Sonntag, 24. Oktober 2010

Tacheles

Gerade kommt auf phoenix die Talksendung "Tacheles". Das Thema: "Islam in Deutschland - Friedensreligion oder Kultur der Gewalt?" Schade nur, dass so eine interessante Sendung zu einer so "unchristlichen" Zeit kommt. Beginn: 22:30 Uhr.

Unter den Gästen sind Wolfgang Bosbach (CDU), der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Ayman Maziek, der Kriminologe Dr. Christian Pfeiffer und EKD-Präses Nikolaus Schneider.

Leider geht die Gesprächsrunde der eigentlichen Frage nach einigen ersten Anläufen weitgehend aus dem Weg. Punkt eins: Der Kriminologe Dr. Pfeiffer stellt klar, dass die meiste häusliche Gewalt in Familien stattfinden, die christlichen Freikirchen anhängen. Punkt zwei: Jesus sei ein Zimmermannssohn gewesen, Muhammad ein Feldherr. Moderator Jan Diekmann will die Diskussion anheizen, indem er Matthäus 10,34 einwirft: "Denkt nicht, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert." Erschreckenderweise wehrt sich Nikolaus Schneider von der Evangelischen Kirche erst Minuten später. Im weiteren Verlauf geht es noch kurz um den (äußerst gewichtigen) Widerspruch zwischen Verfassung und Demokratie und der Scharia, dem islamischen Gesetz. Weiter eingegangen wird hierauf jedoch nicht.

Aber eigentlich ist es auch besser, wenn Politiker nicht über Theologie disskutieren. Es geht hier im Grunde weniger um den Islam als um die Integrationsdiskussion an sich. Die "Kontextuierung mit der Religion" wird beiseitegeschoben. Vor allem werden Positivbeispiele wie der Berliner Sozialarbeiter Fadi Saad hervorgehoben.

Ist die anfängliche Frage "Islam = Gewalt oder Frieden?" einmal abgehakt, geht die Runde einen entspannteren Kurs. Man redet. In unserer Gesellschaft wird viel "totgeredet". Doch diesen Abend zerfetzt man sich nicht, man redet miteinander. Das letztendliche Fazit: "Raus aus den Ghettos, Bildung, Bildung, Bildung, Integration." Und: "Es lohnt sich, in diesem Land mitzumachen."

Unsere Gesellschaft durchläuft einen angenehmen Wandel, scheint es mir. Offen wird bekannt, dass wir uns jahrzehntelang vor der Realität versteckt haben. Zwar war Deutschland nie als "Einwanderungsland" gedacht, wir sind aber dazu geworden. Und damit müssen wir nun umgehen. Das müssen wir akzeptieren. Und so langsam begeben wir uns auf den Kurs eines kritischen, selbstkritischen, aber auch bestimmten Dialog.

Geht es um Politik, Integration, Gesellschaft, dann ist alles machbar. So scheint es zumindest. Will man jedoch über Religion reden, stößt man auf taube Ohren. Als Mangel in unserer "christlich-jüdischen Wertegesellschaft" ist zu notieren, dass wir noch mit zu wenig Selbstbewusstsein in diese Diskussion gehen. Wir lassen uns gerne einreden, das Christentum sei aus der Mode gekommen und nur noch im Grundgesetz unter der Rubrik "Werte" (praktisch als Filiale einer Museumskultur) verankert. Das Christentum ist nicht mehr lebendig, so scheint die Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen zu denken. Doch um uns gegen unangenehme Einflüsse von außen zu schützen, berufen wir uns auf eben jene "jüdisch-christliche Wertekultur" - ohne dabei zuzugeben, dass der jüdische Teil unserer gesellschaftlich-religiösen Wurzeln mehr als ein Jahrtausend lang der Willkür unserer Launen ausgesetzt war. Wie unverschämt ist das denn? Pogrome (z.B. die Kreuzzüge), Diskriminierung vor und nach der Französischen Revolution, Völkermord (1933-1945) - und jetzt plötzlich stellen wir uns in unserer Not hinter den Schatten des jüdischen Teils der europäischen Geschichte und Kultur, den wir noch vor knapp 70 Jahren nahezu ausgerottet hatten. Wow.

Mittwoch, 20. Oktober 2010

Die Universität, ein Universum - Eine kleine Novelle

Ach ja, die Universität. Eine wundersame Institution, die man schnell zu lieben lernt. Der einsame Student betritt einen ihm bisher unbekannten Kosmos. Ein Gebilde, das in sich so unheimlich viele Komplexitäten und Komplexe aufweist wie ein Schweizer Käse Löcher hat. Und doch fühlt man sich gleich wohl.
Der Dozent im Hörsaal verkörpert ein Medium höherer Wissenschaften. Durch ihn erlangt der ehemalige Schüler und Abiturient Wissen. Dieses Medium kann zugleich gleichermaßen bildungsvermittelnd als auch zerstreut, wenn nicht sogar hochgradig verwirrt, sein. Es gibt sie beide: Den bärtigen Professor, der eine Brille mit kleinen Gläsern trägt, genauso wie den jungen, dynamischen Dozenten, der den Anschein macht, doch irgendwie im Leben zu stehen.
Der Studienanfänger erinnert sich noch an die Schultage, als man lässig in seinem Stuhl lehnte - nachdem man in der Regel zwischen der 10. und der 12. Klasse aufgehört hatte, auf ihm zu schaukeln - und sich dem Lehrer irgendwie überlegen fühlte. Sei es aus bloßem Übermut oder auch einfach, weil man das, was einem der Lehrkörper vermittelte, schon längst wusste. Oft erwies sich dieses vermeintliche Wissen bei dem ein oder anderen als bloßes Missverständnis, und so mancher musste vor der Herausgabe der Klausur zittern. Doch im Grunde sah man sich als alten Hasen und blickte mitleidig auf die kleinen Fünftklässler, die von Jahr zu Jahr kleiner zu werden schienen.
Und dann kommt man auf die Universität. Allein das Wort flößt Respekt ein. Nicht die Kurzform, die sich anhört als wäre es ein Einkaufsladen. Uni. Das Wort UNIVERSITÄT. Respekt, keine Furcht. Es gehört zu den Wörtern, die im Raum schweben und ausstrahlen.
Na gut. Wie dem auch sei, der mit Urkunden und Zeugnissen ausgezeichnete Abiturient betritt die Universität - und ist auf einmal klein. Er erkennt, dass er im Grunde keine Ahnung hat. Doch zu seinem Glück merkt er gleich, dass er bald dazugehören wird. Ein Trost. Doch ein langer Weg, den es da zu durchlaufen gibt, um dann endlich Bachelor oder gar Master zu heißen. So heißt man dann doch, oder?
Die Universitätsstadt - eine Stadt, in der mehr Regen auf Lehrhäuser fällt als auf Industriegebiet. Eine Stadt, wo selbst im sonntäglichen Gottesdienst ein halbes Jahr als Semester gerechnet wird. Und der Gottesdienst ist es auch, der die angehenden Theologiestudenten verschreckt: Die Predigt zum Dies Universitatis (Uni-Tag, für alle nicht-Lateiner) wird von einem Professor gehalten. Er spricht von Zeit als Element im metaphysischen So-und-so, überschlägt sich in minutenlangen Sätzen. Und das eine geschlagene halbe Stunde lang. Das Wort "Jesus" kommt ganze zwei Mal vor. Erstaunlich. Und verwirrend.

Noch verwirrender:

"Warst Du auch im Interpretationskurs?"
"Ja."
"Und, wie war's?"
"Wenn man Kartoffel richtig interpretieren würde, müsste es Kartöffel heißen."
"So so. Und was ist mit Pantoffel?"
"Na aber! Unregelmäßige Demonstrativpronomina lassen sich nicht interpretieren."
"Ach so. Naja. Wäre schön gewesen."
"Über Geschmack lässt sich streiten."
"Apropos - was hat es heute denn zu Mittag gegeben?"
"Kartoffelsuppe. Aber wir hatten keine Löffel mehr."
"Lässt sich Löffel auch interpretieren?"
"Was Du immer für Ideen hast... Sag mal, wann werden eigentlich die Telefonzellen wieder geleert?"
"Das hat doch nichts mit Gelehrsamkeit zu tun!"
"Oh doch. Telefonieren ist schließlich eine Tugend, die man pflegen muss!"
"Da hast Du auch wieder Recht."
"Ja ja, die Juristen..."
[...]

(Na, genug jetzt. Von diesem Gespräch haben nur die ersten zwei Sätze wirklich stattgefunden. Aber es ist von Zeit zu Zeit doch auch ganz gut, sich ein bisschen verwirren zu lassen. Danach schläft es sich nachts leichter.)

Donnerstag, 14. Oktober 2010

News Update No. 3

Und hier ein paar andere Themen aus den Medien.


Chile

In Chile wurden gestern im Laufe des Tages alle 33 verschütteten Bergleute lebend geborgen! Der Präsident war anwesend, als einer nach dem anderen (mit Sonnenbrille) ans Tageslicht kam. Mit einer Rettungskapsel wurden die Kumpel einzeln nach oben befördert. Insgesamt dauerte die Gefangenschaft bzw. die unfreiwillig "verlängerte Schicht" ganze 70 Tage.
Schön, dass es auf der Welt auch noch erfreuliche Botschaften gibt.


Libanon

Der iranische Präsident Machmud Achmadinedschad ist auf dem Weg zur israelischen Grenze. Er will einige grenznahe Hisbollah-Dörfer besuchen und ins "Feindesland" schauen. Gestern hat er inmitten seiner Anhängerschar gegen Israel gewettert und war von seinen Fans so begeistert, dass er sogar zu Tränen gerührt war. Der Besuch wird von weiten Teilen der Öffentlichkeit (auch im Libanon selbst) als pure Provokation aufgefasst.
Der hat wohl nix Besseres zu tun.


Schon gewusst...?

Der Fußball-Zwerg Aserbaidschan hat vorgestern zuhause gegen die Türkei mit 1:0 gewonnen (!). Zwar haben die Kaukasier keinerlei Chancen auf eine EM-Teilnahme, aber dennoch ist mti diesem Sieg ein beachtlicher Sprung auf der Weltrangliste nach oben zu verzeichnen.


Wetter

Mir ist gerade aufgefallen, dass es im nahöstlichen Jerusalem gerade 36°C hat. Und da sitze ich in einer süddeutschen Uni-Stadt, wo die heutige Wettervorhersage "6°C, wolkig" lautet...
Oh Mann.


Schönen Tag euch noch. :)

News Update No. 2

Hier noch ein schneller Überblick über ein paar (bekannte) Themen der letzten Wochen.


Nahostkonflikt

Die Debatte ist nun zum entscheidende Punkt gekommen: Israels Ministerpräsident Netanjahu hat einen neuen Baustopp angeboten, sollten sich die Palästinenser bereiterklären, Israel als jüdischen Staat anzuerkennen. Zuerst stieß dieses Angebot bei der Palästinenserführung auf strikte Ablehnung. Und aus paläsinensischer Sicht ist das auch verständlich: Würden die Palästinenser Israel als jüdischen Staat anerkennen, würde auch die letzte Hoffnung auf eine Rückkehr der Flüchtlinge von 1948/49 in die heute israelischen Gebiete ausgelöscht werden. Hinzu kommen Fragen wie: "Was passiert mit den arabischen Israelis, die etwa 20 Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen?" "Sind die Araber in Israel dann Bürger zweiter Klasse?"
Ein jüdischer Staat Israel stieß bei der Gegenseite immer auf Ablehnung. Keine palästinensische Regierung hat Israel als jüdischen Staat anerkannt. Aber umso wichtiger ist diese Diskussion für Israelis. Denn eines ist klar: Die Souveränität des jüdischen Staates muss gewehrleistet sein. Wohin soll das jüdische Volk denn sonst? Israel ist ein jüdischer Staat, und Jerusalem ist seine Hauptstadt. Zumindest aus jüdischer Sicht. Die Fragen von israelischer Seite ist vor allem: "Was passiert mit Jerusalem, der unteilbaren Hauptstadt des jüdischen Volkes?" Die von den Palästinensern angestrebte Lösung lautete bis jetzt, man müsse einen palästinensischen Staat schaffen (ohne jüdische Siedlungen, mit (Ost)Jerusalem als Hauptstadt) und der Staat Israel müsse binational bleiben, also jüdisch und arabisch. Aber wo wäre da der Kompromiss? Wo wäre die Garantie für einen Staat der Juden?
Die Lage ist und war schon immer verzwickt. Ein Lichtblick - oder besser ein kleiner Funke Hoffnung - kommt jetzt vonseiten des PLO-Funktionärs Jassir Abed Rabbo. Er ist seit 2006 Berater des Palästinenserpräsidents Machmud Abbas und verkündete in den letzten Tagen, dass man unter bestimmten Umständen bereit sei, Israel als jüdischen Staat anzuerkennen. Ist hier eine Wende zu beobachten? Wir wollen es hoffen. Die Voraussetzungen bleiben allerdings dieselben wie früher: Ein Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Und dazu gehören der Tempelberg und die Klagemauer, beides wichtige Orte der jüdischen Religion.
Die Amerikaner haben jedenfalls bekräftigt, dass Israel ein Staat für die Juden sei. Ebenso sei es aber auch ein Staat für die Bürger der anderen Glaubensrichtungen (so Hillary Clinton am Dienstag).
Der PLO-Politiker Rabbo bat unterdessen Israel und die USA, der Palästinenserführung eine Karte vorzulegen, die zeigt, in welchen Grenzen man den jüdischen Staat anerkennen solle.


Tag der Deutschen Einheit

Schon etwas länger zurück liegt der Tag der Deutschen Einheit, am 3. Oktober (für alle, die es nicht wissen). Die Einheit jährte sich dieses Jahr schon zum 20. Mal, womit wir ein Jubiläum zu feiern hatten. Der Bundespräsident sprach in Bremen. Und erstmals kam auch unser Freund der Islam zur Sprache. Der Islam gehöre "inzwischen auch zu Deutschland", betonte Christian Wulff in seiner Rede.
Wulffs Rede macht den Anschein, als wolle sie den Islam mit dem Christentum und dem Judentum gleichstellen. Es ist ein gutes Zeichen, dass er die deutschen Muslime mit Deutschland in Verbindung bringt. Wahrscheinlich wollte er Fronten aufweichen, Unterschiede relativieren, Toleranz zeigen. Es war gut gemeint.
Tatsache ist aber, dass keine andere Religion Deutschland in dem Maße geprägt hat wie das Christentum. Der christlich-jüdische Hintergrund unserer Kultur, die doch sehr eingehend geprägt wurde von Altem und Neuem Testament, droht in unserer Gesellschaft zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Ein Großteil der Deutschen nennt sich auf dem Papier noch Christen. Aber wenn man nachfragt, bietet sich einem ein Bild der Verwirrung. Glauben hat in unserer Gesellschaft angeblich keinen Platz mehr. Und wenn man glaubt, dann wird man mitleidig belächelt. Da ist es dem Durchschnittsdeutschen eher egal, welche Religionen in einem Atemzug genannt werden. Religion - ein Begriff, der zum Phantom geworden ist.
Der Islam steht dem allem entgegen. Er demonstriert Macht, er flößt Respekt ein. Er reagiert auf Kritik oftmals mit Intoleranz und dem Verbrennen von Fahnen und Flaggen in aller Welt.
Der Islam verbreitet Angst. Und genau dieser Tatsache will Wulff entgegenwirken, indem er den Islam mit einbinden will in den Begriff Deutschland. Klar, der Islam gehört dazu. Und was dazugehört, damit freundet man sich an. Ergebnis: Friede, Freude, Eierkuchen.
Das ist ja alles ganz gut und schön. Aber es geht auch ein bisschen ums Prinzip. Ein Kritiker der Islam-Gleichstellung ist zum Beispiel der Limburger katholische Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst, der sich im FOCUS zu Wort meldet: "Gehören Werte und Traditionen unserer Kirche nur noch der Vergangenheit an, während der Islam das Heute bestimmt?"
In seinem Artikel zeigt Tebartz-van Elst einige Aspekte, die wir oft unter den Tisch fallen lassen. Wie hat das Christentum unsere deutsche/westliche Gesellschaft geprägt? Unsere Ansichten zu "Ehe und Familie als Keimzelle gesellschaftlichen Lebens" zum Beispiel. Die Bibel spielt in vielem eine große Rolle, wo wir es kaum noch merken. Und der Koran? Was hat dieses Buch, das noch nicht einmal kritisch betrachtet werden kann, in Deutschland gewirkt? Was hat der Islam zu Deutschland beigetragen, zu unserem gesellschaftlichen Leben und Denken?
Der Islam hat keine Wurzeln in Deutschland. Seine Wurzeln liegen woanders. In Deutschland ist jeder willkommen. Aber Deutschland ist ein Land, das von der christlich-jüdischen Abendlandskultur geprägt wurde. Bei allem Toleranzgedudel müssen wir uns über die historischen Fakten klar werden. Das ist kein Nachteil für die Muslime in Deutschland.

Was hat das mit dem Tag der Deutschen Einheit zu tun? Eine ganze Menge. Ob der Islam jetzt in einem Atemzug zu nennen ist mit Christentum und den jüdischen Wurzeln unseres Glaubens sei einmal dahingestellt. Aber Fakt ist auch, dass der Islam in Deutschland präsent ist. Er wirft neue Problematiken auf, die wir bisher noch nicht kannten.
Doch der Islam ist nicht die einzige nationale Angelegenheit. Da gibt es noch viel mehr solcher "Problematiken". Auch das Schlagwort Hartz IV nimmt in der öffentlichen Meinungsbildung eine besondere Stellung ein.
Alle diese Problematiken gehören zum 21. Jahrhundert dazu. Das erste Jahrzehnt haben wir hinter uns. Sogar das zweite Jahrzehnt seit der Wiedervereinigung. Und seien wir einmal ehrlich: Das Fazit der BRD seit 1990 ist nicht so schlecht, wie sie uns manchmal gemalt wird. Im Grunde versteht sich Ost und West. Und was noch besser ist: Die Grenzen von Ost und West verschwimmen mittlerweile. Ganz einfach weil sie nicht mehr da sind. Das ist demografisch zwar nicht ganz korrekt. Aber in ihren Köpfen haben die Deutschen auch diese Grenzen größtenteils überwunden.
Die Problematiken, die bleiben bzw. neu entstanden sind, werden heiß diskutiert. Nie war die Öffentlichkeit so stark beteiligt wie in diesen Tagen. Hartz VI, Islam, Gesellschaft, Stuttgart 21 - alles Themen des Jetzt und Heute. Zwar werden fast alle Diskussionen jämmerlich emotional geführt, aber die Gesellschaft ist wachgerüttelt, in jeder Hinsicht. Und das ist ein gutes Zeichen.

Mittwoch, 13. Oktober 2010

News Update No. 1

Meine Leser drohen mir davonzulaufen. Aber das ist auch kein Wunder; seit Wochen habe ich mich jetzt schon nicht mehr gemeldet. Ich wollte ein wenig abwarten und die aktuellen Vorgänge beobachten, ohne gleich voreilig einen Kommentar zu schreiben. Aus einiger zeitlicher Distanz wollte ich eine Zusammenfassung schreiben. Naja, die Folgen dieser Strategie sind fatal: informative overflow. Und das ist auch kein Wunder...

Um es übersichtlich zu machen, fange ich in diesem Eintrag mal wieder mit einem uns allen bekannten/beliebten/gehassten Thema an:

STUTTGART 21


Ich habe vor allem gehofft, der ganze Rummel um Stuttgart 21 würde sich in der Zwischenzeit legen. Denn 1.) ist es für meine internationale Leserschaft langsam nicht mehr von Interesse, was sich in einem schwäbischen Provinznest - denn das wird es in naher Zukunft wieder werden - abspielt. Und 2.) geht mir diese ganze Debatte langsam selber auf den Senkel.

Aber was soll man machen? Dieses Thema ist nunmal aktuell. Und außerdem fällt Stuttgart 21 immer mehr Bedeutung im Hinblick auf die deutschlandweite Stimmung zu.
Es ist ja weitgehend bekannt, dass wir Deutschen ein Volks sind, das grundsätzlich erstmal dagegen ist. Veränderungen, nein danke! Manchmal liegen wir damit richtig, manchmal nicht. Es geht nicht darum, auf welcher Seite wir stehen. Mir persönlich macht es Sorgen, dass wir uns eine Meinung bilden, ohne uns vorher mit einem Thema beschäftigt zu haben:

"Islamunterricht an deutschen Schulen? - Nein danke! Wo kommen wir denn da hin..."
"Nacktscanner?? - Nein danke! Privatsphäre! Datenschutz!"
"Stuttgart 21? - Nein danke! Veränderungen, Baustelle, arme unschuldige Bäume, böse."

Aber zur Rente mit 67 sagt man "Ja und Amen". Im Grunde ist man auch da dagegen. Aber laut sagen tut es keiner. Anders als in Frankreich, wo man schon bei 62 auf die Straße geht.

Es ist in Deutschland mittlerweile so: Grundsätzlich ist einem die Politik egal. Auch jede gesellschaftliche Debatte - soll sich doch jemand anders drum kümmern.
Wenn etwas entschieden wird, dann nimmt man das erstmal hin, oft in der Erwartung, dass es ja doch nie so weit kommen wird. Und wenn es dann soweit ist, fangen so langsam die Proteste an.

Ach ja. *schwerer Seufzer*
Und was gibt es jetzt Neues bei Stuttgart 21?

Heiner Geissler (CDU) betritt die Bühne. Er marschiert durch Stuttgart, schüttelt Hände, lächelt in Kameras - und verkündet einen Baustopp. Dumm nur: Davon wusste bisher keiner was.

Mappus will sich auf Gespräche einlassen und will Eingeständnisse machen - allerdings ohne Baustopp.

Die andere Seite will ohne Baustopp nicht weiterverhandeln.

Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Dieses ganze Theater erinnert mich an den Nahen Osten. Israel, Palästina. Intifada. Siedlungsbau. Bahnhofsbau. Baustopp.

Anfang der Woche saß ich im Zug in eine andere süddeutsche Stadt und las in meiner Lieblingswochenzeitung, dem konservativen FOCUS. Und was man da lesen konnte, hat mich irgendwie insgeheim gefreut. Erkenntnisse, die einem neuen Mut geben, dass man mit seiner Meinung doch nicht ganz so falsch liegt.
Interessant fand ich vor allem ein Bild aus einem Polizeivideo, das dort veröffentlicht wurde. Der zur Symbolfigur des Widerstands gegen Stuttgart 21 gewordene Dietrich W. war da zu sehen. Bisher war bekannt, dass er sich seine Verletzungen zuzog, als er sich schützend vor Jugendlichen aufgebaut hatte, um sie vor dem Wasserwerfer zu schützen. Nun ist der bärtige Rentner auf einem Bild zu sehen, wie er etwas in der zum Wurf erhobenen Hand hält. Nach eigenen Angaben waren es Kastanien. Aber es geht ums Prinzip. Wie der FOCUS schreibt: "Es könnten Kastanien gewesen sein, wie er selbst behauptet, vielleicht handelte es sich aber auch um Steine. Wattebällchen jedenfalls waren es nicht."
Man machte hier Demonstranten zu Helden und Märtyrern. Mir persönlich tut es Leid um die Verletzungen von Herrn W., und ich bin im Grunde ein Gegner von Wasserwerfern. Aber wir müssen uns auch mit der Tatsache abfinden, dass man in Deutschland zwar demonstrieren darf, aber dass es zu weit geht, wenn wir Polizeitransporter besetzen, Flaschen oder Kastanien werfen, oder wenn wir selbst Pfefferspray gegen Polizeibeamten einsetzen, die nur ihren Job machen. Immerhin geht es hier nicht um Menschenrechte oder Krieg oder sonstwas, sondern es geht um ein Bauprojekt und ein paar hundert Bäume. Ich denke, dass sich in manchen Kreisen die Überzeugung zu bilden scheint, dass sich der Slogan "Wir sind das Volk!" auf alles anwenden lässt.

Ah, apropos Bäume. Noch etwas, weshalb ich den FOCUS so gern lese. Fakten, Fakten, Fakten. Wussten Sie zum Beispiel, dass in Hamburg (wo die Grünen regieren) gerade 280 Bäume gefällt werden? Für die Stadtbahn zwischen Eppendorf und Winterhude. Hier legen die Grünen selbst "Axt an" - und keinen scheint es zu interessieren. Der FOCUS hat erkannt:
"Wichtig bei Verkehrsprojekten ist, wo man Bäume fällt und wer es tut. Lassen die Grünen selbst ihren Freund, den Baum, abholzen, geschieht das weitgehend geräuschlos und biologisch abbaubar."

Zwar bin ich (zumindest in seriösen Wochenzeitschriften) kein Freund von Sarkasmus. Doch die 10 Öko-Gebote haben mich zum Lachen gebracht. Die sind nicht neu - aber immer wieder gut. Als zehnter Punkt: "Wisse, die Schuld ist weiß, männlich, christlich und westlich! Die Unschuld ist eine Urwaldindianerin."

Der Konflikt um Stuttgart 21 wird immer unübersichtlicher - und er gewinnt immer mehr an nationaler Bedeutung. Es geht um das Prinzip "Regierung entscheidet - ein Teil des Volkes blockiert". In einer Demokratie hat jeder das Recht, eine eigene Meinung zu haben. Aber ist eine Gruppe von Demonstranten berechtigt, Milliardenprojekte zu verhindern, die vor Jahren beschlossen worden sind, und die auch von einem großen Teil der Bevölkerung befürwortet werden?
Die Zukunft Baden-Württembergs ist ohnehin schon beschlossen. Im März wird gewählt. Die Grünen werden gewinnen und zusammen mit der SPD die Regierung bilden. Vielleicht noch mit den Linken zusammen. Stuttgart 21 wird gestoppt und hinterlässt eine Baugrube, die wie eine Wunde in Stuttgart klafft. Stuttgart wird eine Stadt bleiben, die zwar eine TGV-Verbindung nach Paris hat, aber zu der eben dieser TGV einen Riesenbogen fahren muss - dank des Kopfbahnhofs (K 21). Stuttgart wird (vielleicht) Landeshauptstadt bleiben. Aber nie wieder bekommt diese Landeshauptstadt Geld für ein Milliarden- oder auch nur Millionenprojekt vom Staat. Denn als das Volk mit Stuttgart 21 den Fortschritt verhindert hat, sind wir zur Lachnummer der Nation geworden.