Zusammen mit Tino fahre ich weiter nach Bosnien. Die sechsstündige Fahrt von Kotor entlang der Dalmatischen Küste über Dubrovnik nach Mostar ist mit Gesellschaft viel interessanter und unterhaltsamer. Die Küstenstraße schlängelt sich dicht am Wasser in Richtung Norden. Es dauert allein fast eine Stunde, bis die Bucht von Kotor überwunden ist und man sich schließlich am offenen Meer entlang bewegt. An der kroatischen Grenze werden wir aufgehalten, weil zwei Nigerianer keinen montenegrinischen Einreisestempel haben. Normalerweise dauert die Passkontrolle bei ganzen sechs Fahrgästen nur Minuten, in diesem Fall pausieren wir aber eine geschlagene Stunde. Am Ende lässt man die Nigerianer nicht einreisen und der Bus fährt weiter. Nach wenigen hundert Metern fällt uns auf, dass die Pässe noch fehlen. Tino geht nach vorne, der Busfahrer flucht, steigt auf die Bremse und legt den Rückwärtsgang ein. Einige Sekunden später kommt schon ein Militärfahrzeug angebraust und man übergibt dem gestressten Busfahrer unsere Pässe. Aufgrund der Verspätung sehen wir Dubrovnik leider nur bei Nacht. Am Busbahnhof muss ich ein neues Ticket lösen, doch der Bus bleibt derselbe. Natürlich ist keiner mit den Vorschriften vertraut, wir besitzen kein kroatisches Geld und schließlich behilft man sich irgendwie. Auch Kroatien ist noch balkanesisch spontan und flexibel. Nur der Busfahrer ist leicht genervt. Sein Zeitplan ist ordentlich durcheinander geraten.
Die bosnische Stadt Mostar liegt in einem Flusstal in der Mitte der Herzegowina, eingerahmt von grünen Hügeln. Der Ort ist von Kroatien aus verhältnismäßig schnell erreicht und bietet den ersten nächtlichen Eindruck des Landes: Hausfassaden voller Einschusslöcher. Ein völlig ungewohntes Bild. Man führt sich automatisch vor Augen, dass hier vor gut 15 Jahren noch Krieg war. Auch ein erster Gang bei Nacht durch die Gassen des Städtchens führt vorbei an unzähligen Häusern, die immer noch schwer beschädigt sind. Und es sind keine vereinzelten, kleinen Löcher, die hier die Geschichte eines Konflikts erzählen, der eine Stadt gespalten hat. Es sind ganze Gebäude, die in einem schon fast regelmäßig erscheinenden Muster besprenkelt sind. Die Ruhe der Nacht wirkt fast etwas gespenstisch, wenn man sich vorstellt, dass es hier während des vier Jahre andauernden Krieges kaum Nächte gegeben haben kann, die nicht durch Schüsse und Kanonendonner zerrissen worden wären. An einer Hauptstraße jenseits des kleinen Flusses Neretva lag zur Kriegszeit die Hauptkampflinie. Hier ist noch jedes zweite Haus komplett zerstört. Dazwischen strecken sich neue, frisch renovierte Mehrfamilienhäuser in die Luft. Ein bizarrer Anblick, vor allem bei Nacht.
Und dennoch, die Moscheen der Stadt sind beleuchtet, ebenso die berühmte Brücke über den Fluss. Die Neretva trennt den bosniakischen vom kroatischen Teil der Altstadt. Hinter der kroatischen Altstadt reckt die Franziskanerkirche ihren neuen Beton-Turm in die Höhe, der alle Minarette der Stadt um Meter überragt. Die Politik hat hier auch die Religion instrumentalisiert, möchte man meinen.
Bei Tag betrachtet bietet Mostar schon ein etwas zuversichtlicheres Bild. Vor allem die gepflasterten Gassen der Altstadt wirken sehr idyllisch mit ihren Souvenirläden, den kleinen Restaurants und Handwerkergeschäften. Doch die Geschichte ist lebendig: Metallhandwerker stellen aus Patronenhülsen kleine und große Andenken für Weltreisende her. Aus Überresten des gegenseitigen Bombardements entstehen Kunstwerke, die ein Spektrum von liebevoll verzierten Kugelschreibern bis hin zu großen Blumenvasen umfassen. Sogar die ersten Touristen haben sich im März nach Mostar gewagt und besuchen die wunderschöne Altstadt. Alle suchen das begehrteste Fotomotiv der Stadt, die Stari Most (Alte Brücke). Eine jahrhundertealte Tradition bewegt junge Männer bis heute dazu, den 24 Meter tiefen Sprung in den eiskalten Fluss zu wagen. Traurige Berühmtheit erlangte das osmanische Bauwerk aus dem 16. Jahrhundert, als es im November 1993 gezielt durch kroatische Kräfte zerstört wurde. Hatten Bosniaken und Kroaten noch zuvor vereint gegen die serbische Armee gekämpft, so hatten Streitereien und Uneinigkeiten im Laufe der Auseinandersetzungen dazu geführt, dass sich nun Verbündete gegenüberstanden. Im Brückenmuseum nebenan kann man heute die Filmaufnahmen der Zerstörung anschauen. Durch die Zerstörung der Brücke wurde Mostar zerteilt in zwei Hälften.
Nach dem Krieg wurde die Alte Brücke wieder aufgebaut und 2004 feierlich eingeweiht. Die Menschen sind keine Feinde mehr, aber es ist kaum zu übersehen, dass außer den Touristen kaum jemand die smaragdgrüne Neretva an dieser Stelle überquert. Die Einheimischen bleiben jeweils auf ihren eigenen Seiten. Der Fluss ist so tief wie der Spalt zwischen den Bewohnern. Zwar wurde fast alles – auch mit ausländischer Hilfe – wieder aufgebaut. So wurden einzelne Moscheen und eine Schule vom saudi-arabischen Königreich gesponsert. Doch viele Menschen haben nachts noch den Kanonendonner in den Ohren. Die Häuserwände sind vielerorts ordentlich verputzt worden, aber in jeder Straße erinnern Löcher an den Beschuss. Im bosniakisch-muslimischen Teil der Stadt drängen sich an jede Moschee die weißen, spitzen Marmorgrabsteine derer, die zwischen 1992 und 1996 gestorben sind, jeder christliche Friedhof ist genauso überfüllt. Die meisten der Toten waren junge Menschen, ein Großteil der Grabsteine trägt das Todesdatum 1993.
Seit 2004 wird jedes Jahr der Friedenspreis von Mostar verliehen. Berühmte Träger waren unter anderen Vaclav Havel, Nelson Mandela und Mohammed el-Baradei. Mostar ist auf dem Weg der Besserung. Die Stadt macht – besonders bei einem sonnigen Spaziergang am Morgen – einen zuversichtlichen Eindruck. Doch sie ist auf eine gewisse Art und Weise immer noch geteilt. Narben von damals sind viele geblieben. Und auch im Esszimmer der Familie, bei der Tino und ich privat unterkommen, hängt an der Wand das Bild des Familienvaters. Ein Mann in Uniform, der aus dem Krieg nicht wieder gekommen ist. Seitdem ist die Familie auf den Tourismus angewiesen, jeden Tag steht Frau Nasumović am Busbahnhof und bietet Zimmer im zentral gelegenen Plattenbau an, vor dessen Treppenaufgang sich der Plastikmüll türmt. Die Wohnung ist sauber und die Wände geziert mit Bildern aller Arten, auf denen immer dasselbe Motiv zu sehen ist: Die Alte Brücke über die Neretva.
Bosnien ist cool ;)
AntwortenLöschen