Mittwoch, 19. Juni 2013

19.06.2013: Zur aktuellen Lage in Syrien und zur NGO Relief & Reconciliation for Syria

In der Türkei haben die Demonstranten auf stillen Widerstand umgeschwenkt. Stundenlang stehen sie regungslos auf dem Taksim-Platz und an anderen Orten in der Türkei, um ihren Protest gegen die Regierung zum Ausdruck zu bringen. Währenddessen bezeichnet Ministerpräsident Erdoğan die Räumung des Gezi-Parks vor einigen Tagen als „Sieg der Demokratie“. Er bleibt stur, sieht weiterhin eine innere und äußere „Verschwörung“ gegen sein Land, lässt an nur einem Tag 100 Mitglieder einer linken Partei verhaften. Staatspräsident Abdullah Gül hingegen scheint zu erkennen, dass die Gesellschaft tatsächlich mit Problemen zu kämpfen hat: „Unsere Gesellschaft muss sofort wieder zusammenfinden. Wir haben daran gearbeitet, europäische Rechtsstandards zu erreichen. Wir dürfen nicht zurückfallen. Die Reformen müssen weitergehen“.[1]
Die von Polizeiknüppeln, Tränengas und Chemikalien in den Wasserwerfern angerichteten Schäden dürften tiefer sitzen als die finanziellen Schäden, die durch die Proteste an Geschäften und Schaufenstern verursacht worden sind. Doch diese Schäden ließen sich von einer zwar gespaltenen, aber fortschrittlichen türkischen Gesellschaft wahrscheinlich überwinden.

Nur ein Stückchen weiter im Süden liegt Syrien. Hier sind die Gräben mittlerweile tiefer, das Misstrauen scheint unüberwindbar, der Bürgerkrieg tobt. Auch der Libanon ist betroffen: Hier treffen die Flüchtlingsströme nach acht Tagen des Marsches durch die Berge ein in einer Region, in der das Verhältnis Einwohner zu Flüchtling vielerorts schon 1:1 steht. Ohne Verpflegung haben sich diese Menschen aufgemacht, viele haben auf dem Marsch mehr Angehörige verloren als durch das Bombardement Assads, vor dem sie geflohen sind. Schwerverletzte kommen in libanesischen Krankenhäusern an und werden zurückgewiesen, weil niemand die teuren Operationen und Krankenbetten bezahlen kann.

In Syrien selbst wird der Konflikt immer mehr konfessionalisiert. Die Menschen haben es sich nicht so ausgesucht. Von Anfang an einte sie die Ablehnung des Regimes, Präsident Assad zwang den Bürgerkrieg dann in einen religiösen Kontext – zum Beispiel indem er die Drusen und die alawitischen Gebiete vor Bombardierung schützte. Die christliche Führung, in Europa hausieren geht und die Regierungen davon zu überzeugen versucht, dass es ohne Assad zu einem Völkermord an den Christen kommen würde, steht weiterhin hinter dem Diktator – anders jedoch als große Teile der christlichen Bevölkerung.
Die Situation der Minderheiten ist es, die eine volle Unterstützung der Revolution vonseiten Europas bis jetzt verhinderte. Die Europäer sind verunsichert und abgeschreckt vom Bild des „Dschihad“, des „Heiligen Krieges“, der neuerdings in Syrien propagiert wird. Dabei wird übersehen, dass sich die Gewalt vonseiten der Islamisten nicht gegen die Minderheiten des Landes, sondern fast ausschließlich gegen das Regime wendet. Zudem sind die meisten Kämpfer der islamistischen und salafistischen Gruppen einfache einheimische Stadt- und Landbewohner, die wenig mit salafistischem Gedankengut gemein haben. Der Begriff des „Heiligen Krieges“ hat eine religiöse Dimension in Syrien, doch er richtet sich nicht gegen Christen oder Drusen, sondern gegen das Regime. Er wird teilweise sogar durch die Minderheiten mitgetragen. Noch heute hört man vereinzelt noch die Slogans aus den Anfangstagen, quer durch alle Gruppierungen hindurch:
Freiheit und Menschenwürde!

Gestern, am 18. Juni, war bei uns an der Uni Tübingen ein Vertreter der Nichtregierungsorganisation Relief & Reconciliation for Syria zu Gast. Friedrich Bokern kam direkt aus dem Libanon und referierte zum Thema „Die Lage der Minderheiten in Syrien“, stellte aber auch seine Organisation vor und die aktuellen Probleme, die sich der Hilfe für die Menschen in den Weg stellen und was dennoch getan werden kann. R&R ist keine reine humanitäre Hilfsorganisation, sondern will Friedensarbeit mit praktischer Hilfe verbinden. Es geht – wie der Name schon sagt – um Versöhnung. Politiker werden außen vor gelassen, doch einflussreiche Ansprechpartner vor Ort sollen zusammengeführt werden – nicht nur zum abstrakten Gespräch, sondern zur Schaffung konkreter Konzepte. Die Organisation ist neutral, doch sie prangert Verbrechen an. Und die seien zu einem überwiegenden Teil vonseiten des Regimes verübt worden.
Bokern und den anderen Syrien-Freunden ist es gelungen, im Nordlibanon das erste in einer Reihe von „Friedenszentren“ zu eröffnen, wo Flüchtlingen praktische (bzw. materielle) Hilfe geboten wird, wo aber auch psycho-soziale Arbeit oder Erziehungsarbeit (wie etwa Fremdsprachenkurse) geleistet werden. Unterstützt werden die Projekte von Autoritäten innerhalb der Bevölkerung: Ortsansässige Scheichs im Libanon, Stammesführer innerhalb der Vertriebenen, Imame und christliche Priester.



Friedrich Bokern wirbt für seine Organisation. Und er macht deutlich, dass die meisten Syrer von Europa enttäuscht sind. Die Frage, die fast jeder der 5 Millionen Flüchtlinge in Syrien oder im benachbarten Ausland stellt, lautet: „Warum habt Ihr uns vergessen?“
Europa hält sich aus dem Konflikt weitgehend heraus. Europa hadert mit sich selbst und zögert, Stellung zu beziehen. Währenddessen fühlen sich die Syrer verraten. Hat Europa in Syrien irgendeine Verantwortung? Vielleicht nicht. Aber als die Syrer aufstanden, um die von Europa gepredigten Werte der Freiheit und der Selbstbestimmung zu erkämpfen, bekamen sie keinerlei Rückhalt aus dem Westen. Dabei wollen viele Syrer nicht einmal Waffen. Sie brauchen humanitäre Hilfe, sie wollen im Winter nicht frieren und verhungern. Wären Feldhospitäler zu viel verlangt? Der Westen überlässt die Menschen sich selbst.
Im Westen hat man Angst vor einem neuen Irak. Zudem sieht man mehr und mehr ein, dass der Irakkrieg auf vollkommen falscher Beweislage geführt worden war. Die Politik im Westen wird vorsichtiger. Dabei wäre eine militärische Intervention dieses Mal sogar moralisch gerechtfertigt. Sicher, aus völkerrechtlicher Perspektive wäre ein militärisches Eingreifen in Syrien vonseiten der USA (oder auch Europas) illegal. Im Irak gab es keine Massenproteste, keine Hilferufe an den Westen. In Syrien jedoch gibt es einen Despoten, der am helllichten Tag Stadtteile von Aleppo bombardieren lässt, wegen dem Millionen Menschen auf der Flucht sind. Der Bürgerkrieg hat schon 100.000 Menschen das Leben gekostet. Es gibt keinen anderen Weg als den Fall des Regimes. Die Lage unterscheidet sich grundlegend von der des Irak.

Doch vielleicht kommt endlich Bewegung in die Sache. Beim gestrigen G8-Gipfel[2] hat man sich geeinigt, den Druck auf Assad zu erhöhen. Es sieht aus wie ein Fortschritt, doch Moskau beharrt immer noch darauf, dass Assad in die Verhandlungen einbezogen wird.

Für Friedrich Bokern von R&R ist klar, dass der Syrien-Konflikt nicht so einfach zu lösen ist. In einer Zeit nach Assad hält er sogar eine zeitweise Trennung des Landes für möglich, mit einer von Blauhelmsoldaten geschützten Pufferzone. Die Gefahr von Racheakten besteht, weitere Massaker könnten auch nach Assad noch folgen. Doch das syrische Volk besteht auf der Einheit des Landes. Bokern selbst hat im Bosnienkrieg in den Neunzigern Erfahrungen sammeln können, wie die schrittweise Versöhnung nach der Katastrophe aussehen kann. Die ersten Grundsteine dazu legt Relief & Reconciliation for Syria schon heute. Der Name ist Programm: Aktive Arbeit zur Hilfe der Flüchtlinge und zur Aussöhnung in der Zeit danach.
Bokerns Appell an die Zuhörer: „Tun Sie was!“

(Mehr über die Organisation erfahren Sie hier; Spenden können Sie auch.)



[2] 18. Juni 2013

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