Samstag, 29. September 2012

In Jenin kräht der Hahn

Nach verschiedenen kurzen Touren nach Hebron und Nablus wollte ich nun endlich auch einmal nach Jenin kommen - in die Stadt, die vor allem wegen ihrer Rolle während der Zweiten Intifada traurige Berühmtheit erlangte hatte. Vor allem das Flüchtlingslager galt als Hochburg der Hamas und der Al-Aqsa-Brigaden. Von hier aus starteten zwischen den Jahren 2000 und 2003 mindestens 28 Selbstmordattentäter ihre tödliche Mission. Im Jahr 2002 rückte die israelische Armee ein, es gab tagelange Gefechte, zahlreiche Tote und ein Teil des Flüchtlingslagers wurde von israelischen Bulldozern zerstört. Die aktuellste Erwähnung fand Jenin jedoch in dem Film "Cinema Jenin", der über die Renovierung des gleichnamigen Kinos der Stadt gedreht wurde. Dieses Kino wollte ich auf jeden Fall sehen.

Zusammen mit Ann Cathrin, Chris und unserem palästinensischen Bekannten Wahib, der in Tübingen studiert, machten wir uns mit einem Mietauto auf den Weg nach Norden. Chris und ich stießen von Jerusalem aus am Qalandiya-Checkpoint zu den beiden anderen.


Mit unserem roten Honda fuhren wir dann zunächst in Richtung Nablus. Erstaunlicherweise sollten wir von keinem einzigen Checkpoint aufgehalten werden. Die massiven Betonblöcke säumen zwar noch den Weg und die Straße ist von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen entschleunigt, doch es sind kaum israelische Soldaten zu sehen. Allein einige jüdische Siedlungen liegen links und rechts der Siedlerstraße, die zurzeit größtenteils auch für palästinensische Autos geöffnet ist. Vor einigen Jahren noch gab es stellenweise kein Durchkommen.


Etwa 80 Kilometer liegen zwischen Jerusalem und Jenin. Unser Weg führt uns durch die bergige Landschaft Samarias, vorbei an israelischen Siedlungen und arabischen Ortschaften, durch heiße Täler und vorbei an Olivenhainen. Eine arabische Ortschaft sticht vor allem ins Auge, weil die Einfahrt durch eine Allee aus Palmen erfolgt. Hier stünden 80% der Häuser leer, meint Wahib. Viele Palästinenser würden im Ausland leben und nur einen Monat im Jahr in ihrer Heimat verbringen.
Hinter Nablus machen wir Rast an einem faszinierenden Ort. Direkt an der Straße liegt ein Bachlauf, der zu einer gastronomischen Attraktion ausgebaut worden ist: Man kann hier auf Plastikstühlen im Wasser sitzen, sich die Füße abkühlen, eine entspannte Wasserpfeife rauchen und grillen - sofern man seinen Grill selbst mitgebracht hat. Der Eintritt kostet umgerechnet zwei Euro, die Wasserpfeife ist günstig. Dazu eine Tasse Tee mit Nana. Dann geht es weiter.


Nun sind es nur noch 40 Kilometer nach Jenin. Die Landschaft bleibt hügelig. Erst kurz vor der Stadt kommen weite Felder in Sicht. Hier gibt es große, landwirtschaftlich nutzbare Flächen.
Jenin ist an einem Freitagnachmittag wie ausgestorben. Anders als in Jerusalem sind die Geschäfte geschlossen und der Basar ist leer. Die 36.000 Einwohner zählende Stadt ist ruhig und auch der Verkehr hat Pause.


Auch am Busbahnhof scheint nicht viel los zu sein. Genau gegenüber liegt das zum Cinema Jenin gehörende Guesthouse, in dem wir für eine Nacht unterkommen wollten. Die Atmosphäre ist nicht die spritzigste, aber vielleicht liegt das am Wetter. Wir unterhalten uns mit den Volontären, die allesamt aus Deutschland kommen. Das Kino, dessen mehr oder weniger dramatische Geschichte in dem Film beschrieben wurde, den ich mir vor ein paar Monaten in Tübingen im Kino angesehen hatte, hat kaum Vorstellungen, da niemand von den Einheimischen hingeht. Im letzten Monat hat es ganze 50 Schekel eingenommen, umgerechnet etwa zehn Euro. Nachdem eine Kooperation mit Israel verhindert, abgelehnt und verneint wurde, schien es zunächst bergauf zu gehen. Doch die Uneinigkeiten innerhalb der palästinensischen Führung des Kinos verringerte das Vertrauen der Bevölkerung. Es gab vor ein paar Tagen eine Filmvorführung vor zwei Personen. Wir hätten also zu viert gute Chancen, einen Film zu sehen, meint einer der Volontäre, der wie wir in Tübingen studiert.
Angeregt wurde die Renovierung und Neueröffnung des einzigen Kinos der Stadt, das seit 1987 geschlossen war, von Ismael Khatib, der durch den Film "Das Herz von Jenin" bekannt geworden war, weil er die Organe seines von israelischen Soldaten erschossenen Sohnes spendete, und von Marcus Vetter, einem deutschen Dokumentarfilmer. In "Cinema Jenin" wird eindrucksvoll beschrieben, wie lang der Weg zu einem funktionierenden Kino war. Heute wird das Projekt hauptsächlich vom deutschen Auswärtigen Amt und dem Goethe-Institut in Ramallah getragen. Deshalb finden in einem extra hierfür eingerichteten Klassenzimmer im Guesthouse auch Deutschunterricht statt. Die deutschen Volontäre geben darüber hinaus auch Workshops für Kinder, in denen sich alles um das Filmemachen dreht. Leider sind die einzelnen Projekte schlecht mit der Führung abgestimmt - und als vor ein paar Tagen 30 Kinder mitsamt ihrer Eltern auftauchten, waren die Volontäre heillos überfordert, da man sie vorher nicht informiert hatte.


Das Guesthouse bietet Zimmer, in denen aufgrund der Hitze nur die Härtesten der Harten schlafen können. Doch es gibt auch eine Dachterrasse. Ein schattiger Balkon lädt zum Entspannen ein. Er ist mit einer Verkleidung aus dünnen Bambusrohren abgeschottet - gegen die Sonne, aber auch gegen die misstrauischen Nachbarn. Aus dem Film weiß ich, dass das Guesthouse für die Volontäre aus Übersee umgebaut wurde, die bei der Renovierung des Kinos halfen. Die gemeinsame Unterbringung von Männern und Frauen in einem Haus sorgte für Gerüchte.


Unten in der Lobby hängt ein Foto von Juliano Mer-Khamis. Er hat beim Aufbau des Kinos ebenfalls eine wesentliche Rolle gespielt. Seine Mutter, eine Jüdin, hatte im Flüchtlingslager der Stadt das Freedom Theatre gegründet, das er erfolgreich weiterführte. Palästinensischen Kindern sollte so Hoffnung und Perspektiven gegeben werden. Der arabisch-jüdische Künstler wurde am 4. April 2011 von einem maskierten Täter vor seinem Haus erschossen. Nach seinem Tod ging ein Teil der Volontäre vom Cinema Jenin fort. Heute würde Mer-Khamis, der seinen Wehrdienst bei der israelischen Fallschirmbrigade abgeleistet hatte und sich später zu 100 Prozent als Jude und zu 100 Prozent als Palästinenser bezeichnete, dem Projekt eine große Stütze sein. Finanziell wird das Cinema Jenin bis Jahresende noch vom Auswärtigen Amt getragen. Was danach passiert, scheint keiner so recht zu wissen. Bis jetzt ist man nicht gewinnorientiert und es genügt, wenn man auf Null herauskommt. 

Unser Nachmittag ist noch nicht zu Ende. Wir essen gut und viel in einem Restaurant, in dem ein Verwandter von Wahib arbeitet. Huhn, Lamm und zuvor eine kaum zu überschauende Vielzahl von Hummus, Salaten und Gemüse, dazu eine kühle Cola. Der Tag war unheimlich heiß und alle sind froh, einen Ort mit Klimaanlage gefunden zu haben. Nach dem Essen begleitet uns ein junger Mann namens Qais zu seinem Arbeitsplatz nördlich von Jenin, einer Open-Air-Imbissbude in einem kleinen Park. Hier genießen wir den zweiten Tee und die zweite Wasserpfeife des Tages, während die Sonne unter- und der Mond aufgeht. Unweit von hier ist die Grenze zum israelischen Staatsgebiet. Hier sitzen wir eine Weile, hören arabische und hebräische Musik, bevor wir mit dem Auto zurück zum Guesthouse fahren und den Tag auf der Dachterrasse ausklingen lassen. Qais will am nächsten Tag mit uns durch Jenin fahren und uns die Stadt zeigen.


Am nächsten Morgen kräht der Hahn. Mehrmals. Und er setzt die Definition für "Morgen" schon sehr früh an. Doch wir wollen ohnehin früh los. Nach einem kleinen Frühstück mit Hummus und Fool (gekochten Bohnen) treffen wir uns vor der Tür mit Qais.
Heute ist Jenin kaum wiederzuerkennen: Menschen und Autos - aber vor allem Autos - füllen die Straßen. Man betätigt fleißig die Hupe, um sich Gehör zu verschaffen. Wir bahnen uns unseren Weg durch die Stadt. Am Eingang des Flüchtlingslagers zeigt uns Qais eine Statue: Es ist ein Pferd, das aus den Resten eines Rettungswagens gebaut wurde, der von der israelischen Armee bombardiert wurde.


Man kann sogar den Schriftzug "Ambulance" noch erkennen... - Die Statue steht unweit von Juliano Mer-Khamis' schon erwähnten Freedom Theater.
In Jenin scheint es nicht allzu viel zu geben, das man besichtigen könnte. Doch es gibt Fotomotive ohne Ende. Und hier und da findet man Raritäten und Zeugen der Geschichte - auch über den leidigen Nahostkonflikt hinaus. So stößt man neben einem großen Bankgebäude auf ein Denkmal der deutschen Fliegerstaffel, die hier im Ersten Weltkrieg zur Unterstützung der Türken stationiert war. Es erinnert an die Gefallenen, die im Kampf gegen die Briten ihr Leben ließen.


Nach diesem "Schmankerl" tauchen wir ein in das Marktleben. Tausende von Menschen drängen sich durch die Gassen und Wege. Unter ihnen sind viele israelische Araber, die aus dem Norden nach Jenin kommen, um billig einzukaufen. Die bewachten und unbewachten Parkplätze sind überfüllt. Auffällig viele Mädchen und junge Frauen ohne Kopftuch. Die meisten von ihnen kommen von der anderen Seite des Sperrzauns.
Wir besuchen die Fatima-Khatun-Moschee, die etwa 500 Jahre alt ist, was man ihr aber nicht wirklich ansieht. Innen ist sie außergewöhnlich schlicht. Außerhalb der Gebetszeiten ist sie fast leer. Nur einige alte Männer. Ein altes Grab erinnert an die Gründerin. Ihr Mann war Bosnier und osmanischer Gouverneur von Damaskus. Damals war das Land unter den Osmanen vereint.


Draußen, vor dem Gebetshaus, tummelt sich das Leben. An den Wänden kleben vereinzelt noch Plakate, die an die Märtyrer (oder Terroristen) von damals erinnern, als Jenin noch eine Hochburg des palästinensischen Widerstandes war und Terroranschläge auf israelische Busse täglich vorkamen. Doch im Stadtzentrum gibt es deutlich weniger solcher Plakate als in Nablus, was mich erstaunt. Immerhin hatte Jenin eine andere Stellung als die übrigen Städte. Allgemein spürt man jedoch sehr wenig Knistern in der Luft. Jenin präsentiert sich als eine Stadt wie alle anderen. Touristen sieht man neben den Käufern aus Israel keine, doch es müssen welche da sein. Auch in der Stadtbibliothek, zu der uns unser einheimischer Guide führt, erweckt man den Eindruck, als wären Touristen nichts ungewöhnliches. Wir werden auf einen Tee eingeladen, nachdem man uns die verschiedenen Räume und Abteilungen der Bibliothek gezeigt hat. Um hierher zu kommen muss man das Treppenhaus mit seinen steilen Stiegen überwinden. Noch ein Stockwerk weiter oben gibt es ein Archiv, wo die Ausgaben dreier Tageszeitungen seit den Achtzigern aufbewahrt werden. Zwei Männer sitzen in einem eigenen Abteil und reparieren alte Bücher.


Das Gebäude wurde wie auch die Schule nebenan von den Türken gebaut. Die Osmanen herrschten in Palästina wie in den gesamten umgebenden Regionen bis 1917, als sie im Zuge des Ersten Weltkrieges von den Briten aus ihrem jahrhundertelangen Herrschaftsbereich zurückgedrängt wurden.


Vom Balkon der Bibliothek kann man die Abu-Bakr-Straße überblicken, die nach dem ersten muslimischen Kalifen benannt ist. Sie ist die Hauptstraße der Stadt. Hier begeben wir uns auch auf den Rückweg zu unserem Mietwagen. Durch die handelsfreudigen Händler und vorbei an hupenden Autos bahnen wir uns den Weg zum staubigen Parkplatz. Wir fahren Qais zurück zu seinem Arbeitsplatz und machen uns dann auf nach Ramallah. Die Fahrt geht durch die gewohnte Landschaft, vorbei an Bergen und über steile Hänge. Das Grün des Nordens nimmt ab, je weiter man nach Süden kommt. Doch genauso verhält es sich auch mit der Hitze. In Ramallah angekommen beginnt es sogar leicht zu nieseln - für eine halbe Minute. Der Himmel ist bedeckt. Und am Abend, als ich schon lange wieder im Jerusalemer Hostel sitze, regnet es dann sogar eine Weile. Doch bevor Chris und ich wieder im Abraham Hostel angekommen waren, mussten wir uns in die lange Schlange vor dem Qalandiya-Checkpoint einreihen. Während man von Betlehem aus mit dem Bus nahezu unbeachtet über die Grenze kommt, muss man hier durchs Drehkreuz gehen, auf das grüne Licht warten, den Gürtel ausziehen und sich durchleuchten lassen. Der gelangweilte israelische Soldat verraucht unterdessen mit seiner Wasserpfeife das kleine Kabuff, in dem er sitzt.

Der Trip hat sich auf jeden Fall gelohnt. Jenin hat mir irgendwie gefallen. Es ist eine Stadt wie viele andere im Westjordanland, mit vielen freundlichen Menschen. Doch sie ist kleiner und hat eine dramatischere Geschichte. Und ein Tag reicht sicherlich bei weitem nicht aus, um die Probleme der Menschen, die politischen Strukturen und das Zukunftspotenzial auszukundschaften. Deutlich wird nur, dass Projekte wie etwa das Cinema Jenin noch mehr (oder anders) gefördert werden müssen, da das Vertrauen innerhalb der Bevölkerung noch fehlt. Auch die Stadtbibliothek könnte mit Sicherheit Unterstützung gebrauchen. Bildung ist ein kostbares Gut und schafft Perspektiven für die Zukunft.

Morgen werde ich einen letzten Blick auf Jerusalem werfen und mich dann in Richtung Westen nach Tel Aviv vorarbeiten, um meine letzten Tagen im Land mit einer gezielten Erholungseinheit am Strand verbringen - in der Hoffnung, nicht dem nächsten Sonnenbrand zum Opfer zu fallen.


Der Beitrag ist auch auf der Seite von Rock of Peace veröffentlicht.

Donnerstag, 27. September 2012

Jom Kippur in Jerusalem

Der "Tag der Sühne" (hebräisch Jom ha-Kippurim) wird jedes Jahr zehn Tage nach dem jüdischen Neujahrsfest gefeiert. Nach dem sich wöchentlich wiederholenden Schabbat ist Jom Kippur der höchste jüdische Feiertag. Es geht um die Vergebung der Sünden, um die Beziehung zwischen Gott und den Menschen, aber auch um die Beziehung der Menschen untereinander. In den Tagen vor Jom Kippur bemühen sich religiöse Juden, Ungereimtheiten und Streit mit ihren Mitmenschen aus der Welt zu schaffen. Die dominierende Farbe dieser Zeit ist weiß: Vor allem an der Klagemauer stechen die weißen Tischbeläge ins Auge, mit denen die kleinen Gebetspulte bedeckt sind, und die helle Kleidung der betenden Gläubigen. 


In der Antike wurde Jom Kippur im Tempel begangen. Es war der einzige Tag, an dem der Hohepriester das Allerheiligste betreten durfte - nach einer langen Prozedur der rituellen Vorbereitung und Reinigung. Er verspritzte über der Bundeslade das Blut zweier Opfertiere und empfing die Vergebung für sein Volk.
Ein weiterer Brauch der Antike war es, über zwei Böcke das Los zu werfen. Während das eine Tier dann geschlachtet wurde, trieb man das andere hinaus in die Wüste, zusammen mit den Sünden des Volkes. Die Bezeichnung "Sündenbock" stammt von diesem Brauch her.

Bis heute ist Jom Kippur das wichtigste der jüdischen Feste, an dem auch die meisten säkularen Juden in die Synagoge gehen. Sogar das ganztägige Fasten (25 Stunden) wird von vielen nicht- oder wenig Religiösen eingehalten. Man geht abends ganz in weiß in die Synagoge, um das für diesen Feiertag charakteristische Kol Nidre zu hören, einen uralten aramäischen Gebetsgesang. In der Großen Synagoge in Jerusalem wurde es von einigen a-capella-Kantoren einstudiert - ein wahrer Ohrenschmaus. Bei bestimmten Teilen konnte die Gemeinde mitsingen und mitbeten, andere wurden vom Oberkantor, einem älteren Herren mit starker Stimme, vorgesungen. Der "Chor", bestehend aus anderen Männern, stimmte an speziellen Stellen mit ein.
Der Gottesdienst dauert lange. Auch den nächsten Tag verbringen viele Juden komplett in der Synagoge. Das Gebet macht vielleicht das Fasten ein wenig erträglicher. Um den Tag zu verkürzen wurde die Winterzeit einige Tage vor Jom Kippur früher als anderswo auf der Welt wieder eingeführt. Dadurch wird es früher Abend. Doch gefastet wird 25 Stunden.
In Israel fährt den ganzen Tag kein Auto. In den arabischen Stadtvierteln von Jerusalem gilt diese Regelung nicht, doch der Rest der Stadt steht still. Nur Polizeistreifen und Ambulanzen patrouillieren gelegentlich durch die leeren Straßen. Menschen erkunden die Stadt per Fahrrad und benutzen die großen Hauptverkehrsadern, auf denen sonst in den Stoßzeiten kein unbelasteter Windhauch zu erhaschen ist. Einmal im Jahr hat man die Chance, überall zu gehen und zu sitzen, ohne Angst vor Bussen und Taxis haben zu müssen.


Montag, 24. September 2012

Leute die man so trifft: Einblicke in die Jerusalemer Stadtverwaltung

Während meines Israel-Aufenthalts habe ich einige Zeit bei meinem ehemaligen Arbeitskollegen Chen verbracht. Er gehört auch zweifellos zu den vielen interessanten Menschen, die man auf Reisen trifft. Seine Studentenbude bot mir die Möglichkeit, ein wenig Abstand vom Hostel-Leben zu nehmen, das auf die Dauer vor allem finanziell etwas ins Gewicht fällt. Bei Freunden kommt man jedoch mit einem einfachen, aber guten Geradstettener Trollinger des Jahrgangs 2009 billig unter.

Hier finde ich endlich jemanden, mit dem man ein wenig über Politik und aktuelle Themen reden kann. Chen , dessen Großeltern in den 1950er Jahren aus dem Irak eingewandert waren, arbeitet in der Jerusalemer Stadtverwaltung als Office Assistant für Meir Margalit, einen Politiker der Meretz-Partei. Der Anthropologie-Student ist selbst in dieser Partei aktiv und besucht regelmäßig Demonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem - für die Rechte der Homosexuellen, für soziale Gerechtigkeit, gegen Hauszerstörungen in Ostjerusalem. Als Assistent von Meir Margalit zu arbeiten bot Chen nun neue Perspektiven und Möglichkeiten: Margalit ist zuständig für die Angelegenheiten Ostjerusalems. Er ist damit der erste Politiker einer linken Partei seit langer Zeit, dem dieser Zuständigkeitsbereich zufiel. Bisher waren meistens rechte Politiker für das größtenteils von Palästinensern bewohnte Ostjerusalem zuständig, was aufgrund der schwierigen politischen Lage in der Vergangenheit nicht selten für Komplikationen sorgte. Die Stadt steckt voller Probleme. Immer wieder lassen sich radikale jüdische Siedler in arabischen Wohngegenden nieder und beanspruchen Land für sich, was von den meisten rechten Politikern gefördert oder zumindest geduldet wurde. Illegal errichtete Häuser stehen auf Land, das seit 1967 offiziell als Grünanlage gilt, und werden oft mit einer 24stündigen Vorwarnung abgerissen. Die Bewohner werden auf einen Schlag obdachlos. In den Medien wird hier von der "Judaisierung Ostjerusalems" gesprochen. Natürlich sind die Strukturen und bürokratischen Abläufe, die dahinter stecken, nicht mit wenigen Sätzen erklärt. Doch die nationalistische Haltung der Stadtverwaltung sei bezeichnend. Margalit ist jedoch bekannt für seine kritischen Haltungen gegenüber den Ansichten des Jerusalemer Bürgermeisters Nir Barkat. Dieser vertritt nach Chen eine sehr diskriminierende und nationalistische Position gegenüber den palästinensischen Einwohnern der Stadt. In der Stadtverwaltung würden viele gute Menschen arbeiten, sagt Chen. - Aber Politik ist schließlich kompliziert.

Meir Margalit selbst war zunächst auf dem rechten Flügel der Politik angesiedelt. Der in Argentinien geborene Juden kam 1972 mit einer zionistischen Jugendgruppe nach Israel. Während seines Militärdienstes gründete er sogar eine jüdische Siedlung in Gaza. Nach seiner Teilnahme am Jom-Kippur-Krieg 1973 änderte sich seine Haltung jedoch grundlegend und er wechselte zur radikalen Linken. Im Jahr 2008 wurde er dann zum zweiten Mal in den Stadtrat gewählt, wo er die Meretz-Partei vertritt.



Die Meretz-Partei war die erste, die die Notwendigkeit eines palästinensischen Staates an der Seite des israelischen anerkannte. Die Partei wurde 1992 als Wahlbündnis gegründet und bildet heute eine linksliberale Splitterpartei, die wie viele andere Splitterparteien einige wenige Sitze in der Knesset belegt. Sie unterscheidet sich von der sozialdemokratischen Avoda, dem kommunistischen Chadasch und der arabischen Mitte-Links-Partei Balad. Die Parteienlandschaft in Israel ist sehr vielfältig. Aufgrund der niedrigen Hürde für den Einzug in die Knesset haben auch kleine, unbedeutende Parteien eine Chance. Dies erleichtert jedoch nicht unbedingt die Regierungsbildung. Dominiert wird die israelische Politik jedoch von der liberalen Kadima-Partei, dem rechten Likud-Block, der säkular-nationalistischen Partei Israel Beiteinu und der sozialdemokratischen Avoda dominiert. Auch die ultraorthodoxe Schas-Partei hat nicht zu vernachlässigendes Gewicht. Alle anderen Parteien - Meretz und die arabischen Parteien eingeschlossen - bleiben ohne wirkliche Bedeutung.

Die aufregenden Tage des Protests gegen die soziale Lage der Bevölkerung in Israel sind vorbei. Vor einigen Tagen hat Chen zusammen mit einigen anderen Meretz-Aktivisten gegen die Uhrumstellung demonstriert. In Israel wird die Uhr immer vor Jom Kippur auf Winterzeit zurückgestellt - gut eineinhalb Monate vor Europa und den anderen Ländern. Der Grund? Religiöse Juden fasten an Jom Kippur. Nach Aussage der Ultraorthodoxen werde das Fasten erleichtert, wenn es eine Stunde früher dunkel werden würde. Was eigentlich Unsinn ist, behaupten viele Gegner, denn gefastet wird ohnehin 25 Stunden. - Es gäbe viele Gründe, gegen die Orthodoxen zu demonstrieren. Sie zahlen keine Steuern, bekommen Gelder vom Staat, arbeiten nicht, bekommen dafür aber zwischen sechs und elf Kindern. Und sie sind vom Wehrdienst befreit. Zwar regt sich in der israelischen Gesellschaft langsam Widerstand, doch es werde wohl nie zu einer Pflicht für die Orthodoxen kommen, meint mein Kollege Chen. Und selbst wenn - ein Orthodoxer würde wohl eher ins Gefängnis gehen, als seinen Wehrdienst für ein Land abzuleisten, dessen Existenz er selbst als Gotteslästerung auffasst.

Im Treppenhaus kleben Sticker der Partei. In Chens Wohnung stapeln sich die Kisten. Diese Woche zieht er um in einen anderen Stadtteil. Dazu muss er seine hunderte von Büchern auf allen möglichen Sprachen irgendwo unterbringen. Auch ich verlasse seine Wohnung wieder, um im Hostel zu wohnen und so an Jom Kippur näher am Stadtzentrum zu sein. An diesem Tag steht der Verkehr still und man ist überall recht abgeschnitten. Ich will jedoch abends in die Synagoge gehen und muss deshalb zentral wohnen. Und der dazugehörige Bericht wird dann auch folgen.

Freitag, 21. September 2012

Ein kurzer Abstecher nach Hebron

Wahrscheinlich waren es meine Nasennebenhöhlenentzündung, das beginnende Fieber und die September-Sonne, die mich von einem längeren Ausflug nach Hebron abgehalten haben. Diese Stadt, der ich persönlich noch nie etwas abgewinnen konnte, die aber ein Muss für jeden Besucher des Heiligen Landes ist, hatte ich in der Vergangenheit schon mehrere Male besucht.

Dieses Jahr bin ich von Jerusalem aus mit den arabischen öffentlichen Verkehrsmitteln angereist. Mit dem Bus vom Damaskustor in Jerusalem aus bis kurz vor Betlehem, dann weiter mit dem Sammeltaxi direkt nach El-Chalil, wie Hebron auf Arabisch heißt. Die Fahrt dauert eine knappe Stunde. Keine Checkpoints, keine Komplikationen. In der Stadt selbst herrscht Hochbetrieb. Der Basar ist um die Mittagszeit mit Menschen gefüllt und äußerst lebendig.


Nach einigem ziellosen Herumlaufen möchte ich zur Abrahamsmoschee, der Hauptsehenswürdigkeit, und in die jüdische Siedlung. Da Hebron die größte Stadt des Westjordanlandes ist bin ich einigermaßen verloren. Ein Taxifahrer macht das große Geld mit mir, indem er mich in die Nähe des Zielortes bringt. In jenem Teil der Altstadt, der an die jüdische Siedlung angrenzt, ist wenig los. Hier fällt man dann auch wieder auf als westlicher Tourist und erntet die misstrauischen Blicke der Umstehenden. Irgendwie gelingt es mir nicht, zu dem Heiligtum vorzudringen. Zu viele geschlossene Durchgänge sind im Weg. Und der Eingang zur jüdischen Siedlung, von der aus man auch zu den Gräbern von Abraham, Isaak und Jakob sowie deren Frauen gelangt, befindet sich anderswo. Ich laufe nach Gefühl und komme dann näher an mein Ziel.

Wandmalerei im arabischen Hebron

Irgendwann erreiche ich auch wieder die Straße, die man aufgrund der Wurfattacken jüdischer Siedler mit Gittern und Netzen abgesichert hat. In alten Reiseführern ist noch das Bild einer verwüsteten und unzugänglichen Straße zu sehen. Heute pocht hier das Leben der Stadt. Neben einigen kleineren Reisegruppen, die eine politische Führung absolvieren und sich (meist einseitig) weiterbilden lassen, trifft man hier auf die normalen Bewohner der Gegend, die ihr Geld in Kleidung und Nahrung investieren. Auf den Gittern liegen jedoch noch Steine, Dosen und aller möglicher Unrat.


Aus einem der Geschäfte klingt einschlägige Musik... - Da ich als selbsternannter Nahostexperte aus meinen Recherchen auf Youtube das ein oder andere Hamas-Kampflied kenne und (ohne jedoch den Text einwandfrei zu verstehen) auch zuordnen kann, identifiziere ich einen mehr oder weniger bekannten Nasheed, der aus dem Kleidergeschäft tönt und Raketen, Molotow-Cocktails und Märtyrer besingt.


Am Übergang zur jüdischen Siedlung spricht mich ein angeblicher Student von der örtlichen Universität an. Er will mir die Wahrheit zeigen, denn keiner kenne sie so gut wie er. Er erzählt mir etwas von den Juden und von den Osloer Verträgen. Ich erkläre ihm, dass ich schon einmal hier war und dass ich mich ein wenig auskenne.
In Hebron will jeder seine Version der Geschichte loswerden. - Es tut mir leid, aber irgendwie mag ich diese Stadt nicht.
Und es wird auf der anderen Seite ja nicht besser.

(Um die Dramatik zu steigern habe ich die nächsten Fotos in Schwarz-weiß geschossen. Ich kündige das hier an, damit niemand auf die Idee kommt, es wäre ein von mir heimlich eingebautes und irgendetwas bezwecken wollendes Stilelement. Es passt nur einfach zu dieser Stadt.)

In der Siedlung ist nichts los. Sogar der Checkpoint davor sieht dieses Mal recht gleichgültig aus. Der Palästinenserin vor mir schaut ein Soldat kurz in die Tasche und winkt sie dann durch. Normalerweise muss man hier Schlange stehen. Mich fragt man, was ich drüben getan hätte. Ich muss nicht einmal den Rucksack öffnen.


In der jüdischen Siedlung von Hebron leben ungefähr 800 Siedler. Sie werden von Soldaten der israelischen Armee beschützt. Daneben gibt es in diesem Teil der Stadt noch 32.000 Palästinenser. Die bekannte Straße der Siedlung, al-Shuhada Street, ist gesäumt von zwangsgeräumten und versiegelten Geschäften. Hier ist kein Leben zu spüren. Nur vereinzelt kommen palästinensische Kinder aus der Schule zurück.


Die radikal-fundamentalistischen Juden, die hier leben, wollen die heiligen Stätten schützen. Die Höhle, die einst der Patriarch Abraham als Begräbnisstätte für sich und seine Frau gekauft hatte, ist ein wichtiges Heiligtum sowohl im Judentum als auch im Islam. Beide Religionen teilen sich diesen Ort.


Innerhalb der jüdischen Siedlung erinnern Schilder und Gedenktafeln an die Toten, die in der Vergangenheit den Gräueltaten von palästinensischen Terroristen zum Opfer gefallen sind. Es wird ausführlich das Massaker von 1929 beschrieben, bei dem 67 Juden ermordet worden waren. Das Massaker war traumatisch für die jüdische Gemeinde von Hebron, wird bis heute jedoch auch stark ideologisiert. Von den vielen arabischen Familien, die hunderte Juden vor dem Tod retteten und in ihren Häusern versteckten, ist nirgends die Rede.

Eine Tafel erinnert an die Opfer eines Attentats

Hebron ist eine Stadt der Massaker. Auch die Muslime hatten darunter zu leiden: Der jüdische Extremist Baruch Goldstein stürmte 1994 den muslimischen Teil des Heiligtums und erschoss 29 betende Palästinenser, bevor er mit einem Feuerlöscher erschlagen wurde. Vielen Siedlern gilt er heute als Märtyrer, sein Grab wird verehrt.

Eine Stadt voller Geschichten - und es sind fast ausnahmslos Geschichten des Leids. Hebrons jüdische Siedlung ist verbarrikadiert, Mauern und Stacheldraht sieht man an jeder Ecke. Die Menschen ignorieren sich oder feinden sich an. Einen Mittelweg scheint es nicht zu geben. Ich habe einmal eine Dokumentation über die jüdische Siedlung in Hebron gesehen, da wurde eine Siedlerin gefragt, ob sie die Araber nicht stören würden. Wenn sie aus dem Fenster sehe, blicke sie ja direkt auf die arabische Seite. Die Frau überlegte kurz, dann zuckte sie nur mit den Schultern und sagte so etwas wie: "Ja, natürlich... es wäre schöner, wenn sie weg wären. Aber für mich existieren sie gar nicht." - In Hebron lebt man aus Feindseligkeit aneinander vorbei. Keine der beiden Seiten ist die eindeutig bessere. Als ich an der Bushaltestelle sitze, gehen einige palästinensische Schulkinder, Jungen und Mädchen, an uns vorbei und schneiden dem alten Juden neben mir Grimassen und rufen unschöne Dinge. Ein bewaffneter Siedler fährt mit einem Golfplatzmobil durch die Gegend, als würde er auf Patrouille fahren. Die Soldaten an ihrem kleinen Stand schauen nur desinteressiert zu. Ein Junge geht zu einem der Uniformierten und zerrt an einem Gummigurt, den dieser in der Hand hält. Der israelische Soldat ist sichtlich genervt, verkneift sich aber alles, was später irgendwann mal auf Youtube erscheinen könnte. Der Junge zieht weiter. Er hat heute den Helden gespielt und ist im Ansehen bei seinen Freunden garantiert gewachsen.
Und ich warte, dass endlich der Bus mit seinen Panzerglasscheiben kommt, der mich aus diesem unseligen Ort wieder fortbringt.

Montag, 17. September 2012

Nablus - Ein Ausflug nach Palästina

Seit meinem letzten Besuch in Nablus im Februar 2011 hat sich nicht viel verändert. Nur das übergroße Plakat des inhaftierten Terroristen/Freiheitskämpfers Marwan Barghuthi prangt nicht mehr am Ortseingang. Das geschäftige Treiben in der Altstadt, die vielen Taxis und der Duft der Bäckereien und das Gegacker der Hühner in ihren garantiert nicht EU-konformen Käfigen ist noch immer dasselbe. Auf dem Weg hinunter vom Berg Garizim bietet sich uns der Blick über die ehemals bedeutendste Stadt Samarias.

Panorama

Ein vielfaches palästinensischer als Ramallah und weniger bis gar nicht touristisch ist diese Stadt zwischen den zwei Bergen - dem Garizim und dem Ebal - ein gut gelegenes Ziel für einen Ausflug von Jerusalem aus. Die Anreise erfolgt per Bus via Ramallah. Je nach Dichte der Checkpoints dauert die Fahrt mal länger, mal weniger lang. In der Regel benötigt man etwas mehr als eine Stunde.

Um aus einem einzigen Nachmittag das meiste herauszuholen, haben wir uns zuerst unseren Weg durch die Gassen gebahnt auf der Suche nach der ultimativen kulinarischen Köstlichkeit: Kafeh. - Ein zuckersüßes Etwas von zweifelhafter Konsistenz, hergestellt aus weißem Käse, überbacken mit orangem Weizen und übergossen mit Sirup. Auf jeden Fall lohnenswert.

Knafeh

Das kleine Lokal war ein Geheimtipp eines meiner Mitreisenden, direkt neben einer Parfümerie gelegen, in der man angeblich importierte Meisterwerke der französischen Duftkunst käuflich erwerben kann - was westliche Touristen natürlich sofort tun.
Und weiter ging's zur Seife. Die gute Olivenseife à la Nablus stand von Anbeginn auf meiner Einkaufsliste. Drei Fliegen mit einer Klappe schlagend griff ich zu: Kurbelte ich doch durch meinen Kauf die schwache palästinensische Wirtschaft an, erwarb ich gleichzeitig auch ein Stück Geschichte, das aus einer Zeit erzählt, in der Nablus noch der wirtschaftliche Knotenpunkt des damaligen Palästina war - an der Straße nach Damaskus gelegen und umgeben von Olivenhainen. Und ein Haufen origineller Souvenirs in Form grünlichbrauner, wage an Würfel erinnernder Klötze war mein.

Seifenklötze (hier verpackt), Öl und Eier

Das Aroma des Suq begleitet einen durch die Gassen. Bäckereien, Gewürzhändler und Fleischer, Souvenirhändler mit Schachbrettern und Lebensmittelhändler lassen den Orient aufleben, wie man ihn sich erträumt. Was in Jerusalem manchmal künstlich wirkt, hat hier seine Authentizität behalten.

Gewürze

Man darf jedoch nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, dass im Jahre 2004 die Arbeitslosenrate in Nablus bei 60% lag. Die Menschen haben nur das Nötigste und sind oftmals auf Improvisationen angewiesen. Touristen sind ein seltenes Bild; blonde Deutsche sind wandelnde Attraktionen. Die Einwohner der Stadt versuchen, sich mit dem Handel über Wasser zu halten. Und selbst die Limonade aus der PET-Flasche, für die man als Tourist schätzungsweise den doppelten Preis bezahlt, ist mit ihren 4 Schekeln immer noch halb so teuer wie in Israel.

Bäckerei
Nablus hat wirtschaftlich gewiss noch ein großes Potenzial. Dieses Jahr wurde der Hawara Roadblock entfernt. Seitdem kann auch wieder die berühmte Eiscreme nach Jordanien und in den Irak exportiert werden. Pro Tag werden von Al-Arz ganze 50 Tonnen Eis produziert.
Die Stadt ist gesäumt von Autowerkstätten und Möbelhandlungen, von denen jedoch auch jede einzelne die Frage offen lässt, ob denn genug Kundschaft für das Angebot da ist.

Der Wirtschaft würde eine Beschleunigung des Friedensprozesses (oder besser: die Wiederingangsetzung desselben)  gut tun. Doch in Nablus ist die Distanz zu Israel oder einer baldigen Lösung des Konflikts größer als an vielen anderen Orten. In den Gassen hängen noch hunderte Plakate der "Märtyrer" aus Zeiten der Zweiten Intifada. Es sind Kämpfer der Al-Aqsa-Brigaden, Terroristen - aber auch Kinder. Viele der Abgebildeten sprengten sich in israelischen Linienbussen selbst in die Luft und wurden so zu Mördern, andere wurden bei einem der vielen Einsätze der israelischen Armee inmitten der Stadt als unschuldige Zivilisten getötet. Sie haben die unterschiedlichsten Schicksale, doch hängen sie an derselben Wänden - verewigt für einige weitere Jahre, auf vergilbendem Papier, das sich schon vom Untergrund löst. Der Schmerz der Hinterbliebenen, der Stolz, die Wut - diese Emotionen werden die Lebensdauer des Papiers überleben. Um hier in naher Zukunft Brücken bauen zu können bedarf es einer real wahrscheinlich nicht existierenden Kraft.


Samstag, 15. September 2012

Die Samaritaner

Es gibt von ihnen noch etwa 750 Personen - und sie müssen Frauen von außerhalb in ihre Gemeinschaft bringen, um sich und ihre Kultur am Leben zu erhalten. Zur Zeit des britischen Mandats zählten sie nur noch 150 Mitglieder, doch bis heute ist ihre kleine Gemeinde gewachsen. Die Samaritaner leben nur noch an zwei Orten: im israelischen Holon und im palästinensischen Nablus.


















Wir trafen den Museumsdirektor Husney W. Cohen im Gemeindezentrum auf dem Berg Garizim, über den Dächern der Stadt Nablus. Die Anreise per Bus aus Jerusalem und Ramallah hatten wir auf uns genommen, um das Museum zu besuchen. Zuerst erschien es geschlossen. Renovierungsarbeiten, erklärte mir ein Anwohner. Doch nach einigem Fragen fanden wir den älteren Herrn dann auf der Treppe der Bibliothek. Für umgerechnet 5 Euro wollte er uns eine private Führung anbieten. Er suchte seine Schlüssel, dann zeigte er uns das Buch, das er selbst geschrieben hatte: "Die Verirrung der Israeliten" heißt es. Das Werk ist bisher nur auf Arabisch vorhanden, soll aber auch auf Englisch und einige andere Sprachen übersetzt werden, so groß sei die Nachfrage. Darin erklärt er seine eigene Version der Wüstenwanderung, die Moses mit dem Volk der Israeliten in 40 Jahren zurücklegte, bevor er ins Land Kanaan einzog. Durch die samaritanische Überlieferung der althebräischen Sprache seien die Ortsnamen in ihrer ursprünglichen Form erhalten geblieben und man könne den Weg des Volkes aus samaritanischer Perspektive besser nachvollziehen als aus der Überlieferung der hebräischen Bibel. Im Museum zeigt er uns den Weg auf einer Landkarte.


Doch es geht nicht nur um Geografie. Cohen, der Experte und (wahrscheinlich) künftiger Hohepriester der Samaritaner, zeigt uns anhand von Slide-Shows die blutigen Opferrituale am Pessach-Fest. Auf dem Berg Garizim befand sich vor langer Zeit der legitime Tempel - zumindest aus Sicht der ansässigen Samaritaner. Als Hohepriester fungiert immer der älteste aus der Familie, die sich vom Stamm Levi herleitet. Er sei der nächste in der Reihe.

Im Jahre 722 v. Chr. wurde die samaritanische Oberschicht von den Assyrern verschleppt. Die normale Bevölkerung blieb jedoch in der Region. Die Samaritaner überstanden auch den Einfall der Babylonier um 586 v. Chr., durften jedoch nach der Rückkehr der Verschleppten nach Judäa nicht am Bau des Tempels in Jerusalem teilhaben. Zum zentralen Heiligtum wurde der Tempel auf dem Berg Garizim. Die Samaritaner bewahrten sich ihre alten Überlieferungen der Heiligen Schrift und spalteten sich vom Judentum ab, das selbst noch im Entstehen war. Bis heute haben sie die alte und aus ihrer Sicht ursprüngliche Form der Torah bewahrt. Die prophetischen Bücher des Judentums jedoch sind für die Samaritaner nicht von Bedeutung.


Heute führt Husney W. Cohen durch das anschauliche und überraschend moderne Museum. Er präsentiert die Kopie der ältesten Torahrolle, die jedoch geraubt wurde, und erklärt, dass die Kinder diese antike Sprache lernen müssen, um die Traditionen zu erhalten. Man habe den Frauenmangel überwunden, indem man eine große Anzahl jüdischer, christlicher und muslimischer Frauen in die Gemeinschaft hätte einheiraten lassen.
Cohen zeigt uns auch seine drei Pässe: Er besitzt einen palästinensischen, einen jordanischen und einen israelischen. Die Samaritaner in Holon besäßen nur einen israelischen, erzählt er. Doch hier im Westjordanland sei die politische Lage zu schwierig.


Nach diesem kleinen Exkurs nahmen wir uns wieder ein Taxi ins Tal und tauchten ein in das charmante Chaos von Nablus, in die endlosen Gassen des Suq, wo man Olivenseife kaufen und einen Tee genießen kann, bevor man die Rückreise nach Jerusalem antritt.

Freitag, 14. September 2012

Impressionen vom Golan

Heute habe ich unseren Mietwagen zum Flughafen gebracht, weil am Freitagabend alle sonstigen Autovermietungen im Land geschlossen haben. In den letzten Tagen hat uns unsere Exkursion vom See Genezareth bis auf den Golan und anschließend nach Haifa am Mittelmeer geführt. Nun sind wir in Tel Aviv angekommen und lassen den gemeinsamen Urlaub ausklingen. (Für mich ist die Reise ja noch lange nicht vorbei, aber für die drei anderen endet hier die Tour.)

Am See Genezareth, dem wichtigsten natürlichen Wasserreservoir Israels, stießen wir gleich neben unserer Jugendherberge auf die Ruinen von Khurvat Minya, einem umayyadischen Winterschloss aus dem 8. Jahrhundert, wo sich die Herrscher aus Damaskus die Zeit vertrieben. Unsere Orientalistenherzen schlugen höher. Das Areal ist überraschend weitläufig und archäologisch nur halbherzig erschlossen. Am Eingang gibt es nur eine einzige Hinweistafel. Teile der Ruinen liegen noch unter der Erde vergraben.

Der Eingang
Die Überreste der Moschee

Undefinierbare Artefakte

Vom See Genezareth ging es weiter auf den Golan. Seit 1967 von Israel besetzt besitzt das Gebirge jedoch einen besonderen Charme. Sowohl landschaftlich als auch historisch finden sich hier einige Kuriositäten. Der Yehudiya-Nationalpark verspricht Wandern und Erfrischung, die zahlreichen Ruinen alter arabischer Dörfer zeugen von der Vergangenheit. Stacheldraht, nie geräumte Mienenfelder, befestigte Bunkeranlagen und alte Armeestellungen machen die Brisanz einer Erkundungstour aus. Doch es ist vor allem der Blick nach Syrien, wo dieser Tage ein unmenschlicher Bürgerkrieg tobt, der einem die Lage der Region vor Augen führt. Aus der Ferne sieht das alles sehr ruhig und beschaulich aus. Doch nur wenige Kilometer sowie ein schmaler Streifen UNDOF-Pufferzone trennen uns von der Straße nach Damaskus.

Eine alte blockierte Brücke an der ehemaligen Grenze zu Syrien

Blick nach Syrien

Bunkeranlagen auf dem Golan

Von dem Hügel, auf dem sich übrigens auch einige riesige, mehr oder weniger arbeitenden Windräder befinden, kann man auch nach Quneitra schauen, einer zerbombten und unbewohnten Stadt, die sich mitten im UNDOF-Gebiet befindet. Nur eine einsame syrische Fahne weht über den Trümmern des Ortes.

Wir folgen der Strecke weiter nach Norden. Bald kommen wir nach Madschdal Schams, einem überwiegend von Drusen bewohnten Ort am Hang des Hermon. Hier kann man die bekannte Drusen-Pita essen, ein mit Quark und Saatar gefülltes Brot. Kein kulinarisches Feuerwerk, aber doch ein Stück Kultur. Die meisten Aufschriften über den Lokalen und Geschäften sind in hebräischer Schrift, die Menschen sprechen alle recht gut Hebräisch.

Madschdal Schams

In unmittelbarer Nähe hatten am 15. Mai 2011 syrische Palästinenser die Grenze zum Golan gestürmt und waren auf israelisch besetztes Territorium vorgedrungen. Vier Demonstranten waren getötet worden, durch israelisches Feuer und durch explodierende Mienen, die durch Molotow-Cocktails ausgelöst wurden. Einige der Demonstranten tauchten in dem Ort unter. Ein Palästinenser war von hier sogar bis nach Tel Aviv gereist, um das Haus seines Großvaters zu besuchen.



Auf unserem Weg hinunter vom Golan kamen wir noch an der Nimrodsburg vorbei. Dieses mittelalterliche Gemäuer erinnert an den biblischen König Nimrod, der auch im Koran genannt wird. Nach der muslimischen Tradition soll er von Gott durch eine Fliege getötet worden sein, die in seiner Stirnhöhle umhersummte und ihm unsägliche Schmerzen bereitete. Die Burg selbst wurde jedoch von einem Neffen des Sultan Saladin im Jahre 1229 errichtet.

Donnerstag, 13. September 2012

Jerusalem

Nachdem unsere kleine Reisegruppe komplett war, haben wir zuerst einmal die Stadt erkundet. Jerusalem ist einer der faszinierendsten Orte der Welt. Hier treffen sich Orient und Okzident, hier stoßen die unzähligen Facetten von Tradition und Moderne zusammen. Und nicht zuletzt die drei großen monotheistischen Weltreligionen finden in Jerusalem einen ihrer wichtigsten - wenn nicht sogar den wichtigsten - Mittelpunkte.

Über Jerusalem habe ich in der Vergangenheit viele Blogeinträge gemacht, deshalb werde ich mich hier auf einige neue Fotos beschränken. Viele Motive bleiben auch nach Jahren vielversprechende und lohnenswerte Objekte zum Ablichten.

Die Al-Aqsa-Moschee


















Orthodoxe Juden beim Gebet an der Klagemauer

















Nur wenige Meter trennen das Areal der Al-Aqsa-Moschee von der jüdischen Klagemauer, dem letzten Überrest der Befestigung de riesigen Plateaus, auf dem der Tempel bis 70 n. Chr. stand. In unmittelbarer Nähe befinden sich hier die Betstätten von Muslimen und orthodoxer Juden, die in ihrer traditionell-osteuropäischen Kleidung in der Sonne schwitzen. Und inmitten des Geschehens bahnen sich Touristengruppen ihren Weg durch das Gewusel, zerstören bisweilen die einzigartige Atmosphäre und sind doch nicht wegzudenken.

Der Hiskija-Tunnel

Ein interessanter Ort befindet sich unter der sogenannten Davidsstadt, einer archäologischen Ausgrabungsstätte, die als das ursprüngliche Jerusalem angesehen wird, politisch jedoch für Brisanz sorgt, da für die Arbeit der Archäologen einige arabische Häuser abgerissen wurden. - Unter der Davidsstadt verläuft ein Tunnel, der eigens für die Wasserversorgung in den Felsen gehauen wurde. Er soll 701 v. Chr. von König Hiskija gebaut worden sein, um angesichts des assyrischen Ansturms die Frischwasserzufuhr der Stadt zu schützen.
Heute kann man den Tunnel begehen. Dabei legt man jedoch nur einen kleinen Teil der Strecke trockenen Fußes zurück. Lange 450 Meter muss man in totaler Dunkelheit, nur mit dem Licht eines Handys und in weitgehend geduckter Haltung in eiskaltem Quellwasser waten, das bis zu 70 cm hoch wird. Ein Muss für alle Tunnel- und Höhlenfans.

Um auf den Tempelberg zum Felsendom und der Al-Aqsa-Moschee zu gelangen, muss man sich dieser Tage in die lange Schlange in der Hitze wartender Touristen einreihen. Nach einer guten Stunde hat man sein Ziel jedoch erreicht.

 Der Felsendom - ein immer wieder lohnendes Motiv

Mittwoch, 5. September 2012

Angekommen

Nach einem zu langen Tag bin ich vorhin in Jerusalem angekommen. Da war wieder alles dabei, von einem badischen Snack am Morgen über die ungewohnte Ruhe der Schweizer in Basel bis hin zu den typisch israelischen Israelis im Warteraum des Flughafens. Die altbekannte Unordnung lässt schon im Flugzeug die Erwartung auf Israel steigen. Ich vertreibe mir die Zeit, indem ich die fremden Gesichter und Hüte einmal Tel Aviv und einmal Jerusalem zuzuordnen versuche. Man kann als Kenner deutlich zwischen diesen beiden Menschentypen unterscheiden.
Die Grenzkontrollen fallen dieses Mal aus, ich bekomme unkompliziert meinen Stempel in den Pass. Von einer Hitzewand (abends um 19.00 Uhr) förmlich erschlagen setze ich mich in ein Sammeltaxi. Ein orthodoxer Jude sitzt schon, ein ukrainischer New Yorker steigt noch zu. Er spricht den Orthodoxen auf Jiddisch an. Nach einer kurzen Weile unterhalten sich die beiden über alles mögliche. Natürlich ahnt niemand, dass ich alles verstehe. Der Fahrer kann nur Hebräisch, die alte Dame hinter ihm nur Französisch. Irgendwo in Jerusalem sind wir ihrem Zielort sehr nahe gekommen. Der Fahrer fragt einen Jungen am Straßenrand, ob wir hier denn richtig seien. Die Dame schaut auch raus und merkt an, dass das der Schmuel sei. Der Fahrer ist verwundert, ruft dem Jungen dann aber noch hinterher: "Schmuel, warte! Du bekommst Besuch!" Und weiter geht's.
Irgendwann komme auch ich an, checke schnell ein, werfe mein Zeug in die Ecke und gehe erstmal los, um mir was zu trinken und zu essen zu kaufen - nach so einem langen Tag auch nötig. Wie man doch vom vielen Rumsitzen (im Zug, im Flughafen, im Flugzeug - und immer sind die Plätze viel zu eng gewesen) so kaputt sein kann...
Ein kleiner Spaziergang durch die Fußgängerzone, von der Straßenbahn fast überrollt, für einen Schisch-Kebab-Spieß zu viel bezahlt... da fühle ich mich heimisch. Und im Aufenthaltsraum des Abraham Hostels ist wieder so viel los wie letztes Jahr schon, während ich meinen Post online stelle, ohne ihn nochmal durchzulesen - und sogar der missionierende Taiwanese ist da, der allen von seinen Erleuchtungen erzählt und das Jerusalem-Syndrom zur Schau stellt. 

Morgen sehe ich mich mal um. Ich muss ja sichergehen, dass hier alles beim Alten geblieben ist. ;)

Montag, 3. September 2012

Liebe Leser,

ab Mittwoch, den 5. September 2012 gibt es hier wieder Neuigkeiten und Berichte aus dem Nahen Osten zu lesen!

Ab Mittwoch werde ich wieder für 4 Wochen in Israel und Palästina sein und mich vor Ort mit ein paar Leuten zusammen und alleine umsehen. Hier könnt Ihr dann die aktuellsten Berichte verfolgen! Neues aus Jerusalem und Interessantes aus der Metropole Tel Aviv findet Ihr hier. Auf meiner Liste stehen außerdem wieder Hebron, Nablus und dieses Mal auch Jenin!

Klickt euch rein!

Euer 
Thorschten 


PS: Kennt Ihr schon unsere Friedensbewegung Rock of Peace?