Das
Auge Europas und der ganzen, von Revolutionen geschüttelten Mittelmeerregion
liegt im Moment auf der Türkei und besonders auf Istanbul. Hier ist etwas
Größeres im Gange, etwas sehr Europäisches: Gelebte Demokratie, die Demokratie
der Straße. Doch die Regierung zeigt wenig Kompromissbereitschaft.
Dabei
titelte die Süddeutsche am 14. Juni noch mit der Schlagzeile „Erdogan kommt den Demonstranten überraschend
entgegen“. Er habe sich in der türkischen Hauptstadt mit Vertretern der
Protestbewegung aus Istanbul getroffen. Im Artikel heißt es: „Noch am Tag zuvor
hatte der Regierungschef mit drastischen Worten eine Eskalation der Proteste
befürchten lassen. Binnen 24 Stunden werde der Taksim-Platz und der Gezi-Park
im Herzen Istanbuls geräumt, drohte Erdogan noch am Donnerstagmittag. Davon war
nach dem Gespräch in Ankara keine Rede mehr.“[1]
Die Zeitung rechnete mit Entspannung statt Eskalation.
Es
kam jedoch etwas anders.
Die
Lage in der Türkei eskaliert immer weiter. In der Nacht zum 16. Juni wurde der
Gezi-Park am Istanbuler Taksim-Platz von der Polizei geräumt. Aus dem Munde des
Stadtgouverneurs Hüseyin Avni Mutlu hört sich das so an: „Es ist erfreulich,
dass unsere Aktion im Gezi-Park äußerst ordentlich und problemlos binnen kurzer
Zeit abgeschlossen werden konnte. Auch, dass die Demonstranten und Besucher den
Park nach unseren Ankündigungen weitgehend geräumt haben. Nach einer kurzen
Auseinandersetzung zwischen der Polizei und marginalen Gruppen wurde der Park
geräumt. Ansonsten hat es keine Probleme gegeben.“[2]
Es
habe keine Probleme gegeben und wenn, dann nur mit marginalen Gruppen. – Die Wahrheit?
Wir könnten die Grünen-Chefin Claudia Roth fragen, die im Gezi-Park mit dabei
war und von „Krieg gegen die eigene Bevölkerung“ spricht. Oder die zahlreichen
Journalisten, die von der Polizei verprügelt wurden. Oder die ausländischen
Erasmus-Studenten, die jene Proteste entweder aus sicherer Entfernung beobachteten
oder direkt dabei waren. Was in Regierungskreisen als friedlich bezeichnet
wird, war in echt eine recht grobe Maßnahme gegen den vehementen Protest, der
nicht abklingen will. Bei der Räumung kam es zu erheblicher Gewaltanwendung, Tränengas
und Wasserwerfer wurden eingesetzt, später auch Plastikgeschosse. Polizisten
haben das Divan Hotel am Taksim-Platz gestürmt, die Lobby füllte sich mit
Tränengas. Auch zahlreiche Kinder wurden gestern Abend verletzt. Die Straßenschlachten
weiteten sich aus auf einige andere Stadtteile, in denen es bisher eher
friedlich geblieben ist. Angeblich wurden 440 Menschen verletzt, schwere
Verletzungen wurden nicht verzeichnet. Der Gouverneur spricht von 44
Verletzten. Erstmals kamen so auch paramilitärische Einheiten zum Einsatz,
meldet der SWR in seinen Nachrichten. Zahlreiche Oppositionspolitiker und
andere Demonstranten seien verhaftet worden.
Heute,
am 16. Juni, sind wieder neue Demonstrationen angekündigt. Der Kurs der
Regierung ist klar: Jeder, der an der heutigen Kundgebung teilnimmt, gilt als
Terrorist, ließ man verlauten.
Wie
lange kann Ministerpräsident Erdoğan einen echten Dialog mit den Demonstranten
noch ablehnen? Wie lange bleibt sein gerader, kompromissloser Kurs noch
legitimierbar – auch in den eigenen Reihen? Die Bevölkerung zeigt deutlich,
dass sie das erbarmungslose Prügeln vonseiten der Sicherheitskräfte nicht mehr
hinnehmen will. Und es ist nicht mehr so, dass sich an den Protesten nur „marginale
Gruppen“ beteiligen würden. Am Samstag gingen die Eltern der Gezi-Park-Besetzer
auf die Straße, um die „Parkschützer“ zu unterstützen. Viele, die sich nicht
auf die Straße trauen, nehmen trotzdem am kollektiven abendlichen Kochtopfklopfen
teil. Und weiterhin marschieren Zehntausende über die Bosporus-Brücke. Der
Gouverneur bezeichnete die Bilder dieser Märsche zuvor als Fälschungen, sie
seien vom letzten Istanbul-Marathon. Doch Tag für Tag kann man sich nun davon
überzeugen, dass etwas im Gange ist. Und dass es sich nicht mehr lange
kleinreden lässt.
[1]
Süddeutsche.de: Erdogan kommt denDemonstranten überraschend entgegen (14.06.2013)
[2]
Tagesschau.de: Gezi-Park geräumt -Proteste gehen weiter (14.06.2013)
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