Innerhalb
einer Woche gab es bei den jüngsten Ausschreitungen in Kairo und anderen
Städten mehr als tausend Tote. Passend zur politischen Lage im August kann man
nun wohl mittlerweile von einem verfrühten Arabischen Herbst im Nahen Osten sprechen.
Natürlich wäre es vorschnell und falsch, die Revolution in Ägypten für
gescheitert zu erklären, denn immerhin vergingen nach der Französischen
Revolution noch viele Jahrzehnte, bis Frankreich ein demokratisches und freies
Land wurde. Und doch, die Bilder der urbanen Schlachtfelder am Nil können
durchaus niederschmetternd wirken auf all die hoffnungsvollen Gemüter, die hier
im sicheren Europa sitzen. Während Syrien schon vor langer Zeit in eine
Katastrophe abgeglitten ist, in der es sogar für Schadensbegrenzung zu spät zu
sein scheint, stand Ägypten immer im Fokus der Beobachtungen in Hinblick auf
den Ausgang der Umwälzungen in der ganzen Region. Wenn die Revolution in
Ägypten gelingt, dann gelingt sie überall, hieß es. Und wenn sie hier scheitert,
dann scheitert sie auf ganzer Linie.
©SkyNews |
Nach
knapp einem Jahr der Regentschaft wurde der demokratisch gewählte, aber nicht
demokratisch herrschende Präsident Mohammed Mursi durch einen Militärputsch
gestürzt. Es kam zu Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen Pro-Mursi-Demonstranten
und der Polizei. Den Protesten der Muslimbrüder wurde mit äußerster Härte
begegnet – bis die letzte Chance auf eine friedliche Lösung zwischen den
islamistischen und den säkularen Lagern an einem Mittwoch im August verspielt
wurde. Gleich betitelte man den Tag als „Schwarzen Mittwoch“, was die Ausmaße
der Ereignisse nur zu gut widerspiegelt: Nach offiziellen ägyptischen Berichten
kamen bei der gewaltsamen Räumung des Protestcamps der Mursi-Anhänger am 14.
August 343 Menschen ums Leben, darunter auch 43 Polizisten. In den folgenden fünf
Tagen starben bei landesweiten Kämpfen etwa tausend Menschen.
In
diesem blutigen Chaos haben Beobachter schon lange den Überblick verloren. Deutsche
Touristen am Roten Meer waren aufgerufen, in ihren Hotels zu bleiben. Das britische
Außenministerium forderte seine Bürger sogar dazu auf, Ägypten umgehend zu
verlassen. Wer hatte Schuld an dieser Eskalation? Kann man überhaupt von Schuld
sprechen? Hier treffen Ängste, Wut und die Unfähigkeit, aus dem unbearbeiteten,
nach einer besseren Zukunft lechzenden Klumpen der demonstrierenden Massen etwas
Neues zu formen, aufeinander. Es kommt wieder und wieder zu neuen Kollisionen.
Die Regierung Mursi brauchte nicht lange, bis sie diktatorische Züge annahm und
dem Militär einen von großen Teilen des Volkes gedeckten Putsch legitimierte.
Nun wiederum versucht die Armeeführung unter Abdel Fattah as-Sissi die
aufgeheizten Massen unter Kontrolle zu bekommen, die ihm zuvor die
Zusammenarbeit verweigerten. Weder den Muslimbrüdern noch dem Militär liegt
etwas an einer Demokratie nach westlichem Vorbild, doch beide blockieren durch
ihre Gewaltbereitschaft mittlerweile jeden konstruktiven Prozess. Die Härte des
Militärs gegen die Protestcamps ist natürlich überzogen und aufs Schärfste zu
verurteilen, doch auch die militanten Kräfte innerhalb der Muslimbruderschaft
sind gewaltbereit und bewaffnet. Auch Kirchen und Polizeistationen wurden im
ganzen Land von aufgehetzten Islamisten angezündet. Nach Zusammenhängen
zwischen der Gewalt des Militärs und der anschließenden Ermordung von 25
Bereitschaftspolizisten auf dem Sinai muss man nicht lange suchen.
Zwar
wurden nach einigen Tagen die Banken in der Metropole Kairo wieder geöffnet,
doch es ist fraglich, ob der Höhepunkt der Eskalation schon ausgestanden ist.
Kürzlich starben bei einem Gefangenentransport schätzungsweise 36 Muslimbrüder
durch Kugeln oder erstickten in Tränengas. Die genauen Vorgänge sind unklar.
Währenddessen wird die Führung der Muslimbruderschaft nach und nach verhaftet.
Und auf der Straße wächst mittlerweile auch die Wut auf ausländische Journalisten:
Nach den Amerikanern droht man jetzt auch deutschen Reportern stellenweise mit
dem Tod. Militärchef as-Sissi kritisiert, dass in den westlichen Medien von
bürgerkriegsähnlichen Szenen berichtet und die ägyptische Regierung negativ ins
Bild gerückt wird. Dabei übersieht er, dass die Kritik an den Muslimbrüder und
Mursi oftmals viel größer ist. Doch auch säkulare Ägypter auf der Straße
empören sich über die mitleiderregende Berichterstattung, die sie im Umgang der
Medien mit den Muslimbrüdern zu sehen glauben.
Wo
wird all dies hinführen? Auf dem Weg zu einer stabilen Demokratie hat Ägypten
einen herben Rückschlag erlitten und steht nun wieder ganz am Anfang. Das Land
befindet sich in der gleichen Situation wie vor knapp zwei Jahren: Der
Präsident ist abgesetzt, das Militär regiert, die Massen befinden sich auf den
Straßen. Der Unterschied: Die Menschen sind ungeduldig geworden. Die Islamisten
haben von der Macht gekostet, die sie eine kurze zeitlang besaßen, und wollen
nun keine Kompromisse mehr eingehen. Die Stimmen der säkularen Kräfte gingen in
den letzten Tagen unter im Kampfgetöse der verfeindeten Mächte Militär und
Muslimbruderschaft, auch der Vertreter der Liberalen in der neuen Regierung,
Friedensnobelpreisträger Mohamed El-Baradei, hat das (sinkende) Schiff
verlassen, entsetzt über das Vorgehen des Militärs.
Und
alle geben sich gegenseitig die Schuld: Radikale Islamisten sehen in den
koptischen Christen die Drahtzieher des Putsches gegen Mursi und das Militär
kommt mehr und mehr zu der Erkenntnis, bei den Muslimbrüdern handle es sich um
eine (gut organisierte) Bande von Terroristen. Der türkische Premierminister
Erdoğan hingegen sieht im Militärputsch das Werk eines ganz anderen Gegners:
Israel habe Mursi zu Fall gebracht, um seine eigene Sicherheit zu gewährleisten.
Nicht
nur der Überblick der westlichen Beobachter ging in den letzten Tagen verloren,
sondern auch hunderte und tausende von Menschenleben. Es bleibt am Ende nur die
Hoffnung, dass die Mächtigen Ägyptens sich besinnen werden, denn beilegen
können diesen Konflikt nur die Ägypter selbst. Es wird noch eine ganze Weile
dauern, bis so etwas wie Frieden auf den Straßen Kairos und in den Köpfen der
Menschen herrscht. Man sollte mittlerweile wie Außenminister Westerwelle von „arabischen
Jahreszeiten“ sprechen, denn nach mehr als zwei Jahren ist der wechselhafte und
schwierige Prozess, der mit Demonstrationen gegen Mubarak und dem Schrei nach
Freiheit begann, noch lange nicht abgeschlossen.
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