Heute Morgen las ich in der Sonntagsausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) einen interessanten Artikel des ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel. Er basierte auf einer Rede des CDU-Politikers vor der Seniorenunion. "Wo auch sonst?", schreibt die FAZ im Untertitel. "Auf CDU-Parteitagen spricht so seit Jahren niemand mehr."
Der Artikel bietet einen Blick auf die aktuelle Situation der CDU und die soziale Lage der Bundesbürger, sowie ein breites Spektrum an Themen, von Europa- bis zu Bildungspolitik. Hier einige Ausschnitte.
Die Lage der CDU
"Die Lage [der CDU/CSU] ist ernst, wie jeder aus vielen Gesprächen weiß. Wir haben eine Landtagswahl nach der anderen verloren. Wir sind in Umfragen jüngsten Datums auf Bundesebene bei 34,5 Prozent. Wer es mit unserer Partei gut meint, folgt nicht blind jedem Kurs und jedem Kurswechsel, sondern bildet sich ein eigenes Urteil. Er hört auf die Bürger und Fachleute. Er betrachtet die Wirklichkeit und nutzt seine Lebenserfahrung und sein Urteilsvermögen für Analysen und Orientierungen. Nur damit ist der Union gedient."
"Die Union bleibt nur mehrheitsfähig, wenn sie für Christen, für Konservative, für Liberale und für suchende und offene junge Menschen wählbar bleibt. Wir hatten noch nie eine so offene junge Generation bar jeder Ideologie wie die heutige an der Oberstufe unserer Gymnasien und an unseren Universitäten. Die hören zu! Die überlassen das Feld der Diskussion nicht mehr einigen Ideologen, sondern die sind bereit, auch andere Meinungen zu übernehmen, die sie für glaubwürdig halten. Wir müssen ihnen zuhören und ihre Fragen beantworten."
"Kurzum: die CDU liegt derzeit weit unter ihren Möglichkeiten. Die CDU sollte deshalb ihre Stammwählerschaft wieder zu Anhängern machen durch eine weitsichtige, berechenbare, vertrauenswürdige, wirklichkeitsnahe und werteorientierte Politik. Die CDU sollte ihre potentiellen Möglichkeiten nicht selbst kleinreden, sie sollte nicht den Rückgang der Bindung der Menschen an den christlichen Glauben beklagen und damit fehlende Stimmen begründen, sondern ihre Politik ausrichten am Schicksal der Menschen."
"Dahin müssen wir auf Bundesebene und Landesebene wieder kommen: dass wir in den Augen der Bürger wieder die Partei der einfachen Leute, die große Volkspartei der Mitte, sind. Die einfachen Leute sind immer in der Mehrheit. Und die CDU braucht sich um Mehrheiten nicht zu sorgen, wenn sie die Partei der einfachen Leute ist."
Wirtschaft
"Ich meine, eine [...] Steuerstrukturreform muss Vorrang haben vor jeder Steuerentlastung. Vor kurzem hat Professor Kirchhof ein solches Buch herausgegeben. Das ist durchdacht, das ist nicht in allgemeinen Leitlinien formuliert, sondern paragraphenscharf und in Verordnungen. Das könnte übernommen und realisiert werden. Die letzte wirkliche Strukturreform hat es unter dem Reichsfinanzminister Matthias Erzberger in der Weimarer Republik gegeben."
"Ich glaube, die Menschen müssen spüren, dass Wirtschaft kein Selbstzweck ist, sondern von Menschen für Menschen gemacht wird. Noch heute bekomme ich Briefe von jungen Akademikerinnen und Akademikern, die ein Praktikum nach dem anderen machen und keine feste Anstellung haben, und ich lese jeden Tag, wir müssen Fachleute importieren aus anderen Ländern. Nein, wir müssen zuerst unseren eigenen jungen Leuten Beschäftigungschancen ermöglichen. Unsere Wirtschaft muss den Frauen gleichwertige und gleich bezahlte Beschäftigungschancen bieten. Ich kann es nicht für gerecht halten, dass eine Frau 30 Prozent weniger verdient, wenn sie die exakt gleiche Arbeit tut wie ein Mann."
"Unsere Wirtschaftspolitik muss Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger in Arbeit bringen. Arbeit muss sich lohnen, und wer nicht arbeitet, darf nicht genauso gestellt werden wie ein Arbeiter."
Das "C"
"Die CDU ist kein verlängerter Arm der Kirchen. Wir bejahen aus Überzeugung die Trennung von Kirche und Staat, weil beide ganz unterschiedliche Aufgaben haben. Aber wir sind für eine gute Zusammenarbeit mit den Kirchen in allen Bereichen, in denen es für die Menschen gut ist. Wir bejahen einen Weltauftrag der Christen, Nächstenliebe und Solidarität für Arme und Randgruppen im eigenen Land und weltweit. Wir orientieren uns an der Wirklichkeit, am Gemeinwohl, an den Grundrechten des Menschen und den Grundwerten des Christentums. Die CDU hat nur zwei Möglichkeiten, aber nicht drei. Die CDU kann sich in Zukunft am "C" orientieren, oder sie kann das "C" aufgeben, aber es gibt keinen dritten Weg. Sie darf nicht das "C" im Schilde führen, wenn sie sich nicht an ihm orientiert."
Familienpolitik
"Und das alles nennen wir Erziehungs-"Urlaub"! Aber es ist Erziehungsarbeit und sollte auch vergütet werden. Familien mit einem Normaleinkommen und mehreren Kindern geraten heute in Deutschland an den Rand des Existenzminimums. Es geht bei ihnen am Ende des Monats null auf null auf. Und für den außergewöhnlichen Fall ist überhaupt keine Reserve vorhanden. Und der außergewöhnliche Fall ist bereits, wenn die Waschmaschine kaputtgeht und ersetzt werden muss, der außergewöhnliche Fall ist, wenn zwei Kinder gleichzeitig in ein Schullandheim gehen müssen und man muss zwei-, dreihundert Euro auf den Tisch legen und die müssen sie mitbringen in die Schule.
Man muss sich mal wirklich hineindenken in die Situation dieser Familien. Sie sind auch besonders betroffen von der Steigerung der Nahrungsmittelpreise, von der Erhöhung der Mehrwertsteuer, von der geplanten starken Erhöhung der Strompreise.
In der Familienpolitik muss sich das "C" zeigen: Das Wohl des Kindes muss Vorrang haben vor den Interessen der Wirtschaft.
[...]
Heute hat die CDU ein Elterngeld geschaffen. Es wird aber nur noch ein Jahr gewährt und ist an das letzte Nettoeinkommen gekoppelt. Eine Mutter, die als Kassiererin im Supermarkt arbeitet, erhält also etwa 600 Euro im Monat, eine Bankkauffrau 1200 Euro und eine Akademikerin 1800 Euro. Mütter mit dem geringsten Einkommen erhalten den niedrigsten Betrag. Das ist die größte Ungerechtigkeit, die man sich denken kann."
Bildung
Das dreigliedrige Schulsystem, das Begabung erkennt und Leistung fördert, hat über viele Jahre eindeutig bessere Ergebnisse erbracht als die integrierte Gesamtschule. Die Hauptschule - warum sagt das niemand?! - muss in Einheit mit der Berufsschule gesehen werden. Ich hätte überhaupt nicht die moralische Kompetenz, einem jungen Menschen mit zehn Jahren und seinen Eltern nach der Grundschule zu sagen: "Sie geben vernünftigerweise Ihr Kind lieber in die Hauptschule", wenn das die Entscheidung fürs Leben wäre. Aber ein Hauptschüler, der hat die Möglichkeit, nach der Hauptschule an einer zweijährigen Berufsfachschule auf seine Begabung bezogen zur mittleren Reife zu kommen. Er hat die Möglichkeit, zu einem beruflichen Abitur zu kommen. Bei uns kommen schon fast so viele Abiturienten auf diesem zweiten Weg zur Studienberechtigung wie aus dem allgemeinbildenden Gymnasium. Auch Meisterprüfungen müssen als Hochschulzugang gewertet werden. Wir brauchen ein offenes und differenziertes Hochschulsystem.
Ich lese, jetzt wird sich der Bundesparteitag mit der Hauptschule und der Auflösung der Hauptschule beschäftigen. Wissen Sie, ich frage mich auch, wofür wir in der Verfassung stehen haben, dass die Länder für die Schulen zuständig sind, warum wir vor fünf Jahren eine Föderalismusreform gemacht haben und in dieser Föderalismusreform alle Zuständigkeiten, die der Bund im Lauf von 40 Jahren an sich gezogen hatte in der Bildungspolitik, wieder zurückgegeben haben an die Länder. Und jetzt beschließt ein Bundesgremium der Partei, wie unsere Bildungspolitik in den Ländern aussehen soll."
Angst
"Angst ist heute ein vorrangiges Merkmal der Deutschen in den Augen der Welt. "German Angst" ist in die englische Sprache eingegangen. Wir brauchen deshalb, meine ich, vorrangig einen Ausstieg aus der Angst in unserem Land. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Bei einem der großen deutschen lebenden Theologen, er ist jetzt 93, Eugen Biser in München, habe ich den Satz gelesen: "Der Gegensatz zum Glauben ist nicht der Unglaube, sondern die Angst." Und ich frage mich: Haben wir deshalb so große Ängste, mehr als in jedem anderen Land, weil bei uns der Glaube verdunstet und vielen von uns keinen Halt mehr gibt?"
Alter, Rente und Armut
"Wenn in unserem Land durch ein beispielhaft gutes Gesundheitswesen die Menschen länger leben als alle ihre Vorfahren, wird es nicht zu vermeiden sein, dass wir das Renteneintrittsalter heraufsetzen. Aber die Lebenserfahrung, dass Menschen an der Schwelle des Rentenalters ganz unterschiedlich sind, sollte zu einer viel größeren Flexibilität führen. Mancher erreicht mit 60 kaum das Ufer. Ein anderer ist mit 65 und höher noch voll arbeitsfähig und will auch länger arbeiten. Ein starres Renteneintrittsalter wird dem nicht gerecht. Selbstverständlich muss einer, der länger arbeitet, auch eine höhere Rente bekommen als einer, der weniger lange im Arbeitsprozess ist.
Es gibt in unserem Land eine ganz neue Form von Armut. Ich hab sie vor vielen Jahren definiert gelesen, zum ersten Mal bei einem französischen Arbeiterpriester, nämlich bei Jacques Loew. Er schreibt: "Arm ist der, dem niemand zuhört." Mehr als die Hälfte der Haushalte in den deutschen Großstädten sind heute Einpersonenhaushalte. Da sind natürlich junge Menschen dabei, die gerne für ein paar Jahre eine sturmfreie Bude haben. Aber da sind auch unglaublich viele ältere Menschen dabei, die allein sind und vereinsamen. Sie haben das Existenzminimum, aber sie haben niemanden, der ihnen zuhört."
Europa, Vertrauen und Finanzen
"Die Ursache für den Europa-Frust sind heute die überzogene Bürokratie in Brüssel und, jüngsten Datums, die Unsicherheit über die Zahlungsfähigkeit von Euro-Ländern und über die Wirksamkeit der Hilfen in Milliardenhöhe. [...] Wir müssen Europa von den Menschen her denken und von unten nach oben aufbauen. Das heißt, wir müssen Europa vom Kopf auf die Füße stellen."
"Wenn Staats- und Regierungschefs in einer Nacht wesentliche Stabilitätskriterien wegputzen, die in Verträgen festgehalten, also geltendes Recht sind, geht Vertrauen verloren. Vom Bürger erwartet man, dass er sich an Normen, an Recht und Gesetz, an Verträge hält - und Staats- und Regierungschefs tun es nicht."
"Ich würde keinem Politiker vertrauen, der sich nicht an Recht und Gesetz, nicht an die Verfassung hält. Denn keiner von uns steht über dem Recht. Das ist das Wesen des Rechtsstaats."
(Erwin Teufel war 1991 bis 2005 Ministerpräsident von baden-Württemberg.)
(Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 30 D am 31.07.2011)
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