In englischsprachigen Ländern besitzt jeder Bürger
eine sogenannte Identity Card (ID). Dieser Name klingt, verglichen mit der
Bezeichnung für das deutsche Pendant, dem Personalausweis, recht
nutzerfreundlich. Menschen gehören ja nicht etwa zum Personal eines Staates.
Andererseits, was drückt der Begriff Identity Card eigentlich aus? Diese
Karte dient nicht allein der Identifizierung einer Person, denn dann müsste sie
strenggenommen Identification Card heißen. So bezieht sie sich aber auf
die Identität des Trägers selbst, was eine neue Frage aufwirft:
Kann die Identität eines Menschen auf eine einzige
Plastikkarte oder einen Fetzen Papier gepresst werden?
Und damit sind wir schon mitten im Thema. Was ist
Identität? Heute wird diese Frage oft angeschnitten und neben der
Integrationsdebatte beiläufig mitdiskutiert. Was bedeutet sich mit etwas identifizieren
oder mit etwas identifiziert werden? Es wird der Anschein erweckt, als
gäbe es eine vorgegebene Definition für den Identitätsbegriff, die allen
geläufig wäre. Dabei gibt es hierfür eine Vielzahl von Definitionen und
Erklärungsansätzen. Zum einen werden wir einer bestimmten Gruppe zugeordnet, an
deren Zugehörigkeit wir in den seltensten Fällen etwas ändern können, da sie
vererbt ist. Die Merkmale, die diese äußerlichen und (scheinbar)
unveränderbaren Unterscheidung bringen, sind – aus wissenschaftlicher Sicht – sogenannte
„primordiale Codes“: Geschlecht, Generation, Verwandtschaft oder Herkunft.[1]
Einige dieser unveränderlichen Fakten werden nun durch eine Identity Card
und auch durch einen Personalausweis festgehalten. Ist die betreffende Person
männlich oder weiblich? Zu welcher Gemeinschaft gehört sie, d.h. welche
Staatsangehörigkeit trägt sie? Es sind die ganz groben Merkmale einer Identität
eines Menschen, die auf diesem offiziellen und amtlichen Dokument festgehalten
werden. An diesem Beispiel wird als schon deutlich, was das Problem beim Thema
Identität ist:
Der Identitätsbegriff ist viel weiter
und vielschichtiger, als dass er auf einigen Quadratzentimetern vollständig,
umfassend und exakt beschrieben werden könnte.
Die Identität eines jeden Menschen ist ebenso
einzigartig wie vielseitig. Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, jedes
Individuum vereine eine Vielzahl – oder gar eine Unmenge – an Identitäten in
sich. Zusätzlich zu seinen zwangsläufigen, von der Natur vorgegebenen
Identitätsveranlagungen vereint er noch weitere Identitäten in sich. Zur
Verdeutlichung kann man sich ein beliebiges Beispiel vor Augen führen:
Angenommen,
Franziskus Schymanietz wäre mein Nachbar. Wir könnten beide in der gleichen
Straße in einer Kleinstadt bei Bochum wohnen. Mein Nachbar arbeitet als
Angestellter der Stadtwerke, führt morgens vor dem Dienst und dann abermals am
Abend seinen Hund spazieren. Ich treffe ihn regelmäßig, wenn ich meine Zeitung
vom Briefkasten hole. „Morgen Herr Nachbar, kommst Du heute Abend zum Grillen
rüber? Wir wollen das Spiel anschauen.“ – „Ja, super. Da muss mir die Hilde
aber erst noch was vom Metzger mitbringen.“
Wir kennen diesen fiktiven Nachbarn jetzt nur
flüchtig. Was könnte man dennoch zur Identität dieses Mannes mutmaßen? Wollen
wir den Herrn Nachbar doch einmal auseinandernehmen…
1) Herr Schymanietz ist männlich.
2) Er hat (vermutlich) die deutsche
Staatsbürgerschaft.
2) Seine Vorfahren stammten aus Polen, wie sein
Nachname verrät. Sie kamen höchstwahrscheinlich als Bergarbeiter aus dem Osten
ins Ruhrgebiet. Da Herr Schymanietz bei den Stadtwerken arbeitet und nicht im
Bergbau, ist er sich seines Erbes vielleicht nicht mehr so bewusst, dennoch
bleibt es möglicherweise Teil seiner Identität.
3) Er ist katholisch wie seine Eltern, die ihm den
Namen Franziskus gegeben haben, und gehört somit der größten der Weltreligionen
an.
4) Er ist Hundebesitzer und identifiziert sich möglicherweise
mit anderen Hundebesitzern.
5) Er isst gerne Fleisch und grenzt sich regelmäßig
ab von Vegetariern wie etwa seinem Schwager Erhard.
6) Er ist leidenschaftlicher Fan des VfL Bochum und
schaut jedes Spiel im Fernsehen, wenn er selbst nicht ins Stadion gehen kann.
Dieses Beispiel verdeutlicht uns die
Vielschichtigkeit von Identität und Persönlichkeit. Vieles
erfüllt hier seinen Teil als Baustein einer persönlichen Identität. Mit was
identifizieren wir uns? Nicht nur dem Staat, in dem wir leben, ordnen wir uns
zu. Nicht einmal die Religion kann einen universellen Anspruch auf
Identitätsbildung für sich verbuchen, obwohl sie natürlich einer der größerer Bausteine
sein kann. Doch als beinahe gleichrangig könnte man hier in vielen Fällen auch
die Zugehörigkeit zu einer Sportmannschaft werten. Teil einer Fangruppe zu
sein, regelmäßig ins Stadion zu gehen und Gesänge mitzusingen kann sehr
identitätsstiftend wirken.
In den Integrationsdebatten der
Vergangenheit – und auch in denen der Zukunft – kreist alles um die Frage des
Dazugehörens. Wollen bestimmte Menschen dazugehören? Wollen wir,
dass sie dazugehören? Gehören sie vielleicht schon längst dazu?
In einer pluralistischen, offenen Gesellschaft gibt
es viele verschiedene Identitäten – und keine die wenigsten von ihnen müssen
sich zwangsläufig gegenseitig ausschließen. Ein Mensch kann sich zu 100 Prozent
als Deutscher fühlen und gleichzeitig zu 100 Prozent Franzose sein. Das
Identitätsbewusstsein ist oft sehr subjektiv. Wir können Europäer sein und
gleichzeitig eine Staatsbürgerschaft besitzen. Natürlich ist ein Christ kein
Muslim und ein Buddhist kein Jude, genauso wie ein Fan von 1860 München kein
Anhänger des FC Bayern sein kann. Doch beide Fußballfans mögen
höchstwahrscheinlich Weißwurst. Oder es verbindet sie die Liebe zu ihrer
gemeinsamen Heimatstadt München. So können Christen, Muslime, Juden, Atheisten
und Angehörige jeder anderen Religionsgemeinschaft theoretisch zusammenleben
und das gleiche Heimatgefühl ihres Wohnortes gegenüber spüren. Dabei sollte es
ihnen allen gestattet sein, ihre jeweiligen (religiösen) Identitäten nicht
verstecken zu müssen.
Unsere Gesellschaft sollte bereit sein, der
persönlichen Identitätsbildung Raum zu bieten. Unsere Identitäten müssen so
frei sein wie es uns die Verfassung erlaubt. Die Entfaltung der eigenen
Persönlichkeit im Rahmen einer Gruppe ist ein wichtiger Teil der Gesellschaft,
das Problem ist allein die Tatsache, dass man bestimmte Gruppen mit bestimmten
Klischees abstempelt und sie in Schubladen steckt. Deshalb muss über Vorurteile
aufgeklärt werden. Meiner Meinung nach sind z.B. auch anonymisierte
Bewerbungen, die von politischer Ebene zum Abbau von Diskriminierung in der
Arbeitswelt angestrebt werden, nicht der richtige Weg, um Benachteiligungen
vorzubeugen. Vielmehr sollte man die Schaffung eines toleranteren Bewusstseins
in den Köpfen fördern und unterstützen, denn Wandel fängt im Kopf an. Diskriminierung von Homosexuellen oder
kopftuchtragenden Musliminnen ließe sich mit vergleichbaren Maßnahmen zwar in
konkreten Fällen verhindern, an der Ursache würden diese Regulierungen jedoch
nur wenig ändern. Unsere Gesellschaft muss sich öffnen für Andersartigkeiten.
Im 21. Jahrhundert lässt sich so etwas mit Recht verlangen. Vielleicht muss man
sich nur darüber klarwerden, dass die eigene Identität in vielen ihrer Aspekte
mit den Identitäten der „Anderen“ übereinstimmt. Es fänden sich mit Sicherheit genügend
Schnittstellen, die es ermöglichen
würden, Schranken innerhalb unserer Gesellschaft abzubauen, den Anderen zu
tolerieren und schlussendlich zu akzeptieren. Doch das ist ein notwendiger Prozess,
der noch eher am Anfang steht als kurz vor der Vollendung.
[1] W.
Gephart: Zur Bedeutung der Religionen für die Identitätsbildung, in: W.
Gephart/H. Waldenfels (Hrsg.): Religion und Identität – Im Horizont des
Pluralismus (Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, S. 237)
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