beobachteten oder direkt dabei waren. Was in Regierungskreisen als friedlich bezeichnet wird, war in echt eine recht grobe Maßnahme gegen den vehementen Protest, der nicht abklingen will. Bei der Räumung kam es zu erheblicher Gewaltanwendung, Tränengas und Wasserwerfer wurden eingesetzt, später auch Plastikgeschosse. Polizisten haben das Divan Hotel am Taksim-Platz gestürmt, die Lobby füllte sich mit Tränengas. Auch zahlreiche Kinder wurden gestern Abend verletzt. Die Straßenschlachten weiteten sich aus auf einige andere Stadtteile, in denen es bisher eher friedlich geblieben ist. Angeblich wurden 440 Menschen verletzt, schwere Verletzungen wurden nicht verzeichnet. Der Gouverneur spricht von 44 Verletzten. Erstmals kamen so auch paramilitärische Einheiten zum Einsatz, meldet der SWR in seinen Nachrichten. Zahlreiche Oppositionspolitiker und andere Demonstranten seien verhaftet worden.

Heute, am 16. Juni, sind wieder neue Demonstrationen angekündigt. Der Kurs der Regierung ist klar: Jeder, der an der heutigen Kundgebung teilnimmt, gilt als Terrorist, ließ man verlauten.
Wie lange kann Ministerpräsident Erdoğan einen echten Dialog mit den Demonstranten noch ablehnen? Wie lange bleibt sein gerader, kompromissloser Kurs noch legitimierbar – auch in den eigenen Reihen? Die Bevölkerung zeigt deutlich, dass sie das erbarmungslose Prügeln vonseiten der Sicherheitskräfte nicht mehr hinnehmen will. Und es ist nicht mehr so, dass sich an den Protesten nur „marginale Gruppen“ beteiligen würden. Am Samstag gingen die Eltern der Gezi-Park-Besetzer auf die Straße, um die „Parkschützer“ zu unterstützen. Viele, die sich nicht auf die Straße trauen, nehmen trotzdem am kollektiven abendlichen Kochtopfklopfen teil. Und weiterhin marschieren Zehntausende über die Bosporus-Brücke. Der Gouverneur bezeichnete die Bilder dieser Märsche zuvor als Fälschungen, sie seien vom letzten Istanbul-Marathon. Doch Tag für Tag kann man sich nun davon überzeugen, dass etwas im Gange ist. Und dass es sich nicht mehr lange kleinreden lässt.


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