In
der Türkei haben die Demonstranten auf stillen Widerstand umgeschwenkt.
Stundenlang stehen sie regungslos auf dem Taksim-Platz und an anderen Orten in
der Türkei, um ihren Protest gegen die Regierung zum Ausdruck zu bringen.
Währenddessen bezeichnet Ministerpräsident Erdoğan die Räumung des Gezi-Parks
vor einigen Tagen als „Sieg der Demokratie“. Er bleibt stur, sieht weiterhin
eine innere und äußere „Verschwörung“ gegen sein Land, lässt an nur einem Tag
100 Mitglieder einer linken Partei verhaften. Staatspräsident Abdullah Gül
hingegen scheint zu erkennen, dass die Gesellschaft tatsächlich mit Problemen
zu kämpfen hat: „Unsere Gesellschaft muss sofort wieder zusammenfinden. Wir
haben daran gearbeitet, europäische Rechtsstandards zu erreichen. Wir dürfen
nicht zurückfallen. Die Reformen müssen weitergehen“.[1]
Die
von Polizeiknüppeln, Tränengas und Chemikalien in den Wasserwerfern
angerichteten Schäden dürften tiefer sitzen als die finanziellen Schäden, die
durch die Proteste an Geschäften und Schaufenstern verursacht worden sind. Doch
diese Schäden ließen sich von einer zwar gespaltenen, aber fortschrittlichen türkischen
Gesellschaft wahrscheinlich überwinden.
Nur
ein Stückchen weiter im Süden liegt Syrien. Hier sind die Gräben mittlerweile
tiefer, das Misstrauen scheint unüberwindbar, der Bürgerkrieg tobt. Auch der
Libanon ist betroffen: Hier treffen die Flüchtlingsströme nach acht Tagen des
Marsches durch die Berge ein in einer Region, in der das Verhältnis Einwohner
zu Flüchtling vielerorts schon 1:1 steht. Ohne Verpflegung haben sich diese
Menschen aufgemacht, viele haben auf dem Marsch mehr Angehörige verloren als
durch das Bombardement Assads, vor dem sie geflohen sind. Schwerverletzte
kommen in libanesischen Krankenhäusern an und werden zurückgewiesen, weil
niemand die teuren Operationen und Krankenbetten bezahlen kann.
In
Syrien selbst wird der Konflikt immer mehr konfessionalisiert. Die Menschen
haben es sich nicht so ausgesucht. Von Anfang an einte sie die Ablehnung des
Regimes, Präsident Assad zwang den Bürgerkrieg dann in einen religiösen Kontext
– zum Beispiel indem er die Drusen und die alawitischen Gebiete vor
Bombardierung schützte. Die christliche Führung, in Europa hausieren geht und
die Regierungen davon zu überzeugen versucht, dass es ohne Assad zu einem
Völkermord an den Christen kommen würde, steht weiterhin hinter dem Diktator –
anders jedoch als große Teile der christlichen Bevölkerung.
Die
Situation der Minderheiten ist es, die eine volle Unterstützung der Revolution
vonseiten Europas bis jetzt verhinderte. Die Europäer sind verunsichert und abgeschreckt
vom Bild des „Dschihad“, des „Heiligen Krieges“, der neuerdings in Syrien
propagiert wird. Dabei wird übersehen, dass sich die Gewalt vonseiten der
Islamisten nicht gegen die Minderheiten des Landes, sondern fast ausschließlich
gegen das Regime wendet. Zudem sind die meisten Kämpfer der islamistischen und
salafistischen Gruppen einfache einheimische Stadt- und Landbewohner, die wenig
mit salafistischem Gedankengut gemein haben. Der Begriff des „Heiligen Krieges“
hat eine religiöse Dimension in Syrien, doch er richtet sich nicht gegen
Christen oder Drusen, sondern gegen das Regime. Er wird teilweise sogar durch
die Minderheiten mitgetragen. Noch heute hört man vereinzelt noch die Slogans
aus den Anfangstagen, quer durch alle Gruppierungen hindurch:
„Freiheit und Menschenwürde!“
Gestern,
am 18. Juni, war bei uns an der Uni Tübingen ein Vertreter der
Nichtregierungsorganisation Relief &
Reconciliation for Syria zu Gast. Friedrich Bokern kam direkt aus dem
Libanon und referierte zum Thema „Die Lage der Minderheiten in Syrien“, stellte
aber auch seine Organisation vor und die aktuellen Probleme, die sich der Hilfe
für die Menschen in den Weg stellen und was dennoch getan werden kann. R&R ist keine reine humanitäre
Hilfsorganisation, sondern will Friedensarbeit mit praktischer Hilfe verbinden.
Es geht – wie der Name schon sagt – um Versöhnung. Politiker werden außen vor
gelassen, doch einflussreiche Ansprechpartner vor Ort sollen zusammengeführt
werden – nicht nur zum abstrakten Gespräch, sondern zur Schaffung konkreter
Konzepte. Die Organisation ist neutral, doch sie prangert Verbrechen an. Und
die seien zu einem überwiegenden Teil vonseiten des Regimes verübt worden.
Bokern
und den anderen Syrien-Freunden ist es gelungen, im Nordlibanon das erste in einer
Reihe von „Friedenszentren“ zu eröffnen, wo Flüchtlingen praktische (bzw. materielle)
Hilfe geboten wird, wo aber auch psycho-soziale Arbeit oder Erziehungsarbeit
(wie etwa Fremdsprachenkurse) geleistet werden. Unterstützt werden die Projekte
von Autoritäten innerhalb der Bevölkerung: Ortsansässige Scheichs im Libanon,
Stammesführer innerhalb der Vertriebenen, Imame und christliche Priester.
Friedrich
Bokern wirbt für seine Organisation. Und er macht deutlich, dass die meisten
Syrer von Europa enttäuscht sind. Die Frage, die fast jeder der 5 Millionen
Flüchtlinge in Syrien oder im benachbarten Ausland stellt, lautet: „Warum habt
Ihr uns vergessen?“
Europa
hält sich aus dem Konflikt weitgehend heraus. Europa hadert mit sich selbst und
zögert, Stellung zu beziehen. Währenddessen fühlen sich die Syrer verraten. Hat
Europa in Syrien irgendeine Verantwortung? Vielleicht nicht. Aber als die Syrer
aufstanden, um die von Europa gepredigten Werte der Freiheit und der
Selbstbestimmung zu erkämpfen, bekamen sie keinerlei Rückhalt aus dem Westen.
Dabei wollen viele Syrer nicht einmal Waffen. Sie brauchen humanitäre Hilfe,
sie wollen im Winter nicht frieren und verhungern. Wären Feldhospitäler zu viel
verlangt? Der Westen überlässt die Menschen sich selbst.
Im
Westen hat man Angst vor einem neuen Irak. Zudem sieht man mehr und mehr ein,
dass der Irakkrieg auf vollkommen falscher Beweislage geführt worden war. Die
Politik im Westen wird vorsichtiger. Dabei wäre eine militärische Intervention dieses
Mal sogar moralisch gerechtfertigt. Sicher, aus völkerrechtlicher Perspektive
wäre ein militärisches Eingreifen in Syrien vonseiten der USA (oder auch
Europas) illegal. Im Irak gab es keine Massenproteste, keine Hilferufe an den
Westen. In Syrien jedoch gibt es einen Despoten, der am helllichten Tag Stadtteile
von Aleppo bombardieren lässt, wegen dem Millionen Menschen auf der Flucht
sind. Der Bürgerkrieg hat schon 100.000 Menschen das Leben gekostet. Es gibt
keinen anderen Weg als den Fall des Regimes. Die Lage unterscheidet sich
grundlegend von der des Irak.
Doch
vielleicht kommt endlich Bewegung in die Sache. Beim gestrigen G8-Gipfel[2]
hat man sich geeinigt, den Druck auf Assad zu erhöhen. Es sieht aus wie ein
Fortschritt, doch Moskau beharrt immer noch darauf, dass Assad in die
Verhandlungen einbezogen wird.
Für
Friedrich Bokern von R&R ist
klar, dass der Syrien-Konflikt nicht so einfach zu lösen ist. In einer Zeit
nach Assad hält er sogar eine zeitweise Trennung des Landes für möglich, mit
einer von Blauhelmsoldaten geschützten Pufferzone. Die Gefahr von Racheakten
besteht, weitere Massaker könnten auch nach Assad noch folgen. Doch das
syrische Volk besteht auf der Einheit des Landes. Bokern selbst hat im
Bosnienkrieg in den Neunzigern Erfahrungen sammeln können, wie die schrittweise
Versöhnung nach der Katastrophe aussehen kann. Die ersten Grundsteine dazu legt
Relief & Reconciliation for Syria
schon heute. Der Name ist Programm: Aktive Arbeit zur Hilfe der Flüchtlinge und
zur Aussöhnung in der Zeit danach.
Bokerns
Appell an die Zuhörer: „Tun Sie was!“
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