[aus: "Deutschland - Abschaffen oder durchstarten? Eine Gesellschaft zwischen modernd und modern"]
Heute
Nachmittag wurde bekanntgegeben, dass der für den 17. April 2013 angesetzte
Prozessbeginn gegen Beate Zschäpe und die Unterstützer des NSU auf Anfang Mai
verschoben wird. Dieser Aufschub wirft erneut kein gutes Bild auf die deutsche
Justiz: Nicht nur Juristen und Pressevertreter müssen nun ihre Hotelzimmer
stornieren, sondern auch die Angehörigen der Opfer, die teilweise schon
angereist waren und sich auf das Zusammentreffen mit den Terroristen, die ihre
Väter und Ehemänner umbrachten, vorbereiten hatten. Nun müssen sie sich dieser
Situation am 6. Mai erneut stellen. Andererseits reagiert das Gericht damit auf
die Fehler, die bei der Sitzplatzverteilung gemacht wurden und mischt die
Karten neu.
Das
Thema NSU und Rechtsextremismus wurde heute wie so oft in den letzten Tagen auch
im Radio angesprochen. In SWR1 Leute
waren am Vormittag zwei prominente Aussteiger aus der rechten Szene zu Gast:
Andreas Molau, ehemaliger stellvertretender Chefredakteur der
NPD-Parteizeitschrift Deutsche Stimme, und der ehemalige Bundesvorsitzende
der Jungen Nationalen Stefan Rochow,
der nach seinem Austritt aus der NPD katholische Theologie studierte. – Rochow war
2008 aus der Szene ausgetreten, Molau erst 2012. Während der eine aus
religiösen Gründen den Rechten seinen Rücken zugekehrt hatte, war der andere mit
der Zeit libertär geworden und hatte sich von den verstaubten Ideologien der
Neonazis gelöst. Jede Form von Ideologie und zementierter Weltanschauung sei
verhängnisvoll, sagte er im Interview. Er lehne einfache Weltbilder, die man im
Übrigen nicht nur bei der NPD fände, mittlerweile ab.
Einfache
Weltbilder – die finden sich wirklich nicht nur im einschlägig rechtsextremen
Spektrum. Auch der berüchtigte Stammtisch weist in der Kneipe, bei Grillfesten
oder Familiengeburtstagen ein gewaltiges Potential auf, was die Einteilung der
Welt in „wir“ und „die“ betrifft. Und vor allem wenn es um Türken geht…
Deutschland und seine Türken
Noch
heute sind viele Deutsche der Meinung, die in Deutschland lebenden Türken seien
Gäste. Deshalb hätten sie sich schließlich auch wie welche zu benehmen.
Allerdings würde die Situation in den bundesdeutschen Gefängnissen beweisen,
dass sich die meisten von ihnen eben nicht zu benehmen wüssten. Außerdem würden
Gäste irgendwann auch wieder gehen, was der Ali allerdings falsch verstanden
hätte. – Da sind sie, die einfachen Weltbilder, die sich von 1960 bis heute
erhalten und mitunter verschlimmert haben.
Der
Durchschnittsdeutsche fordert, dass sich Türken wie gute Gäste benehmen
sollten. Eine ziemlich dreiste Forderung, oder nicht? Haben wir uns denn jemals
Gedanken darüber gemacht, ob wir gute
Gastgeber gewesen sind?
Wir
fragen uns, wieso sich noch immer viele unserer türkischen Mitbürger nach ihrem
Tod in ihrer Heimat begraben lassen. Wir verstehen nicht, warum so viele von
ihnen an ihrer türkischen Staatsbürgerschaft festhalten – auch in dritter
Generation. Vielleicht liegt es daran, dass wir es immer noch wagen, alle
Menschen schon aus der Ferne in „Deutsche“ und „Ausländer“ einzuordnen – eben auch
jene, die mittlerweile schon seit Generationen hier verwurzelt sind. Wir
schielen alle zwei Jahre zu unseren Nachbarn hinüber und beobachten, welche
Flagge sie vor dem Fußballspiel an ihren Balkon hängen. Ein großer Teil der
deutschen Türkei-Urlauber besucht das Land nur wegen der Sonne und des unbegrenzten
Essens und wagt sich in zwei Wochen Side nur zu ein oder zwei Trips außerhalb
des Hotelbunkers. Zurück daheim sind wir empört, wenn türkische
Ministerpräsidenten auf Deutschlandbesuch unter ihren Landsleuten mit
populistischen Reden nach Wählerstimmen fischen. Und wir sind erst recht entsetzt
wenn wir merken, dass diese Menschen noch immer an den Politikern in ihrer
alten Heimat und oft auch am türkischen Nationalismus festhalten. Aber trotzdem
schaffen wir es nach mehr als 50 Jahren noch immer nicht, Namen wie Bozkurt
oder Özdemir richtig auszusprechen. Wenn wir ehrlich sind müssen wir uns
eingestehen, dass wir diesen Menschen von Anfang an wenig entgegnet haben. Wir
waren keine guten Gastgeber. Billige Arbeitskräfte sind stets erwünscht
gewesen, doch wirklich willkommen waren sie nie. Günter Wallraffs Buch Ganz unten erschien 1985 und deckte – neben
einigen anderen Aspekten – zum ersten Mal auf, wie man mit ausländischen
Arbeitnehmern in deutschen Industriebetrieben umging. Dabei musste er sich
selbst erst als Türke ausgeben, um der deutschen Arroganz auf den Zahn fühlen
zu können.
Natürlich
ist der Dialog zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen nicht einfach.
Sicherlich muss sich der Ankommende an die Regeln halten, die hier gelten. Respekt
und der Versuch von Verständnis auf beiden Seiten sind das wichtigste, um miteinander
auszukommen. Ein gutes Miteinander beruht immer auf Gegenseitigkeit. Doch so
mancher Türken- oder Dönerwitz von damals hat sich bis heute gehalten. Vielleicht
hätte verhindert werden können, dass im Fahrwasser unserer stellenweise
erschreckend desinteressierten Gesellschaft militante Nationalisten durch
Deutschland getourt sind und nahezu unbemerkt neun Menschen, die meisten davon
türkischstämmig, ermorden konnten. Doch es fehlte uns an Sensibilität. Man
hätte nur die einen oder anderen Zeichen erkennen müssen. Scheinbar hatte
niemand realisiert, dass die letzte Konsequenz des Slogans „Deutschland den Deutschen!“
für deutsche Neonazis der Mord an Imbissbetreibern, Blumenverkäufern und
Änderungsschneidern sein musste. Und zu allem Überfluss war der Boulevard auch gleich
dazu bereit, die Mordserie als „Dönermorde“ zu betiteln.
Unterschätzte Gefahr
So
mancher Stammtischredner war mit Sicherheit erschüttert, als die Mordserie der
NSU aufgedeckt worden war. Und vielleicht haben viele Menschen begriffen, dass man
mit dem rechtsextremen Potential, das überall in Deutschland jederzeit abrufbar
ist, nicht spaßen sollte.
Nachdem
der erste Schock von der Öffentlichkeit halbwegs verdaut war, stellte sich die
Frage, was man nun ändern müsse. Der Verfassungsschutz hatte jahrelang versagt,
obwohl die nötigen Informationen vorhanden waren. Und er versagt bis heute.
Immer mehr Ermittlungspannen werden öffentlich.
Wird
der Verfassungsschutz seiner Aufgabe noch gerecht? Was nützt eine solche
Institution, wenn sie bärtige, muslimische Hassprediger beobachtet und Beamten
durch das aufmerksame Lesen der Zeitungen die Linkspartei beobachten, während
rechtsextreme Terroristen den bewaffneten Kampf gegen unsere Mitbürger aufnehmen?
Und
auf politischer Ebene? Ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD wird
vorangetrieben. Allerdings ist dies nur eine leere Formalität, die zwar an der
finanziellen Situation der deutschen Rechtsextremen etwas ändern könnte, nicht
aber an den Inhalten. Die Gesellschaft sollte langsam einsehen, dass ein Verbot
der politischen Partei noch nicht das Kernproblem, den Starrsinn der Anhängerschaft,
löst. Ein Verbotsverfahren gegen die NPD sollte am Ende der Mittel stehen, die
es gegen den Rechtsextremismus noch auszuschöpfen gibt. Viele Mittel in der
gesellschaftlichen Auseinandersetzung sind noch gar nicht genutzt worden, um
Nazis zu bekämpfen. Vielleicht ist ein Verbot notwendig. Aber es befreit uns
nicht von den großen Aufgaben, die noch auf uns zukommen:
Vertrauen
wieder herstellen und Extremisten mit den besseren Argumenten bekämpfen.
Wenn
am 6. Mai in München der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere
Angeklagte beginnt, werden mit Sicherheit auch mehr Details über die grausigen
Taten zutage kommen. Mit dem Ende dieses Prozesses wird das Vertrauen in
Deutschland, die verfassungsschützenden Organe und die Justiz vielleicht wieder
ein Stück gestärkt. Doch es wird noch lange dauern, bis die Wunden heilen.
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