In den letzten zwei Wochen war ich mit drei Studienkolleginnen und -kollegen im Nahen Osten unterwegs. Unsere erste Station war Kairo. Die Hauptstadt Ägyptens ist mit 20 Millionen Einwohnern zugleich größte Stadt Afrikas und zur Zeit immer noch Schauplatz einer der dramatischsten Umwälzungen der Region. Die Revolution auf dem Tahrir-Platz hat in den vergangenen Monaten viele Sendeminuten der Fernsehstationen gefüllt. Jetzt rückt (neben der Angelegenheit Israel-Palästina) vor allem Syrien in den Mittelpunkt des Interesses. Doch die Revolution in Ägypten ist noch in vollem Gange. Wir hatten hier vor Ort einige Tage lang die Möglichkeit, die Geschehnisse zu verfolgen.
Um die veschiedenen Positionen der Demonstranten unterscheiden zu können, braucht es einig Informationen vorweg, denn die Revolution ist in unterschiedliche Lager unterteilt. Von einer Spaltung zu reden ist zu ungenau, denn im Grunde sind sich die treibenden Parteien einer Meinung: Das Land braucht Veränderung.
Die größenmäßig am bedeutendste Gruppe sind die Liberalen. Sie fordern ein demokratisches und weitestgehend säkularisiertes Ägypten. Neben diesem Lager gibt es noch die Zweifler, die zwar die Revolution befürworten, jedoch sehr zögerlich vorgehen und sich oft in die Stabilität unter Mubarak zurücksehnen. Denn Tatsache ist auch: Im Land herrscht Anarchie. (Deutlich wird das vor allem an den handgemalten Mofa-Nummernschildern.) Diese Anarchie wollen auch die Muslimbrüder bekämpfen. Sie stellen den konservativen Flügel der Revolution dar und fordern einen muslimischen Staat. In der Vergangenheit haben sich die Muslimbrüder gewandelt und sind in der Realität schon lange nicht mehr das Schreckgespenst des Westens. Doch sie sind das eine Extrem der Revolution; das andere Extrem wird durch die Linken vertreten, die für eine vollkommene Säkularisierung des Landes stehen.
Wir haben den Freitagsdemonstrationen beigewohnt, die jede Woche nach dem Freitagsgebet stattfinden. Während der Kreisverkehr auf dem Tahrir-Platz unter der Woche von schnauzbärtigen, sehr jungen Polizisten belagert wird, ist freitags keine Polizei zu sehen. Anlass der heutigen Demonstrationen sind die ständigen Aufschiebungen der Wahlen durch die Armee, die zurzeit das Sagen im Land hat. Die Ägypter wollen weg vom vorübergehenden Militärregime zu einer parlamentarischen Demokratie. In diesen Tagen sieht es jedoch noch nicht sehr gut aus. Es wird eine große Herausforderung sein, die Politik von der Straße in die Parlamente zu bringen.
Die Demonstranten versammeln sich. Es gibt irgendwo eine Bühne; verschiedene Redner treten auf. Von allen Seiten strömen die Demonstrationszüge zum Tahrir-Platz. Die Stimmung ist sehr positiv und ausgelassen. Erstaunlich viele Familien sind unterwegs. Man kommt mit Leuten ins Gespräch, hört sich Meinungen an, wird selbst ausgefragt. Vereinzelt kann man sich die ägyptische Fahne auf den Arm malen lassen, wovon wir (aus Gründen der journalistischen Neutralität) absehen.
Eine wirklich interessante Gruppe bilden die 'Ultras' der zwei größten Fußballvereine. Ihrer Fangesänge passen sich wunderbar in die Revolutionsstimmung ein, verbreiten aber eine gewisse Unruhe. Man sieht den langjährigen Fußballnationaltorhüter Ägyptens inmitten der Menge. Angeblich warnen einige Fußballspieler verhaftet worden, weshalb sich die 'Ultras' in die Demonstrationen eingeschaltet hatten.
Wir essen ein Koshary (Nudeln, Linsen und Tomatensauce) und machen Pause. Gegen Abend geht es dann wieder in Richtung Tahrir-Platz, wo die Stimmung immer noch nicht an Dynamik verloren hat. Für uns als 'westliche Beobachter' gab es dann auch die erste Schrecksekunde: Auf einmal rennen alle Leute los. Man bildet sich in einer solchen Situation automatisch ein, Gewehrschüsse zu hören. Dem war jedoch nicht so. Einige Kinder waren umhergerannt und hatten die (auch nur sehr kurze) Panik ausgelöst. Es wird aber deutlich: Die Nerven liegen hier noch immer blank. Bis vor einigen Monaten sind an dieser Stelle Menschen gestorben.
Man trifft die verschiedensten Menschen. Mustafa und ein anderer Ägypter aus Alexandria kaufen uns gegen den Schrecken eine Pepsi. Ich unterhalte mich mit einem Blogger aus dem Norden, dessen Seite auf Facebook angeblich 60.000 Leser hat. Später begegnen uns noch zwei Geschwister aus Dubai. Das Mädchen ist gerade zwölf Jahre alt, hat aber schon das Talent für eine eigene Show. Sie filmt uns mit ihrer Kamera und stellt interessante Fragen.
Eine weitere Wendung nimmt der Abend, als wir schon lange auf der Dachterasse eines Hotels in Downtown sitzen und unser ägyptisches Stella-Bier genießen. Im Fernsehen sieht man, wie die israelische Botschaft in Flammen aufgeht. Die Hintergründe hierzu sind nicht ganz so eindeutig. In westlichen Medien wird berichtet, dass sich der Frust über den Tod von sechs ägyptischen Soldaten an der Grenze zu Israel nun entladen hätte. Vor einigen Wochen waren (ägyptische) Terroristen nach Israel eingedrungen und haten acht Menschen getötet. Bei der Verfolgung kamen die Grenzsoldaten ins Kreuzfeuer.
Doch das war nicht der einzige Grund für die Ausschreitungen.
Die Armee, die gerade das Sagen hat, hatte die israelische Botschaft - die sich ohnehin so unscheinbar wie möglich in einem Wohnhaus befindet - mit einer Betonmauer umgeben. Als Begründung hatte die Armeeführung natürlich die Sicherheit der israelischen Diplomaten angegeben. In Wirklichkeit war diese Aktion jedoch die erste Provokation in einer Reihe von Vorkommnissen: Die Armee wusste, dass die Menschen die Mauer nicht akzeptieren würden. Erstens, weil sie die israelische Botschaft schützen sollte, und zweitens, - viel wichtiger - weil es sich um einen Alleingang der Militärführung handelte. Eine Machtdemonstration. Die Menschen akzeptieren so etwas nicht mehr. Deshalb zogen sie mit Hammer und Meißel zur israelischen Botschaft. Und sie spielten der Armee damit genau in die Hände, die jetzt behaupten konnte, die Armee sei in ihrer Machtposition unverzichtbar für die Stabilität des Landes.
Natürlich darf man trotz dieser Erklärung nicht vergessen, wie tief der Hass gegen Israel bei manchen Ägyptern sitzt. Es gehört einiges dazu, eine Botschaft anzuzünden und Diplomaten über Nacht zur Flucht aus dem Land zu treiben.
Die Woche in Kairo war hochinteressant und informativ. Eine ganz andere Welt, wie wir es aus Europa kennen. Abgase, keine Mülltrennung. Menschen, die unter Brücken wohnen. Abendliche Nilkreuzfahrten für Touristen, die für wenig Geld gutes Essen und Bauchtanz genießen können. Angebliche Tourist Guides, die einem für Extratouren das Geld aus der Tasche ziehen. Doch auch der allgegenwärtige Ruf des Muezzins gehört zu Kairo ebenso wie die Flecken auf den Stirnen der alten Männer - Narben vom fünfmaligen Gebet, bei dem der Kopf den Boden berührt. Fromme Muslime, westlich orientierte Studenten, komplizierte Taxifahrer - sie bilden die Seele einer faszinierenden Stadt. Und alles wird bedeckt vom Smog der Generationen von ostasiatischen Kleinwagen. Kairo ist einen Besuch wert.