Die palästinensisch-arabischen Notablenfamilien waren bis zur Mitte
des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Element im Gefüge der palästinensischen
Gesellschaft. In Jerusalem waren vor allem vier dieser Familien von großer
Bedeutung. Hier werde sie in einem kurzen Überblick vorgestellt.
Naschaschibi
Der Name bedeutet so viel wie „Pfeilmacher“. Der Urahn dieser
Familie, Nasr ad-Din an-Naschschibi, kam im Jahre 1469 als Stammesfürst
und Armeeführer unter den Mamluken aus Ägypten nach Jerusalem. Ihm wurde die
Aufsicht über die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und die Höhle der Patriarchen
(Abrahamsmoschee) in Hebron übertragen.
Die Naschaschibis etablierten sich zu einer der wichtigsten
Jerusalemer Familien. Viele ihrer Mitglieder hatten wichtige Positionen in den
lokalen Regierungen unter den Mamluken, den Osmanen, zur Zeit des britischen
Mandats und auch unter jordanischer Herrschaft inne. Sie waren auch bedeutend
als Grundbesitzer, Händler und Beamte. Ein prominenter Familienältester, Raschid
an-Naschaschibi, war einer der zwei Repräsentanten Jerusalems im
osmanischen Parlament (Madschlis). Ein weiterer Vertreter der Familie
war der als Bürgermeister fungierende pro-britische Raghib an-Naschaschibi
(1881-1951).
Husseini
Die Familie al-Husseini führt sich traditionell zurück auf den Sohn
Alis, Hussein ibn Ali. Die ersten Mitglieder des Clans kamen im 12.
Jahrhundert mit Sultan Saladin ins Heilige Land. Im Gegensatz zum größten Teil
der Bevölkerung Palästinas gehörten die Husseinis der hanafitischen und nicht
der schafiitischen Rechtsschule an. Die Familie war vor allem in der
Jerusalemer Altstadt, aber auch in Scheich Jarra oder Katamon vertreten.
Im Laufe der Geschichte kämpften die Husseinis gegen verschiedene
Herrscher, darunter Muhammad Ali, die Jungtürken und später die Briten. Die
Husseinis vertraten in großem Maße die nationalistischen Strömungen unter den
eingesessenen Familien Jerusalems.
Bekannt wurde vor allem der Großmufti von Jerusalem, Muhammad
Amin al-Husseini (1897-1974), der im Arabischen Aufstand gegen die Briten,
die Zionisten und auch gegen die rivalisierende Familie der Naschaschibis
kämpfte. Er war berüchtigt für seine Kontakte zu den deutschen
Nationalsozialisten: Seit 1941 lebte er in Berlin. Husseini wusste nachweislich
vom Holocaust und unterstützte ihn.
Nusseibeh
Die an-Nusseibehs sind die älteste der Jerusalemer
Notablenfamilien. Sie führen sich auf eine Gefährtin des Propheten Muhammad mit
Namen Nusseiba zurück und sind ein Unterclan des Khazraj-Stammes aus
Medina. Die Familie kam mit den islamischen Eroberungen ins Heilige Land und ist
seit dem Jahre 637 in Jerusalem ansässig.
Bekannt ist die Familie vor allem für die Zuständigkeit über die
Grabeskirche in Jersusalem:
Seit der Eroberung der Stadt durch Sultan Saladin im Jahre 1192 besitzen
die Nusseibehs die Schlüssel zu diesem christlichen Heiligtum. Da unter den
christlichen Konfessionen immer Uneinigkeit herrschte, was die
Zuständigkeitsbereiche innerhalb der Kirche anging, gab der Herrscher die
Verantwortung an eine muslimische Familie ab. Später wurde unter den Osmanen
ein anderer Schlüssel an eine weitere wichtige Jerusalemer Familie, al-Ghudayya
(heute Joudeh), übergeben. Seither teilen sich beide Familien die
Verantwortung.
Khalidi
Es gibt verschiedene Angaben über die Herkunft der Familie al-Khalidi.
Einigen Quellen zufolge taucht sie erst im 11. Jahrhundert in Jerusalem auf.
Die Familie selbst führt sich auf Khalid ibn al-Walid zurück, einen
wichtigen General bei der muslimischen Eroberung Jerusalems im siebten
Jahrhundert.
Die Familie ist bedeutend aufgrund ihrer langen Linie von Richtern
und Gelehrten. Bekannte Persönlichkeiten aus neuerer Zeit waren u.a. Hussein
al-Khalidi (1895-1966), der einige Jahre Bürgermeister von Jerusalem war,
oder dessen Neffe Rashid Ismail Khalidi (geb. 1948), einem
US-amerikanischen Historiker.
Die Rivalität zwischen den Husseinis und den Naschaschibis
Mit Beginn der britischen Mandatszeit begann sich der Konflikt
zwischen der arabischen Bevölkerung und den zionistischen Neueinwanderern zu
verschärfen. Die Palästinenser spalteten sich in unterschiedliche Lager. Vor
allem zwei Familien taten sich als politische Führer in dieser Zeit hervor: die
Husseinis und die Naschaschibis. – Während die Husseinis die nationalistische
Position vertraten, kamen die Naschaschibis den Briten in vielen Punkten entgegen.
Zwischen beiden Familien entstand eine ausgeprägte Feindschaft.
Im Arabischen Aufstand 1936/39 entluden sich schließlich nicht nur
die Spannungen zwischen den einwandernden Juden, der britischen Mandatsmacht
und der palästinensischen Seite. Auch die innerpalästinensischen Spannungen
feuerten den Konflikt an. Der ehemalige Jerusalemer Bürgermeister Raghib
an-Naschaschibi stellte sich auf die Seite der Briten und unterstützte die
Kolonialmacht mit kleinen, paramilitärischen Truppen. Die Naschaschibis waren
für ihren moderaten, probritischen Kurs bekannt. Sie vertraten die Ansicht, dass
die Palästinenser ihre politischen Ziele besser durch Kooperation mit den
Briten umsetzen könnten als durch Kampf. Während des Aufstandes verloren sie
jedoch stark an Zuspruch unter den Palästinensern. Muhammad Amin al-Husseini,
der Großmufti von Jerusalem, setzte auf die militärische Lösung und trieb den Kampf
voran. Zwischen den Naschaschibis und den Husseinis entstand nun ein blutiger
Konkurrenzkampf.
Die Notablenfamilien heute
Nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948/49 änderten sich
die Verhältnisse im Land grundlegend. Die Strukturen der traditionellen
palästinensischen Gesellschaft wurden durch Flucht und Vertreibung aufgelöst.
Auch die Notablenfamilien büßten an Einfluss und Grundbesitz ein. Viele ihrer Mitglieder
flüchteten ins Ausland.
Dennoch spielen viele der Familien bis heute noch eine Rolle in der
politischen und gesellschaftlichen Landschaft der Palästinenser. Beispielsweise
ist der heutige Gouverneur des Gouvernements Jerusalem, einer palästinensischen
Verwaltungseinheit, Adnan al-Husseini (geb. 1947). Er ist außerdem
zuständig für die Verwaltung des Felsendoms und der Al-Aqsa-Moschee.
Ein wichtiger Vertreter der Familie an-Nusseibeh ist Sari
Nusseibeh (geb. 1949), Professor der Philosophie und Präsident der Al-Quds
University. Er ist vor allem bekannt für seine gemäßigte Haltung und seine
Unterstützung für einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern. Schon
1987 half er, die geheimen Friedensgespräche zwischen der Fatah und der
israelischen Regierung zu organisieren.
Der Schlüssel zur Grabeskirche befindet sich weiterhin in der
Verantwortlichkeit der Familie an-Nusseibeh.
(Dieser Artikel ist auch auf der Seite von Rock of Peace veröffentlicht!)
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