Das Jahr 2011 geht in Kürze zu Ende und hinterlässt einen Scherbenhaufen: Im Nahen Osten sind die Revolutionen ins Stocken geraten, in Afghanistan und im Irak steht das US-amerikanische Demokratisierungsprogramm vor dem Aus - und in Europa bröckelt mit der Wirtschaft und dem Euro auch eine Identität.
Die Welt ist im Wandel. Vor allem im Vorderen Orient und in Nordafrika vollziehen sich gerade Veränderungen von ungeahnter Größe und Bedeutung. Das kommende neue Jahr 2012 ist auf für uns der perfekte Zeitpunkt, um über die Zukunft – sollte es für Europa eine geben – nachzudenken.
Das Jahr 2012 wird durch das zehnjährige Jubiläum des Euro markiert. Die Währung der Europäischen Union, wenn man so will: die Seele Europas. Sie wird zehn Jahre alt. Ein junges Leben ist es noch, doch schon jetzt hat uns die erste Krise durchgeschüttelt, die auch die Fundamente erschüttert. Und hierbei geht es nicht nur um eine Währung. Es geht um eine Philosophie, um die Identität einer Wertegemeinschaft. Doch leider kann der Euro in naher Zukunft schon nichts mehr wert sein.
Dieses zu Ende gehende Jahr 2011 bringt Europa in eine Zwickmühle. Wo stehen wir? – Oder besser: Gibt es dieses Wir überhaupt noch? Oder: Hat es dieses Wir jemals gegeben?
Solche Fragen grenzen an politische Blasphemie und sind eines der Tabu-Themen der innereuropäischen Diskussion. Es ist nicht erlaubt, die Europäische Union als einzig seligmachendes politisches Modell anzuzweifeln. Dabei ist man heute zum Zweifeln gezwungen. Gibt es ein Wir? Oder müssen sich die Länder bald entscheiden, wer der EU den Rücken kehren muss, weil es die Finanzen einfach nicht mehr tragen können? Weil es einzelne Staaten nicht mehr fertigbringen können, andere durchzufüttern? Deutlicher wurde die Un-Einigkeit der EU in diesem Jahr bei ganz pragmatischen Fragen wie: Stellen Wir uns auf die Seite der unterdrückten Völker und unterstützen sie in ihrem Kampf gegen die bürokratische, unmenschliche Diktatur? Oder halten wir bis zum Schluss zu jenen einsamen Despoten, die uns die „Stabilität“ der Region garantieren?
Nachdenken
Bald kommt das Weihnachtsfest, ein Ruhepol der Besinnlichkeit in den Köpfen der Menschen - und ein traditioneller Katalysator der Wirtschaft, ein Antrieb für den hemmungslosen Konsum. Doch vielleicht kommt an den diesjährigen Weihnachten der ein oder andere Bürger in einer ruhigen Minute dazu, über dieses und jenes nachzudenken. Und vielleicht wird auch der ein oder andere Gedankengang der EU gewidmet sein, „uns“.
Vielleicht denkt einmal jemand darüber nach, warum die Tomaten früher besser geschmeckt haben. Vielleicht wird er erkennen, dass die EU europaweit Hybrid-Saatgut subventioniert. Nun hat man auch in Rumänien bald pralle, dicke Auberginen. Früher waren die nur klein und verkrumpelt. Was man aber vergisst: Diese kleinen verkümmerten rumänischen Auberginen haben geschmeckt. Das hochgelobte, pralle EU-Gemüse jedoch schmeckt größtenteils nach Wasser. Vor allem die Tomaten, die noch nie Erde gesehen haben sondern nur weißes Styropor.
Vielleicht denkt einmal jemand darüber nach, wie es wohl sein wird, wenn man keinen frischen Fisch mehr bekommen wird. Denn dank unserer Wirtschaftsunion Europa bekommen wir bald nur noch (subventionierten) Fisch aus dem Nordatlantik – in riesigen Netzen gefangen, bis zu 24 Stunden unter Wasser in ebendiesen Netzen gepresst, durch den Druck, den die nachkommenden zehntausende von Fischen auf die unterste Schicht ausüben. Frischer EU-Fisch aus dem Fabrikschiff! Am besten schmeckt er fertig verarbeitet zu Fischstäbchen, für 1.29 € im Supermarkt. Schade, dass dabei ganze Wirtschaftszweige – wie zum Beispiel die Fischerei an der Westküste Frankreichs – dabei zugrunde gehen. Und schade auch um die Qualität.
Qualität wird großgeschrieben. Auch beim Fleisch: Wer gutes Fleisch will, muss teuer bezahlen. So wie es früher war und so wie es im Grunde auch richtig ist. Vielleicht realisiert auch einmal jemand, dass wir irgendwann gar keine Wahl zwischen guter oder schlechter Qualität, zwischen billig und teuer, haben werden! Irgendwann wird man uns die massengeschlachteten, mit regenwaldvernichtenden Sojabohnen fettgefütterten Rump-Steaks vorsetzen und sagen: Hier, iss! Das schmeckt!
Vielleicht realisiert irgendwann jemand, dass wir dank den EU-Regelungen in jeder europäischen Großstadt tonnenweise frisches – oder anders gesagt: gerade einmal einen Tag altes – Brot vernichtet wird! Doch zum Glück verhungern in der Welt nicht täglich 25.000 Menschen. – Oh, Moment mal…
Wir sehen unsere Bundeskanzler, Premierminister und Präsidenten, wie sie sich auf Konferenzen und Versammlungen die Hände schütteln, wie sie sich beglückwünschen zu Beschlüssen, die vorher schon feststanden. Wir gaukeln uns selbst Einheit vor, sind froh, uns heute „Europäer“ nennen zu dürfen und nicht mehr Deutsche, Franzosen oder Slowaken sein zu müssen. Und wir sind jede Sekunde unseres Daseins dankbar für die Werte, die durch das Licht Europa in die Welt hinausgetragen werden.
Moral und Werte
Unsere moralischen und zweifellos guten westlichen Werte sind uns bis jetzt immer heilig gewesen. Doch wir verteidigen sie nicht durch Handeln, sondern indem wir über sie reden. Als die Menschen im Nahen Osten die Demokratie forderten, die wir fortwährend predigen – in der Gewissheit, dass nur der Europäer zu gerechten und ungefälschten Wahlen fähig ist – ließen wir sie zu lange im Stich.
Und ab dem Zeitpunkt, als Deutschland und die anderen in der ägyptischen Frage „Mubarak – ja oder nein?“ zögerten, ist es deutlich und klar: Europa will keine Veränderungen in der Welt. Europa ist nicht besser als alle anderen. Europa hat zu wenig Arsch in der Hose, um seine eigenen Werte zu vertreten. Nein, vielmehr noch: Europa tritt seine eigenen Werte, die es sich seit der Französischen Revolution erkämpft und immer wieder bitter verteidigt hat, mit Füßen!
Wollen wir den Frieden auf der Welt? Wollen wir Gerechtigkeit und Demokratie? Wir wollen es für uns, doch wollen wir es auch für die anderen?
Wir müssen uns eines klar machen:
Unser deutscher Staatshaushalt lebt zu einem überraschend großen Teil von der Waffenindustrie. Jede bewaffnete Auseinandersetzung in Afrika, wo sich Dschungelvölker gegenseitig die Köpfe wegschießen, entlastet unseren ohnehin gepeinigten und überzogenen Staatshaushalt. Jede Diktatur nimmt uns dankbar unsere Panzer und Panzerfäuste ab. Jeder Somalier ist stolz, wenn er ein deutsches Fabrikat in Händen hält.
Was wir uns noch klarmachen müssen:
Gutes Essen ist teuer. Fair gehandelte Produkte sind teuer. Wenn wir natürliche, gelbe Bananen wollen, an denen nicht das Blut eines armen kamerunischen Bauern klebt, dann müssen wir dafür zahlen. Und ein Hartz-IV-Empfänger hat dadurch automatisch weniger Zugang zu Bananen. Oder zu (gesundem und moralisch korrektem) Fleisch.
Was aber das entscheidende ist:
Wenn wir wirklich Demokratien im Nahen Osten – und vor allem in Nordafrika – etablieren wollen, müssen wir damit rechnen, dass Europa für Asylbewerber und Arbeitsmigranten mit verhungernden Familien aus Schwarzafrika erreichbarer wird. Muammar al-Gaddafi hat uns seinerzeit die ungewollten Flüchtlinge vom Leib gehalten. Dass wahrscheinlich tausende Flüchtlinge in Libyen in der Wüste verscharrt wurden, davon wollen wir in unserer heilen Welt, dem moralisch weit überlegenen Europa, natürlich nichts wissen.
Das Paradoxe an der ganzen Sache: Diese Menschen waren gezwungen, nach Europa zu kommen. Warum? Weil unser tolles EU-subventioniertes Hybridgemüse den afrikanischen Markt überschwemmt, weil in Kamerun jedes fette europäische Suppenhuhn billiger ist als sein magerer, afrikanischer Bouillonkamerad und weil wir Europäer im Hafen von Lagos unsere Chemieabfälle endlagern!
Wir denken allen Ernstes, wir hätten mit steigenden Ölpreisen oder geplanten süddeutschen Durchgangsbahnhöfen ein Problem? WIR sind das Problem!
Für einen großen Teil der weltweiten humanitären Katastrophen sind wir – die westliche Welt – selbst verantwortlich. Oder zumindest liegt es doch in unserem Interesse, dass alles beim Alten bleibt – bewusst oder unbewusst.
Der Imperialismus ist vorbei, denkt man. Und wenn es ihn noch gibt, dann nur vonseiten der Amerikaner, die munter ihre Kriege in der Welt führen. – … ?
Nein, Freunde, der Imperialismus ist noch lange nicht vorbei! Es hat sich nichts geändert: Europa macht sich noch immer alle anderen Regionen Untertan! – mit Ausnahme der Chinesen.
Die Moral, die Werte, alles wofür Europa steht, ist eine Farce. Greifbar bleibt nur das Materielle, das Geld, der Wohlstand. Und all das wird von den Banken verspekuliert und im Klo runtergespült. Gibt es etwas, das am Ende bleiben wird? Oder ist der Traum von EINEM Europa schon lange gescheitert, gar Geschichte?
Aus dieser Misere gibt es nur zwei mögliche Lösungswege, die wir im kommenden Jahr 2012 anpeilen können:
Die erste Lösung:
Wir kehren uns um. Wir erwachen aus der Trance des Gutmenschentums, das sich auf Unterschriftensammlungen und Lichterketten und gewissensberuhigende Geldspenden zu Weihnachten stützt, und ergreifen die Initiative. Wir müssen uns dazu bereit machen, unsere eigenen Systeme zu hinterfragen – und unter den gegebenen Umständen auch mehr für unsere Bananen zu bezahlen.
Die zweite Lösung ist die einfachere:
Wir belassen alles beim Alten.
Wir fressen und konsumieren weiter bis der Arzt kommt – der uns mittellose Kassenpatienten jedoch irgendwann nicht mehr behandeln will –; wir verticken unsere Waffen und Tellerminen an die verbliebenen Diktatoren der Welt, um die letzten Reste des Staatshaushaltes gesichert zu wissen (denn wenn etwas sicher ist, dann die Existenz der immerwährenden menschlichen Eigenart des gegenseitigen Abschlachtens); wir schotten uns ab und lassen nur noch Fachkräfte nach Europa. Menschen, die etwas wert sind. Die Geld einbringen. Menschen, die arbeiten, den Mund halten, und dann wieder gehen.
Wir leben weiter wie bisher.
Nur dann gilt ein Grundsatz: Wir müssen KONSEQUENT sein.
Wir müssen zu unserer Realität stehen! Wir müssen dazu stehen, dass WIR die besseren Menschen sind – oder uns zumindest so sehen! Wir müssen offen zugeben: Lieber er als ich!
Wir müssen das wirtschaftsinteressengesteuerte Getue von Demokratie und Menschenrechten begraben und dazu stehen, was wir sind: Die wahren Inhaber der Kaffeeplantagen in Äthiopien oder der Milizen im Kongo.
Wenn uns dieser Gedanke jedoch mit Scham erfüllt und sich unser gottgegebenes Gewissen meldet, sollten wir vielleicht doch die erste, unangenehmere Variante vorziehen.
Vielleicht findet der ein oder andere in der bevorstehenden Adventszeit einige ruhige Minuten, um über das alles nachzudenken. Der Kalender bietet uns jedes Jahr an Neujahr die Chance, alles oder nichts zu ändern. Gute Vorsätze zu machen, die man am ersten Tag wieder bricht. Doch ein neues Jahr ist nur symbolisch: Um wirklich etwas zu ändern, darf man keinen Zeitpunkt abwarten. Man muss sofort beginnen.