Montag, 10. Oktober 2011

Jerusalem Light Rail - Ein Zug, der eine Stadt verändert

Reportage



Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet: Die Tür öffnet sich, man tritt in das klimatisierte Abteil, die Türen schließen sich, ein Ton ertönt - und die Straßenbahn bahnt sich ihren Weg durch eine der umstrittensten Hauptstädte der Welt. Ich habe vor nunmehr schon längerer Zeit ein ganzes Jahr in Jerusalem verbracht und den Prozess des Bauens verfolgt. Typisch für diese Breiten ist es, dass man sich bei jedem Projekt zwar ein Limit setzt, dann aber ohne Scham jahrelang ins Blaue baut. Ich habe Straßen gesehen die gesperrt wurden, über die Schienen gelegt wurden und die dann für den Verkehr doch so unabdingbar waren, dass man über die fertige Trasse kurzerhand eine Folie legte und eine frische Ladung Teer schichtete - um diese dann Monate später wieder aufzureißen und weiterzubauen. Gebaut wurde nachts, weil die Hitze am Tag keine Baustellenarbeit erlaubte. Die Eröffnung der Bahnstrecke durch Jerusalem war meines Wissens auf 2008 angelegt. In den Jahren 2009/10 war ich selbst vor Ort und wartete darauf, dass man endlich das Verkehrschaos umgehen könnte. Für den Jerusalemer Durchschnittspassagier wurde die Strecke nun im Sommer 2011 eröffnet. Kurze Zeit später war auch ich dabei.

Es ist kein Witz wenn ich behaupte, dass es etwas Berührendes für mich hatte, als ich mit diesem Zug gefahren bin. Die Jerusalem Light Rail bringt verschiedene Neuerungen mit sich: Zum einen wurde aus der stark befahrenen Jaffa Street eine nahezu idyllische Fußgängerzone. Früher reihten sich hier die Busse aneinander, wenn der erste an einer Bushaltestelle hielt und die fünf anderen Busse hinter ihm warten mussten. Heute fährt hier kein Auto mehr. Die Jerusalemer Innenstadt hat an Lebensqualität gewonnen. Doch es ist nicht nur das. Die gesamte Dauer der Bauarbeiten war diese eine Straßenbahnlinie eines der großen Themen der Lokal- oder sogar Weltpolitik. Von der israelischen Stadtverwaltung geplant, verläuft diese Strecke letztlich quer durch die ganze Stadt, durch israelisch-jüdische Teile wie auch durch das mehrheitlich arabische Ostjerusalem. Der Vorwurf wurde laut, Israel wolle Fakten schaffen und Jerusalem mithilfe dieser Bahn auf ewig judaisieren. Da Jerusalem für den jüdischen Staat die "ewige und ungeteilte" Hauptstadt ist, lag die Vermutung nahe, man wolle hier kommende politische Ereignisse beeinflussen oder blockieren.


Als ich im September 2011 in Jerusalem war und ein wenig Bahn fuhr, hatte ich jedoch Augen für ganz andere Dinge. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Fahrkarten und die Benutzung des Zuges war praktisch kostenlos - ein sehr positives Faktum. Ich fand es aber vor allem lohnenswert, mit der Bahn zu fahren, weil man sich hier an einem der wenigen Orte in Israel befand, an dem Israelis und Palästinenser gleichermaßen vertreten waren. Sie hatten teilweise die gleichen Ziele, benutzten die selben Eingangstüren, stiegen ein und aus - als wäre alles normal. Und genau das gefiel mir. Man muss nämlich wissen, dass in Jerusalem jede Gruppe ihren eigenen Sektor hat - auf fast allen Ebenen. Israelis und Araber leben meistens in getrennten Wohnvierteln, sie kaufen größtenteils in unterschiedlichen Geschäften ein. Im öffentlichen Nahverkehr läuft man sich ebenfalls kaum über den Weg: Israelis benutzen die grünen Busse der Busgesellschaft Egged, während die arabischen Passagiere ihre eigenen Kleinbusse benutzen. Während Egged meist nur durch jüdisch-israelische Wohngegenden fährt, verkehren die arabischen Kleinbusse ihrerseits hauptsächlich zwischen den arabischen Vierteln der Stadt. Die Straßenbahn schafft also etwas, das man zu aller erst einmal positiv bewerten sollte: Israelis und Araber fahren gemeinsam durch Jerusalem. Bislang kostenlos, in einem klimatisierten Zug - und das alle 15 Minuten. Vom Herzlberg bis nach Khair haAvir in Ostjerusalem. Die Anzeigentafeln an den Haltestellen sind dreisprachig: Hebräisch, arabisch und englisch. Ebenso die Fahrpläne und die Durchsagen vor jeder Station. Und eines steht fest: Vor eventuellen Selbstmordattentaten in der Zukunft ist man in der Bahn sicher.

Die Jerusalemer Straßenbahn könnte zu etwas werden, was unbedingt zu einem Israel-Besuch dazugehört. Denn hier erlebt man hautnah das Lebensgefühl des Landes. An einem Morgen fuhren wir zum Herzlberg, in Richtung Yad Vashem. Es war zugegeben nicht die beste Zeit, um in Jerusalem von A nach B zu gelangen. Der Zug war überfüllt. Doch wie die Leute im Orient eben sind gilt nach wie vor die Devise: Ich zuerst! - Wahrscheinlich wird man in den nächsten Wochen einen deutschen Beamten engagieren, der den Menschen beibringt, wie man einen Zug benutzt: Erst rauslassen, dann einsteigen. - Doch bislang hat man dort von mitteleuropäischer Nahverkehrskultur noch nichts gehört. Egal ob da jetzt eine Oma mit ihrem Enkel aussteigen will oder nicht, es wird gedrückt. (Die Frau begann nach einer Weile zu schreien und lautstark zu schimpfen. Sie fragte, ob wir hier im Dschungel seien. Die anderen Fahrgäste forderten sie auf, endlich Ruhe zu geben.) Der sonst so pünktliche Zug bekommt bei jeder Haltestelle mehr Verspätung. Die Türen gehen nicht zu, die Menschen schwitzen. Nichts für schwache Nerven und Platzangst. Doch die Menschen kommen auch ins Gespräch, so absurd wie das jetzt auch klingt. Ich drücke mich mit einigen Arabern und einer religiösen Jüdin an die gegenüberliegende Tür und habe Angst, gleich den Abflug machen zu müssen, sollte der Schließmechanismus aus irgendeinem Grund ausfallen. Man schüttelt den Kopf über die ignoranten Neueinsteiger. "Od schawua", sagte ein Mann. "Noch eine Woche." Dann werde es wieder Tickets geben und der Zug würde leer sein. Warum es jetzt keine gebe? Nun ja, es gab wohl mal Zugtickets. Es gab in den orthodoxen Wohnvierteln sogar Vorverkaufsbude, für Männer und Frauen getrennt. Streng nach den religiösen Regeln. Aber irgendwie hat es alles nicht hingehauen. Deswegen hat man es erstmal gelassen. - Typisch Israel, denke ich mir. Auf dem Rückweg bekomme ich die Konversation mit, die ein Security Guard mit dem Lockführer hat. Die hinteren Türen lassen sich nicht schließen, weil Menschen drinstehen. Durch die Vordertür darf niemand einsteigen, denn da steht der Guard. Hier kann man nur aussteigen. Interessieren tut sich dafür allerdings keiner. Ein stämmiger Israeli will einsteigen. Durch diese Tür. Er steht vor dem jungen Sicherheitsmann und betrachtet den "jungen Rotzlöffel" abschätzig. Irgendwie entschärft sich die Lage, als der Zug einfach losfährt. Wer den totalen Balagan (hebr. Chaos) erleben will, muss hierher kommen, zur Hauptverkehrszeit.


So umstritten dieses ganze Projekt auch sein mag - es hat hingehauen. Die Stadt wurde modern. Man kann Bahn fahren, ob Jude oder Araber. Man kommt von A nach B - zwar mit Verspätung, aber gemeinsam. Zugegeben, ich bin vielleicht der einzige, den dieser Aspekt der Geschichte interessiert. Aber ich finde es einfach nur faszinierend, wie so ein Gefährt eine Stadt prägen kann. Der einwöchige Pauschaltourist bekommt von dieser Veränderung gar nichts mit. Er weiß aber auch nicht, wie Jerusalem vor dem Zug war. Auf der Yafo (Jaffa Street) gibt es heute eine recht bunt gemischte Szenerie: Neben den vielen Israelis und den Touristen gehen auch hier abends viele arabische Familien bummeln. Das habe ich so nicht in Erinnerung, wenn ich an meine Zeit vor zwei Jahren denke. Doch heute isst jedermann bei McDonald's - egal welcher Volkszugehörigkeit er oder sie ist. - Das ist das Normalste von der Welt, aber nicht hier, sollte man meinen. Vielleicht ist der interkulturelle Jerusalem Light Rail einer der vielen kleinen Wege zu einem besseren Zusammenleben von Israelis und Arabern in Jerusalem.

Sonntag, 9. Oktober 2011

September in Jerusalem - Abbas und die UN

Seit jenem Freitag im September, als Palästinenserpräsident Abbas ("Abu Mazen") seine Rede vor der UN-Generalversammlung gehalten hat, sind nunmehr über zwei Wochen vergangen. Und es scheint so, als sei die Welt mehr oder weniger zur Tagesordnung zurückgekehrt: Die Human-Rights-Newsletters in meinem Email-Postfach haben seit Langem wieder ein anderes Thema als Palästina und machen nun auf die Opfer der Finanzkrise aufmerksam. In Deutschland weht der Geist irgendeiner Landtagswahl durch die politischen Wetteraussichten. Der Euro liegt in den letzten Zügen.
Wo sind sie hin, Euphorie, Freude, Angst? Es hat unweigerlich der lange Prozess eingesetzt, der die Palästinenser am Ende entweder zu einem eigenständigen Staat macht oder eben zu einem Volk mit Beobachterstatus. Ändern wird sich ohnehin nichts, wird der pessimistische, aber politikerfahrene Leser denken und die letzten 30 Jahre Nahostgeschichte vor seinem inneren Auge Revue passieren lassen.

Ohnehin stach die Palästina-Frage in den letzten Wochen nicht ganz so heraus aus dem Weltgeschehen wie erwartet. Zwei Tage vor der Rede des Palästinenserpräsidenten gab es in New York ein ganz anderes Thema: Libyen. Eine neue Flagge wurde gehisst, die Sieger beglückwünschten sich gegenseitig im Namen der Demokratie. Libyen stellt einen der wenigen positiven Meilensteine dar. Die leidige Palästina-Debatte wurde noch aufgeschoben, man ließ die Sektkorken knallen - während bis heute gekämpft wird.
Zu diesem Zeitpunkt war in Israel und den Palästinensergebieten noch alles ruhig, was sich - wie sich später herausstellen wird - auch nicht ändern sollte. Der Alltag ging seinen gewohnten Gang. Zwar ergriff das israelische Militär die üblichen Sicherheitsmaßnahmen - Männer unter 50 Jahren wurden am Freitag der Abbas-Rede nicht auf den Tempelberg gelassen - doch im Allgemeinen herrschte eine ungewöhnliche Ruhe.


Am Abend des 23. September ging ich durch Ostjerusalem und stieß beim Damaskustor auf ein public viewing. Anstatt eines Fußballspiels zeigte man Al-Jazeera und die Rede des Präsidenten, der in den vergangenen Monaten zunehmend an Beliebtheit gewonnen hatte. Getrübt wurde die Stimmung lediglich durch den Rauch der Straßenstände, die Kebab und Fleischspießchen für die Zuschauer auf dem Grill hatten. Während auf der israelischen Seite der Schabbat begonnen hatte und die wochenendliche Ruhe einkehrte, redete Abbas vor der UNO zu den Völkern der Erde. In jedem Ostjerusalemer Laden liefen die Fernseher. Doch die Menge vor dem Damaskustor war eher überschaubar. Der große Ansturm war ausgeblieben; Plastikstühle standen fein säuberlich in Reihen herum.


Doch die Mehrzahl der Zuschauer bestand eher aus westlichen Reportern und israelischen TV-Journalisten. Die palästinensischen Zuschauer, die hier und da ihrem Präsidenten applaudierten und spontane Sprechchöre anstimmten, waren in der Unterzahl. Dennoch stürzten sich die Reporter auf diese kleine Gruppe, um möglichst authentische Fotomotive zu bekommen.


Authentischere Motive hätten sich wahrscheinlich in Ramallah ergeben, wo zur gleichen Zeit hunderte oder tausende Menschen der Rede von Abbas folgten. In Jerusalem ähnelte die Stimmung eher einem Sportverein, der sich ein Vorrundenspiel der Nationalelf ansieht. Nur gab es, als Abbas geendet hatte, eine kleine Rede, die ein wohl angesehener Ostjerusalemer vor den Zuschauern hielt und der ich aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten nur zur Hälfte folgen konnte. Es ging wohl um Jerusalem als Hauptstadt (so viel konnte ich verstehen), und sie rief einen Sturm der Begeisterung und der "Abu Mazen!"-Sprechchöre hervor.

Diese eher unspektakuläre Veranstaltung verließ ich relativ zügig. Kaum fünf Minuten nach dem Ende der Abbas-Rede setzten die Gebetsrufe der Muezzine ein. Ein gutes Timing, sogar aus New York.

Am nächsten Tag besuchten wir Ramallah. Doch auch hier war von den vorabendlichen Feiern nichts mehr zu sehen. Im Grunde war alles wie immer, schätze ich. Seit meinem letzten Besuch im Februar hatten sich nur die Plakate mit dem Gesicht des Präsidenten vermehrt. Das Ansehen von Mahmud Abbas war gestiegen. Als Nachfolger des legendären Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat hatte er es anfangs schwer gehabt. Doch die Einigung von Fatah und Hamas sowie das mutige Vorhaben bei der UN hatten ihm Pluspunkte eingebracht. Dieser Trend war deutlich zu spüren.


Beim Grab Arafats waren zu meinem Erstaunen keine Besucher. Es war leer und ruhig. Vor einem halben Jahr hatte vor dem großen Grabstein im Mausoleum noch ein grünes Kunststoffgeflecht des rumänischen Außenministers gelegen. Jetzt war der Platz reserviert für einen kleinen Kranz, gestiftet von Abbas persönlich. Vor dem Areal des Mausoleums steht ein Platz mit Fahnen. Alle Länder der Welt bilden einen Halbkreis um die Flagge des Staates Palästina - zumindest alle, die das Land bisher anerkannt hatten.


















Im Großen und Ganzen gab es in Israel und Palästina keine besonderen Vorkommnisse, die sich mit den bloßen Augen erhaschen lassen würden. Welche langfristigen Wirkungen die Rede von Mahmud Abbas vor der UN-Generalversammlung erzielen wird, bleibt abzuwarten. In drei Monaten - oder in sechs - wird es die ersten Entscheidungen geben. Vorerst bleibt alles beim Alten. Es wäre naiv, etwas anderes zu erwarten. Zu hoffen bleibt nur, dass sich beide Seiten endlich wieder an den Verhandlungstisch setzen und nach so vielen Jahren des Schweigens wieder konstruktive Ergebnisse hervorbringen.