Reportage
Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet: Die Tür öffnet sich, man tritt in das klimatisierte Abteil, die Türen schließen sich, ein Ton ertönt - und die Straßenbahn bahnt sich ihren Weg durch eine der umstrittensten Hauptstädte der Welt. Ich habe vor nunmehr schon längerer Zeit ein ganzes Jahr in Jerusalem verbracht und den Prozess des Bauens verfolgt. Typisch für diese Breiten ist es, dass man sich bei jedem Projekt zwar ein Limit setzt, dann aber ohne Scham jahrelang ins Blaue baut. Ich habe Straßen gesehen die gesperrt wurden, über die Schienen gelegt wurden und die dann für den Verkehr doch so unabdingbar waren, dass man über die fertige Trasse kurzerhand eine Folie legte und eine frische Ladung Teer schichtete - um diese dann Monate später wieder aufzureißen und weiterzubauen. Gebaut wurde nachts, weil die Hitze am Tag keine Baustellenarbeit erlaubte. Die Eröffnung der Bahnstrecke durch Jerusalem war meines Wissens auf 2008 angelegt. In den Jahren 2009/10 war ich selbst vor Ort und wartete darauf, dass man endlich das Verkehrschaos umgehen könnte. Für den Jerusalemer Durchschnittspassagier wurde die Strecke nun im Sommer 2011 eröffnet. Kurze Zeit später war auch ich dabei.
Es ist kein Witz wenn ich behaupte, dass es etwas Berührendes für mich hatte, als ich mit diesem Zug gefahren bin. Die Jerusalem Light Rail bringt verschiedene Neuerungen mit sich: Zum einen wurde aus der stark befahrenen Jaffa Street eine nahezu idyllische Fußgängerzone. Früher reihten sich hier die Busse aneinander, wenn der erste an einer Bushaltestelle hielt und die fünf anderen Busse hinter ihm warten mussten. Heute fährt hier kein Auto mehr. Die Jerusalemer Innenstadt hat an Lebensqualität gewonnen. Doch es ist nicht nur das. Die gesamte Dauer der Bauarbeiten war diese eine Straßenbahnlinie eines der großen Themen der Lokal- oder sogar Weltpolitik. Von der israelischen Stadtverwaltung geplant, verläuft diese Strecke letztlich quer durch die ganze Stadt, durch israelisch-jüdische Teile wie auch durch das mehrheitlich arabische Ostjerusalem. Der Vorwurf wurde laut, Israel wolle Fakten schaffen und Jerusalem mithilfe dieser Bahn auf ewig judaisieren. Da Jerusalem für den jüdischen Staat die "ewige und ungeteilte" Hauptstadt ist, lag die Vermutung nahe, man wolle hier kommende politische Ereignisse beeinflussen oder blockieren.
Als ich im September 2011 in Jerusalem war und ein wenig Bahn fuhr, hatte ich jedoch Augen für ganz andere Dinge. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Fahrkarten und die Benutzung des Zuges war praktisch kostenlos - ein sehr positives Faktum. Ich fand es aber vor allem lohnenswert, mit der Bahn zu fahren, weil man sich hier an einem der wenigen Orte in Israel befand, an dem Israelis und Palästinenser gleichermaßen vertreten waren. Sie hatten teilweise die gleichen Ziele, benutzten die selben Eingangstüren, stiegen ein und aus - als wäre alles normal. Und genau das gefiel mir. Man muss nämlich wissen, dass in Jerusalem jede Gruppe ihren eigenen Sektor hat - auf fast allen Ebenen. Israelis und Araber leben meistens in getrennten Wohnvierteln, sie kaufen größtenteils in unterschiedlichen Geschäften ein. Im öffentlichen Nahverkehr läuft man sich ebenfalls kaum über den Weg: Israelis benutzen die grünen Busse der Busgesellschaft Egged, während die arabischen Passagiere ihre eigenen Kleinbusse benutzen. Während Egged meist nur durch jüdisch-israelische Wohngegenden fährt, verkehren die arabischen Kleinbusse ihrerseits hauptsächlich zwischen den arabischen Vierteln der Stadt. Die Straßenbahn schafft also etwas, das man zu aller erst einmal positiv bewerten sollte: Israelis und Araber fahren gemeinsam durch Jerusalem. Bislang kostenlos, in einem klimatisierten Zug - und das alle 15 Minuten. Vom Herzlberg bis nach Khair haAvir in Ostjerusalem. Die Anzeigentafeln an den Haltestellen sind dreisprachig: Hebräisch, arabisch und englisch. Ebenso die Fahrpläne und die Durchsagen vor jeder Station. Und eines steht fest: Vor eventuellen Selbstmordattentaten in der Zukunft ist man in der Bahn sicher.
Die Jerusalemer Straßenbahn könnte zu etwas werden, was unbedingt zu einem Israel-Besuch dazugehört. Denn hier erlebt man hautnah das Lebensgefühl des Landes. An einem Morgen fuhren wir zum Herzlberg, in Richtung Yad Vashem. Es war zugegeben nicht die beste Zeit, um in Jerusalem von A nach B zu gelangen. Der Zug war überfüllt. Doch wie die Leute im Orient eben sind gilt nach wie vor die Devise: Ich zuerst! - Wahrscheinlich wird man in den nächsten Wochen einen deutschen Beamten engagieren, der den Menschen beibringt, wie man einen Zug benutzt: Erst rauslassen, dann einsteigen. - Doch bislang hat man dort von mitteleuropäischer Nahverkehrskultur noch nichts gehört. Egal ob da jetzt eine Oma mit ihrem Enkel aussteigen will oder nicht, es wird gedrückt. (Die Frau begann nach einer Weile zu schreien und lautstark zu schimpfen. Sie fragte, ob wir hier im Dschungel seien. Die anderen Fahrgäste forderten sie auf, endlich Ruhe zu geben.) Der sonst so pünktliche Zug bekommt bei jeder Haltestelle mehr Verspätung. Die Türen gehen nicht zu, die Menschen schwitzen. Nichts für schwache Nerven und Platzangst. Doch die Menschen kommen auch ins Gespräch, so absurd wie das jetzt auch klingt. Ich drücke mich mit einigen Arabern und einer religiösen Jüdin an die gegenüberliegende Tür und habe Angst, gleich den Abflug machen zu müssen, sollte der Schließmechanismus aus irgendeinem Grund ausfallen. Man schüttelt den Kopf über die ignoranten Neueinsteiger. "Od schawua", sagte ein Mann. "Noch eine Woche." Dann werde es wieder Tickets geben und der Zug würde leer sein. Warum es jetzt keine gebe? Nun ja, es gab wohl mal Zugtickets. Es gab in den orthodoxen Wohnvierteln sogar Vorverkaufsbude, für Männer und Frauen getrennt. Streng nach den religiösen Regeln. Aber irgendwie hat es alles nicht hingehauen. Deswegen hat man es erstmal gelassen. - Typisch Israel, denke ich mir. Auf dem Rückweg bekomme ich die Konversation mit, die ein Security Guard mit dem Lockführer hat. Die hinteren Türen lassen sich nicht schließen, weil Menschen drinstehen. Durch die Vordertür darf niemand einsteigen, denn da steht der Guard. Hier kann man nur aussteigen. Interessieren tut sich dafür allerdings keiner. Ein stämmiger Israeli will einsteigen. Durch diese Tür. Er steht vor dem jungen Sicherheitsmann und betrachtet den "jungen Rotzlöffel" abschätzig. Irgendwie entschärft sich die Lage, als der Zug einfach losfährt. Wer den totalen Balagan (hebr. Chaos) erleben will, muss hierher kommen, zur Hauptverkehrszeit.
So umstritten dieses ganze Projekt auch sein mag - es hat hingehauen. Die Stadt wurde modern. Man kann Bahn fahren, ob Jude oder Araber. Man kommt von A nach B - zwar mit Verspätung, aber gemeinsam. Zugegeben, ich bin vielleicht der einzige, den dieser Aspekt der Geschichte interessiert. Aber ich finde es einfach nur faszinierend, wie so ein Gefährt eine Stadt prägen kann. Der einwöchige Pauschaltourist bekommt von dieser Veränderung gar nichts mit. Er weiß aber auch nicht, wie Jerusalem vor dem Zug war. Auf der Yafo (Jaffa Street) gibt es heute eine recht bunt gemischte Szenerie: Neben den vielen Israelis und den Touristen gehen auch hier abends viele arabische Familien bummeln. Das habe ich so nicht in Erinnerung, wenn ich an meine Zeit vor zwei Jahren denke. Doch heute isst jedermann bei McDonald's - egal welcher Volkszugehörigkeit er oder sie ist. - Das ist das Normalste von der Welt, aber nicht hier, sollte man meinen. Vielleicht ist der interkulturelle Jerusalem Light Rail einer der vielen kleinen Wege zu einem besseren Zusammenleben von Israelis und Arabern in Jerusalem.
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