Am 29. November 2012 wurde Palästina der Beobachterstatus der
Vereinten Nationen gegeben. Er gilt als Vorstufe zur
Vollmitgliedschaft. Im Zuge der Aufwertung der palästinensischen Delegation
sprach die UNO erstmals von einem „Staat“. Die USA bildeten die Basis einer
gewichtigen, aber äußerst kleinen Opposition gegen die Entscheidung der
Vereinten Nationen. Europa zeigte sich gespalten, auch die Deutschen sorgten
mit ihrer Enthaltung für eine Überraschung. In Ramallah, Hebron und Gaza gab es Freudentänze,
Hupkonzerte und Gewehrschüsse zur Feier des Tages. Die unmittelbare Reaktion
auf die Entscheidung der Vereinten Nationen kam promt aus Jerusalem: Der israelische
Premierminister Benjamin Netanjahu verkündete den Bau neuer Wohnsiedlungen auf
umstrittenem Gebiet – dieses Mal an Orten, die für eine Zweistaatenlösung zu einer unangenehmen Hürde werden könnten.
In großen Schritten geht Palästinenserpräsident Mahmud Abbas auf
die Unabhängigkeit Palästinas zu. Doch was wird sich in den kommenden Monaten verändern? In
welche Richtung gegen die Ereignisse der letzten Tage, Wochen und Monate? Die
wichtigste Frage von allen wird jedoch sein: Gibt es eine neue Chance für einen
nachhaltigen Friedensprozess?
Das Jahr 2012 neigt sich dem Ende zu und im Streit um das Heilige
Land ergeben sich immer neue Situationen. Die Lage spitzt sich zu, auch wenn es
für die einen bergauf zu gehen scheint. Während die Palästinenser neues
Selbstbewusstsein schöpfen, bereitet sich die israelische Politik auf einen
Isolationskurs vor. Der Wahlkampf steht vor der Tür. Die letzte Konfrontation
mit der Hamas in Gaza hat den rechten Parteien wieder Zulauf verschafft. – Doch
nicht nur auf der israelischen Seite scheinen sich die Positionen zu
radikalisieren. Die jüngsten Erfolge der palästinensischen Vertretung vor der
UNO bekräftigen auch die Radikalen in den Reihen der Palästinenser. Der Wille,
ganz Palästina von den „zionistischen Besatzern“ zu befreien, ist stärker denn
je.
Auf israelischer Seite hat sich eine Personaländerung angekündigt: Außenminister
Avigdor Liberman, der für seine äußerst kompromisslose Haltung bekannt ist,
reichte bei seinem Chef das Rücktrittsgesuch ein. Ein Ermittlungsverfahren, das
gegen ihn seit 16 Jahren läuft, hat den aus Moldawien stammenden Politiker der
Likud-Partei zum Rücktritt bewegt. Seitdem hat der ohnehin schon schwer
beschäftigte Netanjahu dieses Amt geschäftsführend übernommen. Netanjahu treibt
die Genehmigung neuer Wohneinheiten voran. Offiziell kann wohl niemand
nachweisen, dass dieser Schritt etwas mit den jüngsten Ereignissen in New York
zu tun hat, doch es scheint offensichtlich zu sein, dass der Premierminister
zeigen will, wer in Jerusalem und Umgebung das Sagen hat. Schon vor dem Antrag
des Palästinenserpräsidenten vor der UNO waren über tausend Wohneinheiten in
Pisgat Ze’ev und Ramot genehmigt worden. Dies war wohl der erste Warnschuss. Nachdem
Abbas vor der UNO-Vollversammlung Erfolg hatte, will Netanjahu ganze 6600 neue
Wohnungen entstehen lassen, etwa 1500 davon in Ramat Schlomo. Es ist vor allem
der Nordosten Jerusalems, der hier von besonderem Interesse ist, denn dort
ließe sich mit einigen neuen Siedlungen der Weg zwischen Ramallah und Hebron in
den Palästinensergebieten abschneiden. In Panik verfallende Pessimisten sehen darin einen finalen
Schritt der israelischen Regierung, eine Zweistaatenlösung vollends unmöglich
zu machen, indem Fakten geschaffen würden in Form neuer israelischer
Wohngebiete. Angesichts der politischen Entwicklungen könnten sie nicht ganz Unrecht
haben.
Unterdessen bereitet sich die israelische Öffentlichkeit auf die
Wahlen vor, die am 22. Januar 2013 stattfinden sollen. Netanjahu scheint auch
hier wieder der sichere Gewinner zu sein. Hunderte von Raketen, die in den
letzten Monaten und Wochen im Zuge der Gaza-Krise auf israelische Dörfer und
Städte gefallen waren, haben weite Teile der Bevölkerung wieder an die Wahrung
der Sicherheit für alle Staatsbürger erinnert, die von den rechten Parteien
großgeschrieben wird. Obwohl bei weitem nicht alle Israelis hinter ihrem
Premierminister stehen, bietet sich auf der anderen Seite keine lohnende
Alternative. Die linken Parteien sind schlecht organisiert und das Lager, das
den Friedensprozess vorantreiben will, hat kaum eine Chance, bei den Wahlen zu
gewinnen oder auch nur an einer neuen Regierung beteiligt zu werden.
Was für Israel in Zukunft noch von Bedeutung sein könnte ist die
mittlerweile eher kritische und zuvor nicht gekannte Haltung, die sich in der
deutschen Politik breit macht: Nicht nur Sigmar Gabriel (SPD), der im März bei seinem
Hebron-Besuch von einem „Apartheid-Regime“ sprach, verschafft sich Gehör. Auch
die Kanzlerin tat sich schwer damit, ihrem israelischen Amtskollegen bei seinem
letztem Besuch kurz nach der Bekanntmachung, es werde (tausende) neue Wohnungen
auf umstrittenem Gebiet geben, alles durchgehen zu lassen. In der Frage der
Siedlungen könne sie nur sagen, „dass wir uns einig sind, dass wir uns nicht
einig sind“.
Dass Kritik selbst vonseiten der deutschen Regierung laut wird, müsste
für Netanjahu ein eindeutiges Zeichen sein: Der derzeitige Kurs könnte der
falsche sein und in die internationale Isolation führen. Die Zeiten, in denen
man noch Mitgefühl und Solidarität verspürte für ein bedrängtes und
angreifbares Israel, scheinen vorbei zu sein – und das schon seit dem Jahre
1967. Zu lange schon gehört Israel selbst zu den Besatzern. Und zu groß sind auch die die Veränderungen, die sich dieser Tage vollziehen: Obwohl
der Arabische Frühling – zwei Jahre nach seinem Ausbruch – zwar nur an den
wenigsten Orten wirklich positive Veränderungen in Form von sicheren,
demokratischen Systemen hervorgebracht hat, so zeugt er doch tagtäglich von der
Tatsache, dass wir im 21. Jahrhundert angekommen sind. Die Diskussionen auf den
Straßen der arabischen Welt und die schleppende, aber kreativ gestaltete Veränderung
im Nahen Osten zeigen Israel, dass es nicht mehr nur eine einfarbige Masse von Feinden
um sich hat. Vielmehr bilden sich hier neue Parlamente, neue Regierungen, neue
Kräfte, die man nicht durch Verträge dazu verpflichten kann, vom Schicksal der
palästinensischen Nachbarn unbeeindruckt weiter den Unbeteiligten zu spielen.
In unserem Jahrtausend wird es immer unmöglicher, ein Gebiet mit militärischer
Macht zu besetzen und seine Bewohner zu Rechtlosen zu machen, die Militärgerichten
unterstellt sind. Die Zeiten, in der man spätpubertierende Jugendliche in
Uniformen stecken und als Besatzer in einen rechtsfreien Raum entsenden kann, ohne die Verantwortung für ihre Taten übernehmen zu
müssen, könnten bald Geschichte sein. Ein vor der UNO aufgewertetes Palästina
lässt sich so leicht nicht mehr zerspalten und in Zonen einteilen, während die
Welt nur zuschaut.
Bei aller Einigkeit vor der Versammlung der Vereinten Nationen
präsentiert Palästina jedoch nicht nur geografisch ein gespaltetes Territorium.
Fatah und Hamas, die beiden entscheidenden Parteien, hatten vor über
zweieinhalb Jahren den Versuch gewagt, sich einander näher zu kommen. Dieser
Versuch war mehr oder weniger gescheitert. Noch immer unterscheiden sich die
beiden Kräfte wie Tag und Nacht. Doch auch auf palästinensischer Seite haben
sich die Töne geändert. Abbas hat sich mit seinem internationalen Erfolg neue
Sympathiepunkte sichern können. Das Volk wagt ein neues Selbstbewusstsein und
bereitet sich vor auf die Unabhängigkeit. Einige Extremisten, die im Zuge der
Gaza-Krise großen Zulauf erhalten haben, bereiten sich indes auf einen anderen
Sturm vor – nämlich den Sturm auf Jerusalem. So scheint es zumindest, verfolgt
man die neusten Berichte aus Hebron, der Hamas-Hochburg im Westjordanland. Dort
hatte die Autonomiebehörde kürzlich eine Kundgebung zum 25jährigen Jubiläum der
radikalislamischen Organisation gebilligt. Tausende Menschen feierten die
Märtyrer vergangener und die neuen Helden unserer Tage. Hier ist genau jenes
Bild präsent, das die israelische Öffentlichkeit und auch die israelische
Politik oft zu ihrem strengen Rechtskurs drängt: Landkarten Palästinas, auf
denen Israel ausgelöscht ist, palästinensisches Gebiet vom Jordan bis zum
Mittelmeer. Und die Demonstranten, die Zuschauer, die Kinder zeigen deutlich,
dass sie keinen anderen Weg sehen als die Auslöschung des Feindes.
Kompromissbereit zeigen sich hier die wenigsten.
Während Israel – auch unter Netanjahu – seinen Willen zur
Zweistaatenlösung immer wieder beteuert und die Palästinensische
Autonomiebehörde sich unter Palästinenserpräsident Mahmud Abbas immer wieder
dazu zwingt, dies auch zu tun, gibt es auf Seiten der Hamas nur den klaren Kurs
gen Jerusalem, ohne Abstriche. Israel hat keine Zukunft, die Juden sollen
wieder dahin zurückgehen wo sie einst hergekommen sind, so lautet hier die über
weite Teile der Bevölkerung akzeptierte Meinung. Einen Frieden mit Israel wird
es nie geben. Das ist bei der Hamas offiziell.
Während die eine Veränderung in Richtung der Radikalisierung geht,
kommen jedoch auch beschwichtigende Töne aus Palästina bzw. in diesem Fall –
aus der Türkei: Palästinenserpräsident Abbas hat kürzlich die Äußerung des
Hamas-Führers Chaled Maschal zum Staat Israel kritisiert. Die Hamas habe einer
Zweistaatenlösung zugestimmt und müsse deshalb auch Israel anerkennen, sagte
der Fatah-Chef am Ende seines zweitägigen Besuches in der Ankara vor
Journalisten.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, hat einmal ein bedauernswert naiver,
aber optimistischer Volksmund gesagt. Vielleicht ist es auch in diesem Fall so.
Festzustellen bleibt am Ende jedoch, dass auf beiden Seiten der Mauer zunächst
ein Rechtsruck zu befürchten ist. Radikale Palästinenser werden durch
internationale Unterstützung nicht kompromissbereiter. Dennoch: Die einzigen, die im
Moment für eine Entschärfung sorgen könnten bzw. für ein in-die-Wege-Leiten
eines neuen Friedensprozesses, sind die Politiker auf der israelischen Seite.
Anstatt wie erst kürzlich auf die harte Tour zu setzen und weiter eine
gemeinsame Gesprächsgrundlage mit sandfarbenen Mehrfamilienhäusern zu verbauen,
müsste Netanjahu auf seine palästinensischen Rivalen zugehen, denn diese
könnten bald mit ihm auf einer Augenhöhe sein. Vielleicht sollte er Abbas, der
im Gegensatz zur Hamas das „kleinere Übel“ darstellen dürfte, schon vorzeitig
auf seine Stufe stellen und sich somit seinen Wunschgesprächspartner in dessen
Position sichern, denn mit der Hamas wird in nächster Zeit wohl kam zu reden
sein.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die israelische Wählerschaft im
Januar bei den Parlamentswahlen entscheiden wird. Doch unabhängig davon sollte
irgendwann jemand aufstehen und alle Beteiligten darauf hinweisen, dass eine
Chance nach der nächsten ungenutzt vorbeizieht und jedes israelische und
palästinensische Kind zum wiederholten Mal um die Perspektive auf ein Leben in
Frieden mit seinen Nachbarn beraubt.
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