Montag, 3. Juni 2013

Mehr als ein Zwicken für Erdoğan (M. Perseke)

Ein Gastbeitrag von Max Perseke, Istanbul

Seit fast einer Woche erlebt der Ministerpräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, die schwersten Proteste seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren. Hunderttausende demonstrierten am Wochenende, die Aufstände weiteten sich auf weite Teile der Türkei aus.

Der türkische Innenminister Muammer Güler erklärte am Sonntag, dass seit dem 28. Mai auf 235 Demonstrationen in 67 der 81 türkischen Provinzen 730 Demonstranten festgenommen wurden. Die Demonstrationen zur Erhaltung des Gezi-Parks, der letzten großflächigen Grünfläche im Zentrum Istanbuls, haben sich zu Protesten gegen Erdoğan und seine Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) entwickelt. Rund um Taksim und den Gezi-Park singen am Samstag Zehntausende lautstark "Hükümet! Istifa!" sowie "Tayyip! Istifa!" und fordern den Rücktritt („Istifa“) der Regierung („Hükümet“) sowie Erdoğans eigenen Rücktritt. Im Namen der AKP steht „Adalet“ für Recht und „Kalkınma“ für Aufschwung. Im Zentrum des Gezi Parks ist am Samstag ein Plakat angebracht – deutlich über den Köpfen der Demonstranten, für jeden einsehbar – mit der Aufschrift „Adalet 1938de öldü!“ („Das Recht ist im Jahre 1938 gestorben!“) – Mustafa Kemal Atatürk starb 1938...

Auf dem Taksim-Platz und im angrenzenden Gezi-Park versammelten sich am Samstag 
zehntausende Menschen, um gegen die AKP-Regierung zu demonstrieren. 
(Foto: Max Perseke)
Um Atatürk, den ersten Präsidenten der 1923 gegründeten Türkischen Republik, wird bis heute ein beispielloser Personenkult in der Türkei betrieben. Der „Vater der Türken“ war ein angebeteter Kriegsheld und hat auch mit westlichen Ideen zum Fortschritt seines Landes beigetragen, die Türkei als laizistischen Staat etabliert. Zudem liebte Atatürk den Anisschnaps Rakı, der als Nationalgetränk der Türken gilt. Recep Tayyip Erdoğan hingegen hat kürzlich das Joghurtgetränk Ayran zum Nationalgetränk der Türken erkoren und dadurch ein großes – und durchaus amüsiertes – mediales Echo bei vielen seiner Landsleute hervorgerufen. Hinter Erdoğans Liebe zu Ayran steckt jedoch politischer Ernst. Der Zugang zu Alkohol wird in der Türkei seit einigen Jahren stetig erschwert. Erdoğan gilt als Neo-Osmanist, der eine konservativere Gesellschaft formen möchte. Im internationalen Vergleich der Pressefreiheit stürzt die Türkei ab, Regelungen zur Abtreibung werden verschärft.

Viele der Demonstranten berufen sich auf Mustafa Kemal Atatürk, 
den „Vater der Türken“ und Begründer des Kemalismus.
(Foto: Max Perseke)
An den Demonstrationen für den Erhalt des Gezi-Parks, der einem modernen Shopping-Center weichen soll, nahmen von Beginn an Anhänger der verschiedensten politischen Gruppierungen teil. Es sind nicht nur reine Kemalisten, die der AKP eine neo-liberalistische Politik samt Vetternwirtschaft vorwerfen, sondern z.B. auch muslimische Organisationen. Seit den frühen Morgenstunden am Freitag setzt die Polizei Tränengas und Pfefferspray gegen die Demonstranten ein. In den sozialen Medien haben besonders Videos, die den gezielten Abschuss von Tränengaspatronen auf Demonstranten zeigen oder Polizeipanzer, die über Demonstranten hinwegrollen, für Empörung gesorgt. Erdoğan selbst spricht von der Verbreitung falscher Informationen, bestätigt aber, dass der Einsatz von Pfefferspray und Tränengas durch die Polizei untersucht werden müsse.

Mit Hilfe von Smartphones werden Videos von Demonstrationen innerhalb kürzester 
Zeit in die Sozialen Medien eingespeist und geteilt. In deutschen Städten, in Wien, 
selbst in den USA hat sich somit schon eine große Unterstützerbewegung für die 
Demonstranten in Istanbul und der Türkei gebildet. (Foto: Max Perseke)

Max Perseke lebt seit 2012 im Istanbuler Stadtteil Fatih und studiert an der Istanbul Üniversitesi. Er schreibt für die Saale Zeitung (Bad Kissingen).

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