Ein
Gastbeitrag von Max Perseke, Istanbul
Seit
fast einer Woche erlebt der Ministerpräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan,
die schwersten Proteste seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren.
Hunderttausende demonstrierten am Wochenende, die Aufstände weiteten sich auf
weite Teile der Türkei aus.
Der
türkische Innenminister Muammer Güler erklärte am Sonntag, dass seit dem 28.
Mai auf 235 Demonstrationen in 67 der 81 türkischen Provinzen 730 Demonstranten
festgenommen wurden. Die Demonstrationen zur Erhaltung des Gezi-Parks, der
letzten großflächigen Grünfläche im Zentrum Istanbuls, haben sich zu Protesten
gegen Erdoğan und seine Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) entwickelt. Rund um Taksim und den
Gezi-Park singen am Samstag Zehntausende lautstark "Hükümet! Istifa!" sowie "Tayyip! Istifa!" und fordern den Rücktritt („Istifa“) der Regierung („Hükümet“) sowie Erdoğans eigenen
Rücktritt. Im Namen der AKP steht „Adalet“
für Recht und „Kalkınma“ für
Aufschwung. Im Zentrum des Gezi Parks ist am Samstag ein Plakat angebracht –
deutlich über den Köpfen der Demonstranten, für jeden einsehbar – mit der
Aufschrift „Adalet 1938de öldü!“
(„Das Recht ist im Jahre 1938 gestorben!“) – Mustafa Kemal Atatürk starb
1938...
Auf dem Taksim-Platz und im angrenzenden Gezi-Park versammelten
sich am Samstag
zehntausende Menschen, um gegen die AKP-Regierung zu demonstrieren. (Foto: Max Perseke) |
Um
Atatürk, den ersten Präsidenten der 1923 gegründeten Türkischen Republik, wird
bis heute ein beispielloser Personenkult in der Türkei betrieben. Der „Vater
der Türken“ war ein angebeteter Kriegsheld und hat auch mit westlichen Ideen
zum Fortschritt seines Landes beigetragen, die Türkei als laizistischen Staat
etabliert. Zudem liebte Atatürk den Anisschnaps Rakı, der als Nationalgetränk
der Türken gilt. Recep Tayyip Erdoğan hingegen hat kürzlich das Joghurtgetränk
Ayran zum Nationalgetränk der Türken erkoren und dadurch ein großes – und
durchaus amüsiertes – mediales Echo bei vielen seiner Landsleute hervorgerufen.
Hinter Erdoğans Liebe zu Ayran steckt jedoch politischer Ernst. Der Zugang zu
Alkohol wird in der Türkei seit einigen Jahren stetig erschwert. Erdoğan gilt
als Neo-Osmanist, der eine konservativere Gesellschaft formen möchte. Im
internationalen Vergleich der Pressefreiheit stürzt die Türkei ab, Regelungen
zur Abtreibung werden verschärft.
Viele der Demonstranten berufen sich auf Mustafa Kemal Atatürk,
den „Vater der Türken“ und Begründer des Kemalismus.
(Foto: Max Perseke)
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An
den Demonstrationen für den Erhalt des Gezi-Parks, der einem modernen
Shopping-Center weichen soll, nahmen von Beginn an Anhänger der verschiedensten
politischen Gruppierungen teil. Es sind nicht nur reine Kemalisten, die der AKP
eine neo-liberalistische Politik samt Vetternwirtschaft vorwerfen, sondern z.B.
auch muslimische Organisationen. Seit den frühen Morgenstunden am Freitag setzt
die Polizei Tränengas und Pfefferspray gegen die Demonstranten ein. In den
sozialen Medien haben besonders Videos, die den gezielten Abschuss von
Tränengaspatronen auf Demonstranten zeigen oder Polizeipanzer, die über
Demonstranten hinwegrollen, für Empörung gesorgt. Erdoğan selbst spricht von
der Verbreitung falscher Informationen, bestätigt aber, dass der Einsatz von
Pfefferspray und Tränengas durch die Polizei untersucht werden müsse.
Max Perseke lebt seit 2012 im Istanbuler Stadtteil Fatih und studiert an der Istanbul Üniversitesi. Er schreibt für die Saale Zeitung (Bad Kissingen).
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