Meine Reise durch Montenegro war nur kurz und hat sich auf die Küste beschränkt. So kam ich nach Kotor, in eine der schönsten Städte des Balkans. Sie ist nicht exemplarisch für das ganze Land, aber dennoch eröffnen sich hier Einblicke in die Gesellschaft Montenegros.
Mir ist zunächst aufgefallen, dass die Küstenregion Montenegros um ein Vielfaches teurer ist als die Länder, durch die ich bisher gekommen bin. Man bezahlt mit dem Euro. Busfahrten sind gut und gerne doppel so teuer wie in Albanien. Die Restaurants haben durchaus mitteleuropäisches Niveau. Auch die Menschen machen einen durchaus westlichen Eindruck. Die Montenegriner sind ein sehr junges - und modebewusstes - Volk. Die Frage kommt auf, ob wohl jeder Montenegriner das Einkommen hat um hier nach EU-Standards zu leben. Gibt es hier genug Arbeit? Wie sind die Löhne? Immerhin ist Montenegro unabhängig und hat den letzten Jahren viele Investoren ins Land gelockt.
Am letzten Abend klären sich einige der Fragen, als ich und ein paar andere Leute mit Miljan ins Gespräch kommen, dem Betreiber des Hostels. Er ist selbst Montenegriner und stammt aus Budva. Zuerst unterhalten wir uns auf einem sehr lockeren Niveau über Fußball, jeder macht seine Witze über die holländisch-deutsche Feindschaft. Beim Thema Feindschaft kommen wir auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Miljan versteht es nicht, dass die Italiener in dieser Gegend viel angesehener und willkommener seien als die Deutschen. Dabei haben damals doch beide an einem Strang gezogen. Er jedenfalls ist der Meinung, dass man sich einiges von den Deutschen abschauen könnte. Ich runzle die Stirn, wie man es als Deutscher im Ausland wohl des Öfteren tut, wenn es um den Zweiten Weltkrieg und die deutschen „Errungenschaften“ geht. Doch später verstehe ich, was er damit gemeint hat.
Miljan erzählt uns von der Wirtschaftlage seiner Heimat, von der Korruption und von Sportwetten. Es sei ja nicht so, dass jedes Fußballspiel in Europa gekauft sei. Aber alle zwei Monate bekommt man in Montenegro einen Anruf und weiß danach genau, auf welche Mannschaft der Dritten Deutschen Liga man setzen muss, um sein Einkommen zu verdoppeln. Alle seien korrupt, sagt Miljan. Die Fußballkultur im Land selbst sei durchzogen von Korruption, in ganz Ex-Jugoslawien würden bestimmte Spielergebnisse schon Wochen vorher feststehen. Wenn zum Beispiel zwei Teams demselben Geschäftsmann gehören. Das Hinspiel gewinnt dann die eine, das Rückspiel die andere Mannschaft.
Doch die Mentalität sei ja nicht nur auf Fußball begrenzt. Die ganze Politik sei in kriminelle Machenschaften verwickelt. Die Wirtschaft in Montenegro ist praktisch gelähmt. Keiner weiß so recht wohin. Natürlich gebe es Investoren. Im Land gibt es wenig Industrie, Fabriken würden aufgekauft und danach geschlossen, weil es sich nicht lohne, sie weiter zu betreiben. Dadurch würden immer mehr Menschen arbeitslos. Im Norden, meint der Hostelbetreiber, seien die Menschen arm und könnten sich keine neuen Schuhe leisten.
Nach der Loslösung von Serbien und der Unabhängigkeit Montenegros im Jahre 2006 sind viele – vor allem russische – Investoren ins Land gekommen. Miljan sieht aber vor allem den Tourismus auch mit einem kritischen Auge. Die russischen Millionäre würden das Landschaftsbild zerstören durch ihre gigantischen Hotelkomplexe, in denen kein westlicher Tourist wohnen wolle. In seiner Heimatstadt Budva hat er es beobachtet. Es gibt keine Regeln, keine Bauvorschriften. Und selbst wenn es welche gibt, dann kann man sich Ausnahmen erkaufen für billiges Geld.
Montenegros Wirtschaft bräuchte einen Aufschwung. Serbien hat mit Bar einen wichtigen Hochseehafen verloren. Man bräuchte nur eine ausgebaute Strecke von Bar nach Serbien, meint Miljan. Die hat man auch versucht zu bauen. Im Jahr 2009 sollte offiziell mit dem Bau begonnen werden. Verträge bestanden, Politiker kamen um den Bau einzuweihen. Die Presse war in Scharen vertreten. – Nach zwei Tagen wurden die Bauarbeiten eingestellt. Die Verträge mit den kroatischen Baufirmen waren gekündigt worden. Seitdem steht das Projekt still.
Hinter der Maskerade der Politik verbirgt sich ein verrottetes System. Was Montenegro fehle sei Arbeitsmoral, erklärt er uns. Und hier beginnen wir zu verstehen, was er mit den „guten Seiten“ der Deutschen gemeint hat. Er hatte es nicht auf den Krieg bezogen, sondern eher auf die Tugenden. Die Menschen in Montenegro, von jung bis alt, würden sich nur für Sportwetten, Casinos und italienische Mode interessieren, meint Miljan. Niemand will mehr arbeiten. Er selbst habe im Sommer noch Strandaufseher gesucht, die in Budva für ihn arbeiten sollten. Seine Freunde hatte er gefragt, ihnen gesagt, sie müssen sich keine Sorgen um die Arbeitszeiten machen, er wäre dann ja schließlich der Chef und könne ihnen Freiheiten verschaffen. Aber er hat auch unter seinen Freunden niemanden gefunden, der arbeiten will. Die Regierung ist kein Vorbild. Anstatt Bürokratie abzubauen und Staatsschulden zu tilgen würden zugelassen, dass immer mehr Menschen in den Staatssektor drängen. Als Beamter verdiene man gutes Geld mit verhältnismäßig wenig Arbeit, meint Miljan. Die Menschen würden außerdem den Wohlstand des Westens sehen und genauso leben wollen. Sogar im armen Norden würde man für die neueste Mode Geld ausgeben, obwohl es für die Miete schon knapp wird.
Dieses abendliche Gespräch hat uns ins Grübeln gebracht. Natürlich, die Sicht eines Einzigen auf die Masse der Bevölkerung ist für keine Statistik repräsentativ. Aber dennoch betrachteten wir Montenegro jetzt aus anderen Augen. Denn ein bisschen etwas Wahres scheint tatsächlich dran zu sein. Kotor ist nicht nur ein Anziehungspunkt für Touristen, die von Budva aus einen Tagesausflug machen, sondern auch für die einheimische Jugend. In den Cafés sitzen fast ausschließlich junge Leute. Diese Generation verkörpert dieses ganz besondere Joie de vivre, das sich deutlich von den Ländern unterscheidet, die ich bis jetzt auf meiner Reise besucht hatte. Die Cafés sind vormittags schon gefüllt. Abends haben die Discos Hochbetrieb. Während ich mittags um halb eins auf einem der kleinen Plätze Kotors eine Pizza esse, sitzen ein paar Tische weiter einige junge Montenegriner mit italienischen Sonnenbrillen, gestylten Freundinnen und einem Gläschen Whiskey on the Rocks…
Und an den Souvenirständen gibt es Postkarten, die in mindestens 5 Sprachen die „10 Gebote der Montenegriner“ verbreitet. Auf billigem GoogleTranslator-Deutsch wird hier erklärt, warum es sich nicht lohnt, morgens früh aufzustehen oder warum Arbeit zu einem frühzeitigen Tod führen kann. Das alles erscheint mir jetzt, im Rückblick auf die "Insider-Informationen" eines Hostel-Betreibers, ein wenig skurril.
Es scheint schon ein bisschen so, als könnte man in Montenegro gut und auf hohem Niveau leben… und manchmal auch über seinen Kosten. Allerdings wäre hier durchaus Potenzial für mehr da: Ein wunderschönes Land mit einer atemberaubenden Küste, einer interessanten Geschichte und glasklarem Wasser - vielleicht bräuchte man hier einfach mehr deutsche Investoren. Und der Zeitpunkt wäre günstig. Die Zeit der gigantisch hohen Immobilienpreise hat um 2005 ihren Höhepunkt erreicht. Jetzt hingegen wäre wieder der richtige Zeitpunkt, um sich ein schönes Häuschen für die Rente zu sichern. ;)
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Dienstag, 27. März 2012
Montenegro - Ein kritischer Blick auf das neuentdeckte Joie de vivre einer Gesellschaft
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