Donnerstag, 19. Mai 2011

Backliteratur

Ich befand mich auf dem Nachhauseweg von der Universität, als mich nach einem relativ stressigen Dienstag ein lange angestautes Hungergefühl übermannte. Ich nötigte mich selbst, in der Filiale einer der vielen großen Supermarkt-Ketten ein traditionell schwäbisches Laugengebäck käuflich zu erwerben. Für 60 Cent, rötlichbraun im Ofen gebacken, in knisterndes Bäckerpapier eingewickelt... Meine Geschmacksnerven erwarteten schon eine kulinarisches Feuerwerk an simpler, aber doch den Heißhunger befriedigender Backkunst.
Ich möchte gar nicht lange um den heißen Brei herumreden, sondern gleich zur zentralen Frage kommen: Ist es vielleicht noch anderen Leuten aufgefallen, dass unsere gesamten Nahrungsmittel in den letzten Jahren immer schlechter schmecken?
Ich weiß nicht mehr genau, was ich mir da gekauft hatte. Es war entweder eine Brezel oder ein Laugenbrötchen (schwäbisch Laugawägglä). Sicher ist nur, dass sich die 60 Cent nicht gelohnt haben. Und diese Tatsache machte mich nachdenklich. Ich erinnerte mich an den Bäcker in meinem Heimatort, der mittlerweile im Ruhestand ist und nur noch freitags und samstags frische Brezeln und Brötchen backt. Meine ganze Kindheit war geprägt von handgeformten, vom Bäckermeister selbst gekneteten Kunstwerken. Die meisten dieser Schöpfungen erhielten zwar neben dem Urlaubsaufenthalt im Backofen neben der rotbraunen Farbe auch eine äußerst wunderliche Form, aber dennoch überbrachte mir jede einzelne Brezel eine deutliche Nachricht: "Iss mich und sonst keine!" - Im Laufe meiner Kindheit und meiner späteren Jahre wurde mir der Wert eines naturgetreuen Bäckers am Ort bewusst. Spätestens als ein Schulkamerad aus einem weiter entfernten Nachbardorf behauptete, dass unser örtlicher Bäcker doch sicherlich auch eine Brezelmaschine besäße. Anders könne es gar nicht sein, denn jeder Bäcker hätte mittlerweile so ein Ding. - Ich war geschockt. Konnte so etwas sein? Brezeln aus der Maschine, in die der "Bäcker" nur die Teigmasse einzufüllen braucht? Unvorstellbar...
Die durchschnittliche moderne Brezel in Südwestdeutschland kann sich nicht mehr messen mit dem Geschmack und der Klasse, die noch von ihren "Großvätern" in ihrer der Acht nachempfundenen Form verkörpert wurde. Wer kennt es nicht? Man kauft sich eines dieser Gebäcke - beim Bäcker im Supermarkt oder dem Discount-Laden, der sich unverschämter Weise auch Bäcker nennen darf - und beißt genüsslich hinein. Im nächsten Moment schnappt man nach Luft, reißt die Augen auf - und erstickt fast am Staub und den Krümeln, die dieses aggressive rötliche Ding namens Laugenbrezel absondert. Während man noch am Würgen ist, erholen sich die Geschmacksnerven und reagieren ihrerseits. Sie tasten, sie suchen - und finden nichts. Geschmack, Aroma, säuerlich-salzige Würze - alles weg. Geschichte. Das war einmal.
Hat noch niemand die Veränderungen der heutigen Zeit bemerkt? Oder schmecken ihnen gar die Brezeln, wie sie heute sind? Schade. Wirklich schade...

Und nicht nur die Backwaren sind betroffen. Auch das Gemüse: Wer traut denn noch den knallroten Tomaten im Januar? Legt man eine solche Tomate in die Ecke und untersucht sie nach zwei Wochen auf Herz und Nieren - man wird keinen Kratzer finden. Die heutige Tomate ist gewappnet gegen Insekten, Bakterien, Leben. Aus spanischen Gewächshäusern, vollgepumt mit Penicillin, schreien diese Tomaten förmlich danach, als pseudo-frisches Accessoire für eine gute Tomatensauce zerschnitten und gekocht zu werden. Doch auch hier gibt es einen Haken: Neben dem faden Geschmack weist diese Frucht - die Tomate zählt nach wissenschaftlicher Ansicht zum Obst! - auch eine äußerst harte Schale auf. Von einem herkömmlichen Messer kaum zu bewältigen, verdirbt die moderne Tomate jedem Kenner den Spaß und den Appetit...

Soll ich noch mit den Bananen anfangen? Lieber nicht. Aber es ist schon bemerkenswert, dass sich viele Mitmenschen mittleren Alters - vorzugsweise aus Westdeutschland - noch daran erinnern, wie gut Bananen einst geschmeckt haben müssen. Ich kann mich an diese Zeiten nur noch instinktiv zurückerinnern. Doch auch ich merke, dass die meisten Bananen, die man heute zu kaufen sind, entweder noch komplett grün sind oder einen unangenehm bitteren Geschmack beherbergen. War das früher anders? "Früher war alles besser"? Ja, in diesem Fall ist das wahrscheinlich.

Um den Bogen zu einem gesellschaftspolitischen Fazit zu schlagen: Warum protestiert niemand gegen den qualitativen und geschmacklichen Verfall unserer Gesellschaft? Warum schlagen sich alle Bürger mit eher halbwichtigen Nebensächlichkeiten herum, während man Tag für Tag schmecken kann, dass alles bitterer, fader oder künstlicher wird? Ich erwarte keine spontanen Demonstrationen ("Rettet das Laugenwägglä!"), aber vielleicht macht sich der ein oder andere seine Gedanken...

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