Seit Ende des Jahres 2010 hat sich im Nahen Osten politisch viel getan. Plötzlich sind die Karten im Nahen Osten völlig neu verteilt. Der Umschwung war notwendig und überfällig, auch wenn in Europa niemand damit gerechnet hatte. Dabei war es anzusehen, dass Veränderungen stattfinden mussten. Auch politisch war dies spürbar. Im Nahen Osten war in den letzten Jahren ein nicht zu verachtendes Machtvakuum entstanden: Die wichtigsten Machtpole der Region, Ägypten und Syrien, hatten bedeutend an Einfluss eingebüßt. Der ägyptische Diktator Mubarak war ein altersschwacher, kranker Mann. Dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad war es seit dem Tod seines Vaters im Jahr 2000 nicht gelungen, eine vergleichbar stabile Machtposition wie sein Vater einzunehmen. Die Diktaturen waren am kränkeln. In dieses Vakuum war nun der Iran getreten, der sich neuerdings als der Pate des Panarabismus verstand. Dieses Phänomen war untypisch für den Iran, der sich zwar als sehr islamisch, aber auch persisch und keineswegs arabisch versteht. Der Iran trat nun als Schirmherr der arabischen Bewegung auf und unterstützte zudem die Terrorgruppen Hisbollah und Hamas mit Waffen und Geldern. Als neue Kraft kam auch die Türkei ins Spiel. Von der EU immer wieder aufs Neue zurückgewiesen und auf später vertröstet, machte die Türkei ihren Machtanspruch im Nahen Osten geltend und trat in die Fußstapfen des ehemaligen osmanischen Großreichs, an dessen Erbe man sich erinnerte.
Der Nahe Osten befand sich ohnehin im Umschwung. Doch nun kam der entscheidende Faktor mit dazu: das Volk. Die Menschen forderten ihre Rechte ein. Es kam zu Umwälzungen und Revolutionen, deren Tragweite in Europa zuerst vollkommen übersehen wurde. Die Aufstände der Menschen in Nordafrika und dem Nahen Osten brachten deutliche Veränderungen, sowohl für die unmittelbar Betroffenen als auch für die ganze Welt. Die arabische Welt ist nun auf dem Weg, für Europa ein wirtschaftlicher Konkurrent auf Augenhöhe zu werden. Auch – aber nicht nur – für Israel sind diese Veränderungen von Bedeutung. Plötzlich ist das kleine Land nicht mehr die „einzige Demokratie des Nahen Ostens“, wie es sich selbst gern bezeichnete. Ägypten, Tunesien und einige andere Länder sind im Aufbruch in eine neue Ära. Bis vor Kurzem war die Situation im Nahen Osten noch eindeutig: Ausnahmslos totalitäre Regime, die ihre Völker unterdrückten, ihre Länder ausbeuteten und Unmengen an Geldern, die im Land und in der Wirtschaft dringend gebraucht worden wären, auf ihre Schweizer Bankkonten deponierten. Für den Westen, der gerne die Demokratie predigt, waren diese Verhältnisse scheinbar kein Problem. Man hatte mit Husni Mubarak und all den anderen einige solide Verhandlungspartner. Der Westen nahm es hin, dass man Menschenrechte zugunsten von Stabilität und wirtschaftlichen Interessen zurücksteckte. Noch Tage nachdem in Tunesien die ersten Proteste ausbrachen, bot Paris seinem ehemaligen Ziehsohn Unterstützung bei der Unterdrückung der Demonstranten an. Dennoch kam es zum Umsturz: Zine al-Abidine Ben Ali flüchtete mit seiner Familie und 1,5 Tonnen Gold im Gepäck nach Saudi-Arabien. Der gehasste Diktator wurde abgesetzt. Tunesien war das erste Land, in dem sich die Menschen gegen ihre totalitären Herrscher erhoben. Dabei hatte es bemerkenswert lange gedauert, bis es zu dieser Erhebung der Massen gekommen war. Der Erfolg dieser Demonstrationen und die gute Organisation, mit der sie durchgeführt wurden, ist auch der Vernetzung zu verdanken, die heute schon lange auch Nordafrika erreicht hat. Mobiltelefone und nicht zuletzt Online-Communities haben zum Erfolg der Proteste beigetragen. So schwappte die Revolution von Tunesien auf andere Länder über. Erst erreichte sie Ägypten, dann den Jemen, Bahrein, Marokko und Syrien. Jedes der Länder ging anders mit dieser Konfrontation um. In Ägypten kam es nach einigen Wochen der Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo, der seitdem internationale Berühmtheit genießt und zu einem Wahrzeichen des Aufstandes geworden ist, zum Abtritt des Präsidenten Husni Mubarak. In Bahrein wurde der Aufstand nicht zuletzt mit der Hilfe saudi-arabischer Truppen niedergeschlagen, im Jemen und in Syrien halten die Proteste noch an.
Europas Reaktionen auf die beginnende arabische Revolution waren alles andere als erfreulich. In den ersten Momenten war man sich unsicher. Gerade in Deutschland, wo man noch in den Monaten zuvor über Mubarak als einen „Freund des deutschen Volkes“ gesprochen hatte und sich zu Staatsbesuchen mit den Diktatoren herausgeputzt hatte, tat man sich schwer darin, mit den Demonstranten zu sympathisieren. Diese anfängliche Ratlosigkeit wurde jedoch schnell überwunden. Man gestand sich auch hier ein, dass den Menschen in Tunesien, Ägypten und den anderen Ländern sehr wohl ein Recht auf Selbstbestimmung gebührte. Andererseits sah man auch die „islamistische Bedrohung“. Wir stellen unverständlicherweise die Frage, ob da nicht etwas an die Macht kommen könnte, das noch schlimmer ist als Mubarak. Wahrscheinlich wird sich diese Gefahr als nicht ganz so bedrohlich herausstellen wie befürchtet. Doch die sagenumwobenen Muslimbrüder in Ägypten waren das Schlagwort all derer, die der Revolution misstrauisch gegenüber stehen. Es ist bemerkenswert, dass bei all den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz kaum religiöse Symbole verwendet wurden. Es ist auch bekannt, dass die Muslimbrüder ihre Anhänger aufgefordert haben, zu demonstrieren – allerdings nicht im Namen der Muslimbrüder, sondern im Namen des ägyptischen Volkes. Bemerkenswert ist auch die hohe Beteiligung von Frauen an den Protesten, besonders auf der Seite der berüchtigten Muslimbruderschaft. Während wir in Europa versuchen, jeden Schritt zu deuten und einzuordnen, übersehen wir, dass in Ägypten und den anderen Ländern etwas stattfindet, das das gesamte Volk umfasst. Demonstranten aus allen Schichten. Ägypten erfuhr und erfährt noch immer eine Revolution des Volkes.
Europa blieb misstrauisch. Da waren ja noch zwei Punkte, die es zu bedenken galt. Von diesen Punkten wird jedoch nur einer offen angesprochen: Israel. – Was geschieht mit Israel? War die Abschüttelung der ungeliebten Diktatoren etwa eine potenzielle Gefahr für die Existenz des jüdischen Staates? Würden die Friedensverträge zwischen Israel und Ägypten sowie mit Jordanien hinfällig werden? – Israel muss sich auf Veränderungen einstellen. Diese werden nicht so gravierend sein wie erwartet, doch sie sind von Bedeutung. Da wären zum Beispiel die Lieferungen von Erdgas, das bisher zu einem deutlich unter dem internationalen Handelsdurchschnitt liegenden Preis aus Ägypten gekommen war. Im Anschluss an die Revolution gab es einige Anschläge auf die Gaspipeline. Der Gasvertrag zwischen Ägypten und Israel von 2005 wurde immer wieder heftig kritisiert und war im Volk alles andere als beliebt. Es war ein Vertrag zwischen Mubarak und Israel; ein Vertrag, aus dem nichts für das ägyptische Volk ehraussprang. Nun gilt es, die Verträge neu auszuhandeln und für beide Seiten fair zu gestalten. – Doch besteht eine wirkliche unmittelbare Gefahr für Israel? Nein. Es geht nur darum, wie Israel mit den neuen Gegebenheiten umgeht. Es ist zu erwarten, dass sich die Bewegung auch auf die Palästinenser auswirkt. Und das hat es sogar schon: Demonstrationen in Ramallah und Gaza – allerdings mit einer etwas merkwürdigen Forderung: Die Forderung zur Vereinigung von Hamas und Fatah, um einen gemeinsamen Kampf gegen den „Besatzer“ aufzunehmen. Dies sind die Problematiken, mit denen Israel nun umzugehen wissen muss. Die Hamas wird zwar nichts an ihrem Kurs ändern. (Am Mittwoch, dem 11. Mai 2011, ließ Hamas-Führer Mahmud az-Zahar verlauten, dass die Hamas zwar einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 akzeptieren würde, den jüdischen Staat jedoch weiterhin nicht anerkennen wolle. Seine Organisation würde einen Palästinenserstaat "auf jedem Teil Palästinas" anerkennen. Eine formelle Anerkennung Israels würde "das Recht der nächsten Generationen aufheben, das Land zu befreien", sagte Az-Zahar weiter. Ein solcher Schritt würde zudem das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr gefährden. Der Hamas-Führer bestätigte, dass seine Organisation zusammen mit der Fatah-Partei entschieden habe, einen Waffenstillstand Israel gegenüber einzuhalten. Laut As-Sahar sei dies "Teil des Widerstandes und nicht dessen Aufgabe". Er betonte weiter: "Waffenruhe ist kein Frieden".) Der Trend wird jedoch dahin gehen, dass man auch im arabischen Raum bald Verhandlungspartner haben wird, die man nicht zurückweisen kann unter dem Vorwand, sie seien Diktatoren und sollten zuerst einmal mit ihren eigenen inneren Problemen fertig werden, bevor sie Israel kritisierten. In Kürze wird Israel ebenbürtige Verhandlungspartner auf Augenhöhe haben. Die Revolutionen haben die grundlegenden Gegebenheiten über den Haufen geworfen. (Das betrifft übrigens nicht nur Israel; Husni Mubarak war auch ein persönlicher Freund von Mahmud Abbas, dem Palästinenserpräsidenten.)
Wie Israel steht auch Europa vor einer veränderten Situation. Und hier kommen wir zu einem anderen Punkt, einem der zwei Punkte, die ich oben erwähnt habe. Der zweite Punkt neben Israel wird ungern angesprochen und in der Öffentlichkeit diskutiert: das Öl. Es hält uns Europäer am Leben. Unglücklicherweise jedoch kommt es hauptsächlich entweder aus Russland oder aus Nordafrika. Bisher hatten die Ölverträge mit den Diktatoren nur Positives für uns gehabt. Nun müssen wir uns darauf einstellen, dass das Öl um einiges teurer wird. Das Volk wird in Zukunft selbst am Hebel sitzen; die korrupten Regierungschefs, die sich mit Bestechungsgeldern Villen und Zweithäuser überall in der Welt leisten konnten, haben ausgedient. Nun liegt es an uns zu handeln. Wie gehen wir mit der neuen Situation um? Leider haben sich die Dinge nicht sonderlich positiv entwickelt: Die Revolution in Tunesien konnte nicht verhindern, dass verzweifelte Menschen vor der Armut zu entfliehen versuchen. Im Gegenteil: Präsident Ben Ali hatte dafür gesorgt, dass illegale Flüchtlingsschiffe mit Kurs auf Europa schon an der Küste abgefangen worden waren. Nun, nachdem man ihn von der Spitze vertrieben hat, ist es für die Menschen einfacher, die Barriere zu überqueren und als Arbeitsmigranten nach Europa zu flüchten – was uns wiederum vor ungeheuer große Probleme stellt: Was tun mit den Flüchtlingen? Italien hat sich in dieser Situation ganz cool gezeigt und den angekommenen Afrikanern einfach Visa gewährt. Nun haben die Menschen praktisch einen Freifahrtschein für alle Mitgliedsstaaten der EU. Ein ganzer Zug wurde daraufhin an der Grenze zu Frankreich aufgehalten und den Menschen die Einreise verwehrt. In Deutschland denkt man darüber nach, wieder Grenzkontrollen einzuführen. In Dänemark ist das schon geschehen. Das Schengen-Abkommen droht hinfällig zu werden. Wird sich unser Kontinent wieder zur „Festung Europa“ entwickeln? Werden wir als Reaktion auf die Demokratisierung Nordafrikas und der arabischen Welt, die doch einmal den Stamm unserer Kolonien bildeten, in unseren Bergschlössern verbarrikadieren? Ist das etwa alles, was wir den neuen, dynamischen und aufstrebenden Gesellschaften entgegensetzen können, denen wir so lange die Demokratie gepredigt haben, in der Erwartung, dass sie diese nie erreichen würden? Europa hat an der Misere und der Armut in Nordafrika (und Afrika im Allgemeinen) eine große Mitschuld – oder sogar ein großes Interesse. Man war hier der Annahme, die Araber seien unfähig, eine Demokratie zu bilden. Ja, die Araber würden sich nur in einer autoritären Gesellschaft wohlfühlen. Freie Wahlen, Pressefreiheit, Demokratie – unmöglich! Das war unsere Ansicht. Dabei waren wir es, die diese Gesellschaften kleingehalten haben und ihre Beherrscher mit den neuesten Waffensystemen ausgestattet haben und noch immer tun (vgl. Saudi-Arabien). Unser Hauptinteresse lag weder in den Menschenrechten noch in Israel. Unser Hauptinteresse ist und bleibt das Öl.
Israel ist nur ein Vorwand. Wir wollen Stabilität, um Israel zu schützen – ein ethisch durchaus vertretbarer Vorsatz. Doch in Wirklichkeit geht es uns in erster Linie um uns selbst. Seit der Zeit des Imperialismus hat sich in Europa nichts geändert. Immer noch gehen wir als Prediger und Missionare in die Welt hinaus – damals für Christus, heute für die Demokratie. Doch in Wirklichkeit stecken wirtschaftliche Interessen dahinter. Schon in Afghanistan machte man diesen Fehler: Man setzte einen (amerika)treuen Präsidenten ein. Das ist Demokratie. Man schloss Wirtschaftsverträge ab (nach westlichem Muster) und versuchte, den Menschen unsere Werte aufzudrücken. Das ist Demokratie. Man lässt wählen. Aber gut ist nur jenes Ergebnis, das auch für uns gut ist.
Ist das Demokratie?
Vielleicht ist es an der Zeit, dass sich die israelische Jugend mit der Arabischen solidarisiert, und für mehr Demokratie im eigenen Land und im Umgang mit anderen Ländern demonstriert. Man kann sich nicht als demokratisches Land feiern lassen und gleichzeitig gegen Demokratiebewegungen bei den Nachbarländern agieren.
AntwortenLöschenIsrael hat sich mit Kommentaren und öffentlichen Einschätzungen von offizieller Seite sehr zurückgehalten. Das heißt jedoch nicht, dass die israelische Regierung gegen "Demokratiebewegungen bei den Nachbarländern agieren" würde. Man ist nur sehr vorsichtig. Denn die Haltung vor allem der Exilpalästinenser ist sehr feindlich, was der gestrige Tag (Tag der Erinnerung an die Vertreibung der Palästinenser) gezeigt hat: Aufgehetzte Jugendliche haben Grenzübergänge gestürmt, sogar in den Golanhöhen sind sie von Syrien aus auf israelisches Gebiet vorgedrungen. Dementsprechend waren die Reaktionen: Es gab 20 Tote durch israelisches Feuer. Ich bin gespannt, wie diese Tatsache in den Medien gedeutet wird. Wahrscheinlich wird man von friedlichen Demonstranten sprechen, die friedlich einen Grenzzaun durchgeschnitten haben, um dann noch friedlicher Steine auf israelische Soldaten zu werfen.
AntwortenLöschenEs besteht durchaus ein Unterschied zwischen den Palästinensern und den umliegenden Nachbarländern Israels. Die Menschen auf dem Tahrir-Platz in Kairo wollen Demokratie. Auch die Palästinenser wollen das, doch sie stehen noch immer bzw. jetzt erst Recht unter dem Einfluss der Hamas. Und diese hat am Mittwoch betont, dass ein Waffenstillstand mit Israel keine Aufgabe des Widerstandes sei, sondern ein Weg. Und man dürfe Israel auch nicht anerkennen, denn eine formelle Anerkennung Israels würde "das Recht der nächsten Generationen aufheben, das Land zu befreien". Die gestrige versuchte "Erstürmung" Israels war alles andere als ein Beweis für friedliches Demonstrieren. Diese Bewegung ist es, gegen die Israel hauptsächlich agiert, nicht die Demokratisierung Nordafrikas. Nur leider gehen beide Arten von Demonstranten oft Hand in Hand.
ich bin deiner Meinung!
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